Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Januar 2025, Nr. 15
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 18.12.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Chialo in den Knast

Warum das Berliner Gefangenentheater »aufBruch« vielleicht bald zusperren muss
Von Erwin Grave
Gefaengnistheater_Au_74301459.jpg
Ein Rest altehrwürdiger Sozialdemokratie: Gefangene spielen Grabbes »Die Hermannsschlacht« (2022)

Das Land Berlin leistet sich den Luxus, fast ein Promille seiner Bevölkerung in Haftanstalten wohnen zu lassen. Über 200 Euro kostet das pro Häftling und Tag. Da die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht darauf ausgerichtet ist, die Gefangenenrate signifikant zu senken, man aber allgemein die Ausgaben senken will, geht man an die Unterbringungskosten der überbelegten Haftanstalten. Hier bieten sich die Resozialisierungsmaßnahmen an. In einer Stellungnahme moniert der Paritätische Wohlfahrtsverband, dass die von der »Justizverwaltung finanzierten Projekte der freien Straffälligenhilfe besonders hart von Zuwendungskürzungen betroffen« sind. Im Rahmen dieser Einsparungen wurde jüngst dem Knasttheater »aufBruch« angedroht, 70 Prozent seiner Mittel zu streichen. Das schlecht skalierbare, relativ kleine Projekt ist damit in Frage gestellt. Am Dienstag appellierten u. a. Kulturinstitutionen wie die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, das Berliner Ensemble und das Deutsche Theater, die Akademie der Künste und das Brecht-Archiv sowie die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, Ulrike Folkerts, Leander Haußmann und Claus Peymann an den Senat, die Kürzungen zurückzunehmen.

Bereits seit 1997 bietet »aufBruch« den Bewohnern von Gefängnissen an, in ihrer Freizeit Theater zu spielen. 2.000 Inhaftierte bekamen dadurch die Möglichkeit kultureller Betätigung, während der sie andere Talente zeigen durften als die, die sie in ihre missliche Lage brachten. Das Projekt hilft so wenigstens einigen Gefangenen, wieder ins gesellschaftliche Leben zurückzukehren; es handelt sich um einen Rest altehrwürdiger Sozialdemokratie. Dazu betont die Produktionsleiterin Sibylle Arndt den Aspekt der Öffentlichkeit: »Insassen einer Justizvollzugsanstalt haben keinerlei Wahrnehmung, sind eigentlich ausgeblendet und finden auch kein Gehör.« Durch die öffentlichen Aufführungen innerhalb der Mauern der teilnehmenden Gefängnisse bekamen dagegen zuletzt pro Jahr immerhin 4.500 meist bürgerliche Besucher einen Einblick in ihre Gegenwelt.

Man muss die Sache aber auch unter künstlerischen Aspekten betrachten. Nehmen wir exemplarisch die »Dreigroschenoper« von Brecht und Weill. Indem »aufBruch« sie voriges Jahr von Knastbrüdern singen ließ, wurde sie fast automatisch realistisch. Allgemein ist man daran gewöhnt, dass die Darstellungsbeamten der offiziellen Bühnen die von ihnen vorgestellten Rollen nicht verkörpern. Sie spielen meist einfach sich selbst als Schauspieler, und man braucht die von Brecht geforderte Distanz zum Publikum nicht extra einzuführen – die Entfremdung ist bereits allgemein. In der »aufBruch«-Inszenierung hingegen stimmen Rollen und Schauspieler von vornherein überein. Um Mafiosi, Politiker, Verbrecher, Polizisten, Bettler oder Huren zu werden, mussten die Gefangenen gewissermaßen nur sich selbst spielen. Da diese unmittelbare Identität von Schauspieler und Rolle an sich unkünstlerisch ist, man bräuchte sonst nur das reale Elend wahrzunehmen, gehört es zu den Leistungen von Peter Atanassow, die Distanz der Laiendarbieter zur Rolle erst herzustellen: Unter seiner Regie spielten die Häftlinge für den Augenblick die Rolle nur, die sie sonst im Leben tatsächlich einnehmen. Es wurde ein gutes Stück in Brecht-Tradition.

Man versteht, dass die Justizverwaltung keinen Nutzen in solch humaner Behandlung ihrer Gefangenen sieht, und es müsste der Kulturetat übernehmen. Nur guckt die Staatskultur Berlins gerade bang in die Zukunft, mehr Rentabilität heißt das Schlagwort ihrer Zusammenkürzung. Aber auch wenn Rentabilität der Kunst nicht wesentlich ist und einiges für Staatskultur spricht, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die großen Theater seit Jahren alles getan haben, ihre Form des Kunstbetriebs in Misskredit zu bringen. »aufBruch« hat dieses Problem nicht. Keiner langweilt sich in dessen Inszenierungen, die nur deshalb nicht rentabel sind, weil man im Knast nicht genug Aufführungen machen darf. Ausverkauft sind die wenigen Aufführungen immer. Auf Tour zu gehen erlaubt die Haftsituation nicht. Das Projekt ist ein nicht einmal besonders teurer Fall für den Kulturetat und vielleicht sollte der Kultursenator Joe Chialo mal vorbeischauen und sich von den Qualitäten der Knastkunst überzeugen.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Fünf Tote und viele Verletzte bei Bränden in Berliner Haftanstal...
    16.08.2024

    Inferno hinter Gittern

    Berlin: Mehr als hundert Zellenbrände in Haftanstalten. Brandschutz kaum vorhanden – dafür Kameras für Knastparkplätze
  • Justizvollzugsanstalt Heidering: Hier starb vergangenen Freitag ...
    25.07.2024

    »Drei Tote innerhalb von sechs Tagen«

    Berliner Knäste: Entmenschlichung und staatliche Willkür führen zu Drogenmissbrauch und Suizid. Ein Gespräch mit Mark M.

Regio:

Mehr aus: Feuilleton

Alle redaktionellen Beiträge zur RLK25 sind nun hier verfügbar