Stumme Parolen
Von Susann Witt-Stahl, TbilissiDas Parlament ist weiterhin hinter einer Metallabsperrung verschanzt. Die Staatsgewalt jedoch ist um unauffällige Präsenz bemüht – niemand soll sich provoziert fühlen. Schließlich kommen viele Bürger der Stadt nur, um den mittlerweile im Lichterglanz strahlenden Weihnachtsbaum vor dem Eingang zu bestaunen. Die Zahl der Pro-EU-Demonstranten, die sich allabendlich versammeln, stagniert. Der Zorn, der sich zunächst in Pyrotechnikgewittern entladen hatte, dann auf »Hurensöhne«-Rufe gegen Polizeiketten herunterkochte, ist gegenwärtig fast nur noch durch die stummen Manifestationen der zahlreichen Graffitis mit Parolen gegen das »faschistische Russland« zu vernehmen.
Die Demonstranten, die in der Regel ab 20 Uhr in Kleingruppen auf dem prachtvollen Rustawelis-Boulevard auf und ab spazieren, viele in die Flaggen der EU oder Georgiens gehüllt, manche auch in die der Ukraine oder der USA, wirken orientierungslos. Kraftvoller sind die Protestzüge der einzelnen Interessengruppen – Ärzte, Manager, Stipendiaten ausländischer Stiftungen etc. –, die meist an den Nachmittagen veranstaltet werden, allein am Dienstag waren es elf.
Knapp hundert junge Akademiker versammelten sich vor der EU-Vertretung im Nobelstadtteil Vake – wo unzählige Westliche-Werte-NGOs, darunter auch die Heinrich-Böll-Stiftung, angesiedelt sind. Sie verlangten »nach Europa durch westliche Bildung«. Viele fürchten um die Anerkennung ihrer Diplome im Ausland nach der Aussetzung der Gespräche zum EU-Beitritt – beschlossen von bildungsfernen Abgeordneten der Regierungspartei Georgischer Traum, die keine Studienabschlüsse vorzuweisen hätten, betont eine Teilnehmerin der Kundgebung gegenüber jW.
Für Aufsehen sorgte ein Marsch der Historiker, der von einem Demonstranten im Ritterkostüm angeführt und in dessen ersten Reihen die Fahne der Demokratischen Republik Georgiens geschwenkt wurde, die in der Februarrevolution 1917 entstanden war, 1921 von der Roten Armee besiegt und in die Sowjetunion eingegliedert wurde. »Hier wird neue Geschichte geschrieben«, so die Botschaft der Historiker an die Bevölkerung, die aufgefordert wurde, sich »auf der richtigen Seite« einzufinden.
Als Wegweiser dienen die mehr als 600 Unternehmen, die die EU-Proteste unterstützen: Von McDonald’s Georgia bis zur Genussmittel-, Tourismus-, Medien- und Unterhaltungsbranche ist alles dabei. Besonders engagiert zeigen sich Technoklubs und andere Partylocations mit hochpreisigen Angeboten. Auch dass sie erheblich von Theaterschaffenden und anderen Kulturszenen mitgetragen wird, macht deutlich: Die Pro-EU-Bewegung ist vor allem ein Aufstand der Besserverdienenden im Bangen um den Klassenerhalt.
»Alle Georgier sind gegen Russland.« Diese Behauptung, die von Demonstranten zu hören ist, bestätigt sich nicht: Es gelingt ihnen und den besonders bei den Lohnabhängigen äußerst unpopulären Oppositionsparteien nicht, den dringend benötigten »Druck von unten« auf der Straße aufzubauen. »Viele Menschen haben Angst vor einem neuen Krieg und wollen Frieden mit Russland«, erklärt der Politikwissenschaftler und Konfliktforscher Gulbaat Rzchiladse – er unterhält seit 2009 in Tbilissi das Institut Eurasiens – im Interview mit jW. Deshalb betrachteten viele seiner Landsleute den eher um einen Ausgleich bemühten Georgischen Traum als das kleinere Übel gegenüber den »Ultraliberalen«.
Obwohl Georgien »ein 33 Jahre altes neoliberales Experiment« und die Bevölkerung vor allem über die wachsende Armut, Arbeitslosigkeit und die hohen Lebenshaltungskosten besorgt sei, würden von der Protestbewegung keinerlei »soziale Forderungen« formuliert, kritisiert Ilia Lobjanidze, internationaler Sekretär der Vereinten Kommunistischen Partei Georgiens, die sich wie alle antikapitalistischen Linken nicht an den Kundgebungen beteiligt, und nennt die wahren Profiteure. »Der gegenwärtig laufende Versuch einer Farbrevolution wird ausschließlich von einer prowestlichen Plattform organisiert, die ihr Hauptquartier in der US-Botschaft und ihre Unterstützerzentren in Washington und in Brüssel hat.«
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