»Es wirkt wie Klassenkampf von oben«
Interview: Gitta DüperthalSogenannte Böllerverbotszonen soll es zum Jahreswechsel etwa in Hannover, Köln, München, Bremen und Erfurt geben. Wer solche Verbote für die Silvesternacht fordert, sei »getrieben von Intoleranz und dem Verlangen nach totaler Ruhe und Ordnung«, kritisiert Ihr Verband. In einer Mitteilung ist die Rede von Kulturgut. Weshalb messen Sie Feuerwerk diese Bedeutung bei?
Feuerwerk war in vergangenen Jahrhunderten ein Privileg der Aristokratie, Ausdruck von Macht und Herrschaft. Mit dem 19. Jahrhundert eignete es sich zunächst das Bürgertum, später die Arbeiterklasse als Kleinfeuerwerk zum Selberzünden an. Historisch gesehen ist es eine emanzipatorische Kulturpraktik. Durch das kollektive Feuerwerk an Silvester entsteht für kurze Zeit ein sozialer Resonanzraum, der Menschen verschiedenster Milieus zusammenbringt. Solche Momente sind in kapitalistisch geprägten Gesellschaften der Spätmoderne selten und von hohem Wert.
Bei Verstößen gegen die Böllerverbote sollen offenbar in Zwickau Geldstrafen von bis zu 50.000 Euro verhängt werden. Welche Gesetzgebung befürworten Sie?
Wichtig ist, in Prävention zu investieren: Jugendlichen gilt es klarzumachen, wie gefährlich das Hantieren mit verbotenem Feuerwerk ist; und wie verantwortungsbewusster Umgang mit geprüftem legalem Feuerwerk funktioniert.
Umweltverbände kritisieren den Feinstaub und den Müll, Tierfreunde den Lärm und Rettungsdienste das Verletzungsrisiko bis hin zu verlorenen Gliedmaßen. Können Sie solche Argumente einfach vom Tisch wischen?
Vor allem die sogenannte Deutsche Umwelthilfe und die Gewerkschaft der Polizei führen seit 2018 eine erbitterte Kampagne gegen Feuerwerk. Umwelteinflüsse werden enorm verzerrt. 2021 veröffentlichte das Umweltbundesamt eine Studie, wonach der Feinstaub weniger als die Hälfte der bisher angenommenen Menge beträgt. Das Silvesterfeuerwerk trägt zum jährlichen CO2-Ausstoß nur 0,00013 Prozent bei. Der tatsächliche Motor der Verbotsforderungen sind bürgerlich-konservative Vorstellungen von Sauberkeit und Ordnung – ein urdeutsches Verlangen. Für diese puritanistisch geprägten Milieus ist es schier unerträglich, wenn es einmal im Jahr lebhaft auf den Straßen zugeht.
Es gibt Berichte vom Silvester 2023/24 aus Koblenz, wo ein 18jähriger beim Zünden eines Böllers starb. Ebenso aus Boxberg, wo ein 22jähriger beim Zünden einer verbotenen Kugelbombe getötet wurde.
Notaufnahmen verzeichnen, dass übermäßiger Alkoholkonsum sowie daraus resultierende Streitigkeiten und Unfälle für über 95 Prozent der Verletzungen zu Silvester sorgen. Einzelne schwere Unfälle durch illegal verbreitete Pyrotechnik für eine Kampagne zu instrumentalisieren, ist ethisch mindestens fragwürdig. Verbotenes kann man nicht bekämpfen, indem man die Verwendung von legalem und sicherem Feuerwerk kriminalisiert. Jedes Verbot muss umgesetzt werden. In Berlin werden ganze Kieze mit martialischem Polizeiaufgebot besetzt – oft in migrantisch geprägten Gebieten. Wir wissen um die Rassismus- und Gewaltprobleme der Polizei. Fragt sich: Gegen wen werden da zur Silvesterfeier militärisch hochgerüstete Sicherheitsapparate losgeschickt? Es wirkt wie Klassenkampf von oben.
Vertritt Ihr Verband etwa keine Unternehmensinteressen?
Der Großteil unserer 2.000 Mitglieder sind Privatpersonen mit Interesse an Feuerwerkskunst als Kulturgut – nur wenige gehen auch gewerblich mit Feuerwerk um. Wirtschaftslobbyismus für die Branche betreibt der Verband der pyrotechnischen Industrie.
Wäre es sinnvoll, wenn Fachleute Feuerwerk öffentlich zünden – und es nicht mehr von privater Hand geschieht?
Beide, das Feuerwerk zum Selberzünden und das zentral veranstaltete, haben ihre Daseinsberechtigung. Zentral durch staatliche Autoritäten durchgeführte Feuerwerke sind aber etwas anderes als die gemeinsame weitgehend kontrollierte Ekstase zum Jahreswechsel. Sie ist Teil von vielen Festen auf der ganzen Welt.
Felix Martens ist Soziologe und Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes für Pyrotechnik und Kunstfeuerwerk (BVPK) e. V.
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Leserbrief von Silke B. aus Hamburg (21. Dezember 2024 um 19:13 Uhr)Eigentlich bin ich auch gegen Verbotszonen, weil das dann immer alle trifft, auch die, die sich rücksichtsvoll verhalten, soweit das bei dem Herumgeböller überhaupt möglich ist. Andererseits traue ich persönlich mich an Silvester kaum raus, gehe nicht einmal auf private Feiern, weil ich es wegen der Knallkörper lieber meide, überhaupt rauszugehen. Schade, denn ich würde die eine oder andere Party gern wahrnehmen - die Angst vor den Böllern überwiegt. Vor ca. 10 Jahren waren in meinem Viertel möglicherweise noch Zustände, wie es vielleicht jetzt in Berlin ist, das kann ich nicht beurteilen. Damals traute ich mich schon zwei Wochen vor Silvester kaum noch raus, ohne eine dicke, geschlossene, schützende Kopfumwicklung, weil sich Jugendliche und Jungerwachsene regelrechte »Schlachten« mit waagerecht geschossenen Knallkörpern oder sogar Leuchtkugeln lieferten. Das hat mit Feiertradition nichts mehr zu tun, sondern eher mit einem Kriegszustand. (Als Jugendliche habe ich auch noch gern »geknallt«, aber nie erlebte ich, dass Jugendliche sich mit dem Feuerwerk regelrechte »Schlachten« lieferten.) Mittlerweile wurde hier – mit sehr vielen Nachteilen für mich und meine Nachbarn sowie für die Verdrängten – gentrifiziert und damit ist, das muss ich leider zugeben, zeitgleich dieses Vor-Silvester-Problem weniger geworden. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie man dieses Problem lösen kann; eine Tradition des Silvesterfeierns zu erhalten - aber mit möglichst großer Rücksicht auf Mensch und Tier, ohne Verbotszonen und ohne Gentrifizierung. Das wäre wünschenswert. Hübsche Leuchtkörper ohne so lautes Geknall, vielleicht auch kleine, nicht ganz so laute Knallkörper auf dem Markt - und die anderen lauten, und sprengstarken Knaller generell verbieten, wäre vielleicht eine Alternative zu Verbotszonen, um das Problem zumindest zu verringern. (es gibt ja leider auch die verbotenen Böller, und Leuchtkugelgeschosse(?), die eh nicht unter Kontrolle sind).
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Leserbrief von S. Pauligk aus Berlin (20. Dezember 2024 um 11:14 Uhr)Ich weiß nicht, wo Herr Martens wohnt. Ich wohne an einem Platz, der als »Geschützte Grünfläche« ausgewiesen ist. Silvester und schon Tage vorher ist hier die Hölle los. Stundenlanger Krach, Gestank, Luftverpestung, Vermüllung des Platzes (für die Beseitigung des Mülls muss dann natürlich der Steuerzahler aufkommen). Wer kann, flieht aufs Land. Die meisten »Feuerwerk-Enthusiasten« sind keine direkten Anwohner. Diese werden eher terrorisiert, so wie die Tiere in der Umgebung. Und da wird uns erzählt, dass »durch das kollektive Feuerwerk … ein sozialer Resonanzraum entsteht, der Menschen verschiedenster Milieus zusammenbringt«. Auf so ein »Kulturgut« kann ich gerne verzichten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Olaf M. aus München (20. Dezember 2024 um 10:39 Uhr)Danke, Felix Martens und der jW, für dieses Interview! Es gibt dem Glücksempfinden, das ich jedes Mal zu Silvester beim Böllern erlebe, eine theoretische Grundierung. Diese Miesepetrigkeit der puritanischen Verbotsjünger geht mir total auf den Keks. Die Ballerei fühlt sich nach Freiheit an, ein winzigkleiner Vorgeschmack der hoffentlich kommenden Revolution. Und es ist eine Facette des Klassenkampfs von oben, diese fortwährend angefachte grüne Verbotsorgie, die uns zu Duckmäusern herrichten soll, die sich als Ersatz an steuergeldfinanzierten »Licht-Shows« ergötzen sollen. Solange Mensch und Natur täglich und in Massen in der Ukraine und in Gaza und in Sudan und wo sonst noch zerstört werden, sehe ich nicht ein, auf ein paar Stunden Feuerwerksglück verzichten zu sollen!
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Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (19. Dezember 2024 um 22:07 Uhr)Aha: Wenn Egotypen mit Böllern etwa Rettungskräfte und Notärzte angreifen, dann ist das halt »sozialer Resonanzraum« und »emanzipatorische Kulturpraktik«. Da muss die spießige Oma halt zu Hause bleiben und die »sogenannte« Umwelthilfe bei Vermüllung und Feinstaubverpestung ausnahmsweise mal ein Auge zudrücken – auf freundliche Empfehlung des Herrn Soziologen …
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Stephan K. aus Neumarkt i.d.OPf. (19. Dezember 2024 um 17:05 Uhr)Danke für das Interview. Es scheint ja schon beinahe Mut zu erfordern, als Linker eine positive Meinung zum Feuerwerk zu haben. Ich bin übrigens für die Eingrenzung von Feuerwerken. Sie sollten nicht an Orten stattfinden, die eher ruhige Schutzgebiete sind. Ich bin dafür, dass z. B. weitgehend auf den Lärmanteil verzichtet und Feuerwerke mehr als Lichtfeuerwerke veranstaltet werden. Ich selbst habe mich noch nie dafür interessiert, selbst Feuerwerkskörper zu gebrauchen. Allerdings werde ich auch weiterhin dafür eintreten, dass Feuerwerke möglich sind und man auch als Linker (oder wie auch immer denkender Andersdenkender) für diese Postion nicht aus der Gemeinschaft der wahrhaft wahren Gläubigen ausgeschlossen wird.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (19. Dezember 2024 um 14:11 Uhr)Die jw schafft es immer wieder, ihren Lesern auch ungewöhnliche und bisher unbekannte Sichtweisen auf gesellschaftliche Probleme und Krisen zu vermitteln. Das zeichnet die jw aus. Diesen Artikel hier würde ich unbedingt dazuzählen. Es ist schon sehr ungewöhnlich, aber auch unterhaltsam, wenn das sinnlose, gefährliche und nicht selten sadistische Herumballern von einem Soziologen mit pseudowissenschaftlich ziselierter Argumentation zur legitimen Ausdrucksform sozialer Emanzipation und der Kampf gegen Böllerverbotszonen zum Widerstand gegen einen »Klassenkampf von oben« stilisiert und verdreht wird. Zum Glück entlarven sowohl die Identität des Absenders wie auch die Absurdität seiner Argumente den versuchten frechen Missbrauch gesellschaftlicher Solidarität als fadenscheinigen Lobbyismus, sofern es sich bei diesem Beitrag nicht um Satire handelt, die dann schon fast des Eulenspiegels würdig wäre.
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Leserbrief von Wolfgang Schmetterer aus Graz (19. Dezember 2024 um 11:48 Uhr)Dieser alljährlichen Perversion, Geld buchstäblich zu verpulvern, das Mäntelchen des Klassenkampfes umzuhängen, das ist nicht zu toppen. Schwer zu glauben, dass der Interviewte den Blödsinn ernst meint, den er von sich gibt. Das kollektive Feuerwerk als sozialen Resonanzraum zu bezeichnen, der Menschen verschiedenster Milieus zusammenbringt, ist purer Zynismus, der noch dazu als hoher Wert im Kapitalismus verkauft wird (ja, als Verkaufswert). Ist doch schön, wenn benachteiligte »Milieus« ihr sauer verdientes Geld in heiße Luft verwandeln und dabei das Gefühl haben dürfen, eins zu sein mit dem bourgeoisen Gesindel, das sein Großfeuerwerk mit dem Geld abbrennt, das andere erwirtschaftet haben, und dabei mit diesen anderen so gar nicht eins ist.
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Leserbrief von Alan aus Berlin (19. Dezember 2024 um 14:23 Uhr)Super Einordnung! Ich wohne in Schöneberg und will bei mir zu Hause Silvester nicht mehr vor die Tür, seit es Böllerverbotszone ist. Straßen sind gesperrt, und ich muss kilometerlange Umwege machen, um weg oder wieder nach Hause zu kommen, alles voll mit BFE-Polizei, anlasslose Taschenkontrollen und ein total einschüchterndes feel wenn man nur aus dem Haus geht. Und was das Argument »Geld verpulvern« angeht: Tun wir doch alle! Manche für eine teure Konzertkarte, andere gehen essen, andere machen Urlaub an entfernten Orten. Alles kurze Genüsse, die ihre Emissionen von Feinstaub und anderen Umwelteinfluss haben. Nur wenn diese Emissionen einmal im Jahr in der eigenen Stadt sichtbar werden, drehen ein paar Wutbürgies plötzlich am Rad. So hypocrite!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. Dezember 2024 um 08:57 Uhr)»Klassenkampf von oben« ist gewiss noch ein wenig zu tief gestapelt. Dass es zu Silvester (und an den Tagen davor und danach) in Deutschland gewaltig krachen und rummsen kann, ist mindestens ein gottgegebenes Menschenrecht. Eben Knallkopfkultur auf höchstem Niveau. Akustische Umweltverschmutzung und Verschmutzung der Atemluft kann man da gewiss ausblenden. Genauso, wie die Zahl der sinnlos Verschreckten und Verletzten. Liebe jW: Die wirklich entscheidenden Klassenkämpfe finden an ganz anderer Stelle statt!
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Leserbrief von Lothar Böling aus Düren (18. Dezember 2024 um 23:21 Uhr)Wer etwas Gutes und Sinnvolles für sich und die Umwelt tun will, sollte auf Feuerwerk verzichten. Ohne Einsicht bei den Betroffenen zu wecken, geht dies allerdings nicht. Man spart nicht nur Geld, sondern schützt auch die eigene Lunge vor Feinstaub und die Ohren seiner Mitmenschen und deren Haustiere vor gesundheitsschädlichem Lärm. Von den vielen unnötig Verletzten in den überlasteten Notaufnahmen der Krankenhäuser und die späteren Herzinfarkte durch Feinstaub, ganz zu schweigen. Zudem sollte die Arbeiterklasse nicht den Schwachsinn der Aristokraten übernehmen. Denn um nichts anderes handelt es sich, wenn man Geld, wie im Krieg, völlig sinnlos in Explosionen und Pulverdampf verwandelt. Jegliche Form der Selbstverwirklichung mittels Knallkörpern ist daher abzulehnen. Wer den bürgerlichen Sumpf trocken legen will, sollte meiner Meinung nach nicht die Knallfrösche fragen.
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