»Es war die Hölle«
Von Sabine Lueken»Hey du, Grieche, ich hab was für dich.« 22 Jahre ist es her, dass Andreas Assael bei einem Flohmarktbesuch in München von einem Händler ein Fotoalbum gezeigt wurde. Assael fand darin etwas bislang nie Gesehenes: Junge Männer mit kurz geschorenen Haaren, die in Kolonne an einem Bahngleis entlanggehen; einer von ihnen trägt gut sichtbar den »Judenstern« auf dem Mantel.
Für Assael, Sohn von Holocaustüberlebenden aus Thessaloniki, wurde das Album Ausgangspunkt einer 20jährigen Recherche. Er fand heraus, dass an einer Bahnstation namens Karya in Mittelgriechenland jüdische Zwangsarbeiter aus Thessaloniki im Jahr 1943 eine 20 Meter tiefe Schlucht in den Berg schlagen mussten, um die Bahnstrecke Athen–Thessaloniki–Belgrad auszubauen. 300 bis 500 Männer lebten und schufteten hier unter der Aufsicht der deutschen »Organisation Todt« (OT). »Es war die Hölle.« War jemand krank oder zu schwach, wurde er erschossen. Die noch Lebenden deportierte man am Ende nach Auschwitz.
Mörderische Spur
Das Album, das jetzt die Vorlage der aktuellen Sonderausstellung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide bildet, gehörte dem Bauingenieur Hans Rössler – NSDAP-Mitglied seit 1930 –, der ab 1942 für die OT im deutsch besetzten Teil Griechenlands tätig war. Diese paramilitärische, kriegswichtige Organisation verfügte 1944 über circa 1,3 Millionen nichtdeutsche Arbeitskräfte, überwiegend Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Von den Bauarbeiten im Reich, z. B. für die Abschussrampen der V-Waffen, über Norwegen, Frankreich (West- und Atlantikwall), Belarus bis Griechenland zog sie eine mörderische Spur durch Europa.
Auf einigen Fotos kann man die Bedingungen erkennen, denen die meist sehr jungen Männer auf der Baustelle ausgesetzt waren: unterernährt, barfuß auf klingenscharfem Gestein arbeitend, mit abgerissener Kleidung. Ein Junge fischt mit den Fingern Essen aus einer Konservendose. Doch der Großteil der 400 Fotos wirkt eher wie Urlaubsaufnahmen: Rössler waren die Zwangsarbeiter gleichgültig.
Die Wanderausstellung ist die erste über jüdische Zwangsarbeit, über Zwangsarbeit in Griechenland überhaupt und wird bis Februar 2025 auch im Benaki-Museum in Piräus und im Jüdischen Museum in Athen gezeigt. Das Thema ist hier und in Griechenland weitgehend unbekannt. Die deutsche Besatzung – von Mai 1941 bis Oktober 1944 – wird von den meisten Griechen bis heute v. a. als eine Zeit extremer Hungersnot durch die Ausplünderung aller Ressourcen erinnert. Dazu kam die blutige Verfolgung von Partisanen und Bestrafungsaktionen – das Massakrieren und Niederbrennen ganzer Dörfer. Die Erinnerung an die 60.000 ermordeten griechischen Juden blieb lange Zeit überschattet vom Bürgerkrieg nach 1944.
Ab Mai 1941 war Griechenland in drei Besatzungszonen aufgeteilt, neben Deutschland und Bulgarien verfügte Italien zunächst über den Löwenanteil. Von Anfang an sicherten sich die Deutschen aber die wichtigste Infrastruktur: Häfen, Flugplätze, Rohstoffe, Bergbau und Eisenbahnnetz. Auch für den notwendigen Truppennachschub war die Hauptstrecke Athen–Thessaloniki zentral. Deshalb war sie Ziel zahlreicher Angriffe von Partisanen und erforderte häufige Instandsetzung. Die Arbeiten in Griechenland wurden von der OT »Fronteinheit Südost« durchgeführt, die mit deutschen und österreichischen Baufirmen zusammenarbeitete. In Karya war das die Firma Leonhard Moll aus München mit ihrer Tochterfirma »Überland Hoch-, Tief- und Straßenbau AG, Wien«, die sie für eine Reichsmark von jüdischen Vorbesitzern »gekauft« hatte. Sowohl OT-Haupttruppführer Hans Rössler als auch OT-Truppführer Josef Langmeier, der als Oberschachtmeister die Aufsicht über die Zwangsarbeiter hatte, waren bei »Überland« angestellt, die Verbindung zwischen OT und Baufirmen war eng. Die Firma Moll, die heute noch existiert, hatte sich schon im Juni 1938 Hitler angedient und die Hauptsynagoge in München als erste Synagoge im Reich abgerissen. Die Bruchstücke lagerte sie jahrzehntelang auf ihrem Firmengelände, auf der Webseite gibt es heute einen verschwiemelten Hinweis darauf. Die Firma gehört zu denjenigen, die sich im Jahr 2000 am Fond für die Entschädigung von Zwangsarbeitern beteiligt haben.
Zehn Überlebende
All das erfahren die Besucher an den einzelnen Ausstellungsstationen, die stilisiert den Felsen von Karya nachempfunden sind und die das Fotoalbum in den Kontext einbetten. Graphic-Novel-Elemente bringen die Perspektive der Zwangsarbeiter näher, über QR-Codes sind vertiefende Informationen abrufbar. Eine Medienstation vermittelt mit Hilfe von Geländeaufnahmen und 3-D-Modellen einen Eindruck vom Ort damals und heute. Dieser zentrale Bestandteil der Ausstellung wurde durch die vor Ort durchgeführte geoarchäologische Prospektion der »Interdisziplinären Arbeitsgruppe Konfliktlandschaften« der Universität Osnabrück ermöglicht.
Im Mittelpunkt stehen die Lebensgeschichten von acht der zehn Überlebenden, die Assael aufgespürt hat. Sam Cohen, der in einem Videointerview resümiert: »Es war die Hölle da drüben«, floh gemeinsam mit seinem Freund Tzako Karasso. Die beiden schlossen sich einer ELAS-Partisanengruppe an und kämpften gegen die Deutschen. David Broudo war 1955 der letzte der linken jüdischen Partisanenkämpfer, die nach dem Ende des Bürgerkriegs 1949 vom griechischen Staat erst bestraft und dann nach Israel abgeschoben wurden. Schmuel Arditti und seine beiden Brüder deportierten die Deutschen nach Abschluss der Bauarbeiten nach Auschwitz. Sein Bruder Veniamin, auf den er stets aufgepasst hatte, starb gleich nach der Ankunft in der Gaskammer. Schmuel Arditti erhielt 1963 von der Bundesrepublik Deutschland 2.700 D-Mark als Entschädigung für seine 18 Monate dauernde Haft. Die Zwangsarbeit in Karya blieb dabei unberücksichtigt. Bis heute fordert Griechenland vergeblich mindestens 278 Milliarden Euro Reparationen von Deutschland.
»Karya 1943 – Zwangsarbeit und Holocaust«: Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Britzer Straße 5, 12439 Berlin, bis 30. März 2025
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