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Aus: Ausgabe vom 19.12.2024, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Streikrecht in der BRD

Streikrecht vor Gericht

Rider des ehemaligen Lieferdienstes Gorillas kämpfen für ein besseres Streikrecht und ziehen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Von Benedikt Hopmann
Rider von Gorillas protestieren gegen ihre Kündigungen nach der Beteiligung an »wilden Streiks« (Berlin, 6.10.2021)
Der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts nach 1945, Hans Carl Nipperdey, als Kommentator des faschistischen Arbeitsrechts

Im Jahr 2014 bekamen 761 Beschäftigte im Mercedes-Werk in Bremen eine Abmahnung, weil sie ohne Aufruf der Gewerkschaften eine ganze Nachtschicht gegen Leiharbeit gestreikt hatten. Obwohl ihre Klagen erfolglos blieben, nahm die Geschäftsleitung vorzeitig alle Abmahnungen wieder aus den Personalakten. 2021 streikten Rider des ehemaligen Lieferdienstes Gorillas ohne Gewerkschaft unter anderem für gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Ihnen wurde gekündigt, weil sie trotz Aufforderung ihre Arbeit nicht wieder aufnahmen. Duygu, Fernando und Ronnie Tito klagten bisher erfolglos gegen ihre Kündigungen. Nun haben sie Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGfMR) in Strasbourg eingereicht.

Der Europäische Gerichtshof, der auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention entscheidet, stellte zwar inzwischen fest, dass verbandsfreie Streiks nicht durch diese Konvention geschützt werden. Dennoch sind die Beschwerden nicht ohne Aussicht auf Erfolg. Denn der Streik wurde zwar ohne Unterstützung einer Gewerkschaft geführt, nicht aber ohne jede Koalition. Die Gorillas-Rider hatten sich zur Vorbereitung ihres Streiks zusammengeschlossen, um alles Notwendige zu besprechen und vorzubereiten. Welche Voraussetzungen muss eine solche Koalition erfüllen, um zum Streik berechtigt zu sein? Darüber hat der EGfMR noch nicht entschieden.

Hohe Hürden

Nach der deutschen Rechtsprechung sind die Hürden für eine Streikberechtigung sehr hoch: Nur tariffähige Gewerkschaften dürfen zu einem Streik aufrufen, also Koalitionen, die Tarifverträge mit den Vertretern des Kapitals abschließen können und dafür über eine ausreichende Mächtigkeit verfügen. Der Streik der Rider 2021 hatte jedoch nie das Ziel, einen Tarifvertrag abzuschließen; die Geschäftsleitung hätte gleichen Lohn für gleiche Arbeit auch ohne Tarifvertrag zahlen können.

Die Beschwerde der Rider will das Recht, Tarifverträge mit den Vertretern des Kapitals abzuschließen, weiter den Gewerkschaften vorbehalten, nicht aber das Recht zum Streik. Die drei Rider haben dabei den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (EASR) auf ihrer Seite, der die Einhaltung des Streikrechts nach der Europäischen Sozialcharta überwacht. Der EASR stellte wiederholt fest, »dass das Verbot aller Streiks, die nicht auf die Erzielung eines Tarifvertrags abzielen, eine übermäßige Einschränkung des Streikrechts darstellt«. Der EASR kritisiert auch seit Jahren, dass die Beschäftigten in Deutschland nicht »problemlos und ohne unangemessene Anforderungen oder Formalitäten eine Koalition zum Zwecke eines Streiks gründen können«. Wenn Beschäftigte problemlos eine Koalition zum Zwecke eines Streiks gründen können, muss niemand mehr verbandsfrei streiken. Dieses Thema hätte sich erledigt.

Ein Erfolg der Rider würde sich auch auf das hierzulande restriktiv gehaltene Recht zum politischen Streik auswirken. Weil auch er kein Hilfsinstrument zur Durchsetzung von Tarifverträgen ist, soll auch er verboten sein. Das Recht zum Streik darf nicht länger auf diese Hilfsfunktion beschränkt werden.

Im Interesse des Kapitals

Diese Verbote stehen in einer schlimmen Tradition. Die vollständige Unterbindung von Streiks während der Nazizeit wirkt so in der Zeit der Restauration weiter. In der Weimarer Republik existierte zwar mit der Zwangsschlichtung ein sehr restriktives Streikrecht, aber es kannte kein prinzipielles Verbot des verbandsfreien und politischen Streiks. Diese Verbote gehen auf Hans Carl Nipperdey zurück, der im Faschismus in der »Akademie für Deutsches Recht« an der Umsetzung des NSDAP-Programms in Gesetzesrecht beteiligt und einer der Kommentatoren des faschistischen Gesetzes zur »Ordnung der nationalen Arbeit« (AOG) war. Nach dem Krieg war er der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts. Seine Auffassungen zum Streikrecht waren von den Interessen des Kapitals geprägt: Er leitete aus den unvermeidbaren wirtschaftlichen Schäden von Streiks ab, dass sie »unerwünscht« seien – so 1955 der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts unter seinem Vorsitz. Doch wirtschaftliche Schäden (Produktionsausfall) sind von den Streikenden erwünscht. Nur so können sie ausreichende Verhandlungsmacht gegenüber dem Kapital aufbauen. 1980 beschrieb daher das Bundesarbeitsgericht Tarif­verhand­lungen ohne das Recht zum Streik als »kollektives Betteln«. Doch an den von Nipperdey veranlassten Einschränkungen des Streikrechts wurde nicht gerüttelt.

Das Streikrecht ist ein Freiheitsrecht. Für seine Beschränkung auf ein Hilfsinstrument in Tarifverhandlungen fehlt jede Rechtfertigung. Warum soll in Deutschland verboten sein, was in Frankreich erlaubt ist? Wurde das jemals öffentlich skandalisiert? Ohne das Recht zum politischen Streik keine Demokratie.

Nicht unmöglich

Als die Regierung von Gerhard Schröder (SPD) die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre beschloss, gab es zwar nicht die massiven politischen Streiks wie später in Frankreich gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Aber die Gewerkschaft rief vereinzelt zu Proteststreiks auf. Was nicht erlaubt sein soll, ist also nicht unmöglich.

Es ist unstreitig, dass den Gewerkschaften Parteipolitik verwehrt ist, nicht aber Politik. Zur Verteidigung der Interessen ihrer Mitglieder müssen sie Einfluss auf die Sozialpolitik nehmen, auf die Wirtschafts-, die Friedens- und Umweltpolitik. Aber dabei sollen sie auf ihr wichtigstes Mittel, sich Gehör zu verschaffen, den Streik, verzichten. Nicht einmal Proteststreiks gegen die Morde 2020 in Hanau sollen erlaubt sein. Es ist ein Armutszeugnis sondergleichen, dass in den Gewerkschaften über diese Entmündigung kaum diskutiert wird.

Die Diskussion wäre ein erster wichtiger Schritt zur Überwindung dieser Entmündigung. Weitere Schritte sollten folgen. Denn wie auch immer die Beschwerde der Rider in Strasbourg ausgehen wird, eines kann schon jetzt gesagt werden: Nur wenn es mehr politische Streiks und – wo die Gewerkschaften nicht können oder nicht wollen – mehr Streiks ohne Gewerkschaften gibt, kann das Streikrecht besser werden.

Benedikt Hopmann ist Rechtsanwalt und verteidigt die Rider gemeinsam mit seinem Kollegen Reinhold Niemerg

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