Nie mehr Opfer sein
Von Arnold SchölzelVier Jahre nach der Entdeckung von Videomitschnitten der Verbrechen an Gisèle Pelicot durch die Polizei fiel am Donnerstag das Urteil. Dominique Pelicot, der seine damalige Frau seit 2011 immer wieder mit Medikamenten heimlich betäubt hatte – in Frankreich der Straftatbestand »chemische Unterwerfung« – und sie an mehr als 70 im Internet rekrutierte Männer ausgeliefert hatte, wurde wegen schwerer Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft verurteilt. Es kam zu geschätzt etwa 200 Vergewaltigungen. Alle weiteren 50 Angeklagten wurden für schuldig befunden. Die Männer im Alter von 27 bis 74 Jahren, die Gisèle Pelicot in Mazan (Vaucluse) oder im Ferienhaus der Familie auf der Île de Ré vergewaltigt und sexuell missbraucht hatten, erhielten Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren, ein Flüchtiger wurde in Abwesenheit verurteilt. Achtzehn saßen bereits in Untersuchungshaft, rund dreißig andere Männer konnte die Gesichtserkennungssoftware der Landespolizei nicht identifizieren. Unter den Verurteilten sind Arbeitslose, Rentner, Feuerwehrmänner, Journalisten, Unternehmer und Krankenpfleger. Einige waren vorbestraft, andere galten bis zum Prozess als unbescholten, viele hatten Familie. Nur 15 entschuldigten sich – darunter auch Dominique Pelicot selbst – bei Gisèle Pelicot, behaupteten, dass sie »nicht die Absicht« hatten, eine Vergewaltigung zu begehen, sie seien »Opfer einer Manipulation«.
Der Prozess hatte am 2. September 2024 begonnen. Gisèle Pelicot versäumte keinen der fast 70 Prozesstage und bestand auf größtmöglicher Öffentlichkeit des Verfahrens. Sie erklärte zu Beginn: »Ich wollte, dass alle weiblichen Opfer einer Vergewaltigung sich sagen: ›Madame Pelicot hat es getan, wir können es schaffen.‹ Ich möchte nicht, dass sie sich schämen.« Ihr Wunsch, dass die »Scham die Seiten wechselt«, wurde weltweit bekannt. Auf einem Banner, das am Donnerstag morgen vor dem Gerichtsgebäude von Avignon wehte, stand »Merci, Gisèle«. Der Dank soll laut Medienberichten in ganz Frankreich auf viele Flächen gesprüht worden sein. Bereits während des Prozesses kam es in vielen Orten des Landes zu Solidaritätsaktionen. Tausende gingen auf die Straßen, um Gisèle Pelicot zu ehren und eine Reform des französischen Strafrechts zu fordern. Darin ist bislang nicht festgeschrieben, dass Geschlechtsverkehr ohne die Zustimmung einer oder eines Beteiligten als Vergewaltigung gilt.
Im Verlauf des Prozesses gaben etwa ein Drittel der vor Gericht gestellten Männer, darunter auch Pelicot selbst, an, in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlitten zu haben. Einige offenbarten das während der Ermittlungen, viele begingen allerdings auch Gewalttaten an ihren Frauen oder Töchtern.
Am Donnerstag dankten Politiker zahlreicher Länder, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, Gisèle Pelicot für ihren Mut. Bundesfrauenministerin Elisabeth Paus (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte: »Der Fall von Gisèle Pelicot ist kein Einzelfall. Selbst über Landesgrenzen hinweg bilden sich Netzwerke, in denen Männer Gewalt gegen Frauen planen und umsetzen.« Sie verwies auf eine am 17. Dezember veröffentlichte Recherche »Im Netzwerk der Vergewaltiger« der ZDF-Plattform »Strg_F«. Deren Autorinnen untersuchten auf Telegram eine Gruppe mit mehr als 70.000 Teilnehmern, die sich über Betäubung von Frauen und deren Vergewaltigung austauschten.
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