Scham wechselt Seite
Von Bernard Schmid, ParisDas Verfahren hat die Gesellschaft verändert. Der im September begonnene und am Donnerstag abgeschlossene Strafprozess in Avignon gegen einundfünfzig Angeklagte – ihr prominentester hieß Dominique Pelicot, sein Name ging weltweit durch die Presse, mehr als 180 Medien waren für den letzten Prozesstag akkreditiert – setzte Maßstäbe. Hinter diese zurückzufallen wird auch den verstocktesten reaktionären Antifeministen schwerfallen. Auch wenn manche es gerne anders hätten, ob sie nun in Avignon auf der Anklagebank hockten oder etwa auf jener, die für die Anwälte reserviert war – einer der Verteidiger schleuderte am Donnerstag Feministinnen entgegen: »Mein Mandant hat nur eine Botschaft für euch: Scheiße!«
Der Prozess gegen »die Vergewaltigungen von Mazan«, wie er in Frankreich allgemein bezeichnet wurde – nach dem Wohnort von Dominique Pelicot und seiner früheren Ehefrau –, hat das Bild verändert, das man sich bis dahin in breiten Kreisen von Sexualstraftätern und Verbrechern gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau machte. Zwar war in feministischen Kreisen längst bekannt, dass 90 Prozent der Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe unter Personen geschehen, die sich kennen und oft derselben Familie angehören. Doch gesamtgesellschaftlich überwog allzu häufig das Bild vom finsteren Kapuzenmann mit verstecktem Gesicht, der zu nächtlicher Stunde urplötzlich aus dem Gebüsch auf die Straße springt – in Wirklichkeit eher eine Ausnahmesituation als die Regel. Gerne wurde er auch als »ausländisch« ausgemalt.
Die vier Monate in Avignon haben die Gesellschaft auch deswegen verändert, weil »die Scham die Seiten wechseln« musste, wie Gisèle Pelicot es formuliert hat. Während andere Opfer das Licht der Öffentlichkeit scheuten, wenn es um das ging, was ihnen angetan worden war, optierte die Nebenklägerin von Avignon für maximale Transparenz – sie entschied sich gegen den Ausschluss der Öffentlichkeit von den Verhandlungen. Auch an den Tagen, an denen die Videos der Vergewaltigungen, die sie bewusstlos erfuhr, im Saal vorgeführt wurden. Tag für Tag standen Frauen – und auch einige Männer – für sie Spalier und applaudierten ihr. Auch aus Spanien und aus der Schweiz kamen Prozessbeobachterinnen angereist.
Nun muss die eingeleitete Veränderung weitergetrieben werden und Einzug in die Mentalitäten halten. Eine wichtige weitere Station könnte im April anstehen, wenn in Paris endlich ein Prozess gegen den Schauspieler Gérard Depardieu wegen Vergewaltigungsvorwürfen eröffnet wird. Dass er mindestens sexuell übergriffig war und Mitarbeiterinnen – gerne in sozial untergeordneter Stellung – etwa an Drehorten belästigte, war seit Jahrzehnten bekannt. Noch im vergangenen Jahr hat Staatspräsident Emmanuel Macron ihn jedoch als Repräsentanten des französischen Nationalprestiges in Schutz genommen.
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