Vier Fäuste in Rio
Von Frederic SchnattererEs war eines der Signale, die vom G20-Gipfel im November im brasilianischen Rio de Janeiro ausgingen. Vier der fünf wirtschaftsstärksten Länder Lateinamerikas arbeiten zusammen: Brasilien, Mexiko, Chile und Kolumbien – Länder zudem, die von Staatschefs regiert werden, die sich der Linken zuordnen. Man teile, betonten die Vertreter, eine Vision für den Subkontinent – zumindest, was die Kooperation auf regionaler Ebene anbelangt. Am Rande des Gipfels sprachen die Vertreter zudem über »Demokratie, Integration und Kooperation in unserem geliebten Lateinamerika«, wie der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva später auf der Plattform X vermeldete. Auf dem dazu veröffentlichten Foto hält er die Hände seiner Amtskollegen Gustavo Petro (Kolumbien), Gabriel Boric (Chile) und Claudia Sheinbaum (Mexiko).
Manche, so etwa die kolumbianische Stiftung für Frieden und Aussöhnung (Pares), sahen schon die Formierung einer »neuen lateinamerikanischen Linken gegen den Vormarsch der extremen Rechten«. Und tatsächlich war der einzige in Rio de Janeiro anwesende Ultrarechte aus der Region, der argentinische Präsident Javier Milei, sichtbar isoliert. Derart, dass er letztlich sogar der Abschlusserklärung zustimmte, obwohl die eindeutig die Handschrift des linken Sozialdemokraten Lula trägt. Mileis nachgeschobene Kritik an einzelnen Punkten, zum Beispiel der angestrebten Besteuerung von Superreichen oder der Verpflichtung des Staates, soziale Ungleichheit zu bekämpfen, scheint kaum mehr als der plumpe Versuch, vor der Öffentlichkeit im heimischen Argentinien nicht das Gesicht zu verlieren.
Zweite linke Welle?
Organisiert sich derzeit also in Lateinamerika ein neuer »progressiver Block« rund um Brasilien, Mexiko, Chile und Kolumbien? Und strebt dieser Projekte der regionalen Integration an, die mit jenen zu Beginn des Jahrtausends vergleichbar sind? Ende 2022 hegten nicht wenige Linke die Hoffnung auf eine Renaissance der ambitionierten Projekte, mit denen ab den 2000er Jahren eine größere Unabhängigkeit der Region gegenüber äußeren Mächten – in erster Linie den USA – angestrebt worden war und die teils spürbare Verbesserungen für die Bevölkerungen der linksregierten Länder mit sich brachten. Im Oktober hatte Lula in Brasilien die Stichwahl um das Präsidentenamt gewonnen und damit das – zumindest vorläufige – Ende des ultrarechten Projekts seines Vorgängers Jair Bolsonaro eingeleitet, der das Land in den vier Jahren zuvor auf der internationalen Ebene zunehmend isoliert hatte. Seit August desselben Jahres wird Kolumbien mit Präsident Petro zum ersten Mal von einem Vertreter der im Land traditionell besonders intensiv unterdrückten Linken regiert. Bereits im März hatte mit Boric ein ehemaliger Studentenführer und Gesicht des Aufstands gegen den neoliberalen Staat, der ein Jahr zuvor über das südamerikanische Land hinweggefegt war, die Präsidentschaft in Chile übernommen.
Zum ersten Mal seit den 2000er Jahren waren damit in den meisten Ländern Lateinamerikas wieder Vertreter an der Macht, die trotz aller Unterschiede zur Linken gezählt werden konnten. Unter ihnen befinden sich mit Mexiko, dessen Präsident bereits seit 2018 Andrés Manuel López Obrador hieß, Brasilien, Argentinien, das damals von Alberto Fernández geführt wurde, und Kolumbien die vier größten Staaten des Subkontinents. Beobachter ließen sich, mit Verweis auf die erste »linke Welle« der 2000er Jahre dazu hinreißen, von einer »zweiten linken Welle« zu sprechen. Neben Honduras unter Ximena Castro und Peru unter Pedro Castillo wurden zu dieser auch zentrale Akteure der »linken Welle« vom Anfang des Jahrhunderts gezählt, insbesondere Kuba, Venezuela und Bolivien, wobei letzteres in Folge des Putsches gegen Evo Morales 2019 zwischenzeitlich von Rechten regiert wurde. Ob auch Nicaragua unter Daniel Ortega zu den progressiv regierten Ländern zu zählen sei, wird aufgrund autoritärer Tendenzen seiner Administration heftig diskutiert.
Nicht nur der Umgang mit Nicaragua allerdings zeigt: In der lateinamerikanischen Linken geht es heute weniger harmonisch zu als zu Beginn des Jahrhunderts. Deutlich wurde das auch Ende Oktober. Auf dem Gipfeltreffen der BRICS-Staaten in Russland legte Brasilien sein Veto gegen den Beitritt Venezuelas zum Bündnis ein, dem mittlerweile neun Staaten angehören. Die Begründung der Lula-Regierung: Obwohl bereits mehrere Monate seit der Präsidentenwahl in Venezuela vergangen waren, hatte der offizielle Wahlsieger Nicolás Maduro noch immer nicht die vollständige Veröffentlichung aller Wahlunterlagen angeordnet, um so die Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Wahl aus dem Weg zu räumen. Caracas reagierte mit dem Vorwurf, Brasília habe sich der »kriminellen Sanktionspolitik« der USA und anderer westlicher Staaten angeschlossen.
Südliche Morgenröte
Das ist insofern bemerkenswert, als Brasilien während Lulas ersten beiden Amts‑zeiten (2003–2011) und Venezuela unter Maduros Vorgänger Hugo Chávez (1999–2013) zu den bedeutendsten Antreibern der »lateinamerikanischen Integration« gezählt hatten. Der Begriff beschreibt die Bestrebungen der lateinamerikanischen Staaten, sich durch ein koordiniertes Auftreten und solidarische Kooperation in die Lage zu versetzen, gegenüber anderen globalen Machtblöcken souverän aufzutreten. Zu diesem Zweck wurden mehrere Bündnisse gegründet, unterschiedlichen Erfolgs. Besondere Bedeutung erlangten Anfang des Jahrhunderts die Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA), die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) und die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (Celac). Sie stehen exemplarisch für die Fortschritte, die auf dem Feld der lateinamerikanischen Integration während der (ersten) »linken Welle« gemacht wurden.
Besonders die Bemühungen von Hugo Chávez stellten sich als wichtig für die regionale Kooperation heraus. Nach seiner Wahl zum Präsidenten Venezuelas am 6. Dezember 1998 wurde er rasch zu einem der wichtigsten Kritiker des US-Imperialismus, dessen zentrales Projekt in der Region damals die noch von US-Präsident George Bush ins Spiel gebrachte Gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA) war. Besonders prominent kritisierte Chávez die ALCA beim dritten Amerika-Gipfel, der im April 2001 im kanadischen Québec stattfand. Bereits im September desselben Jahres brachte der venezolanische Staatschef das erste Mal eine »Alternative zur ALCA« ins Spiel. »Wir sollten über diese Alternative sprechen und an ihr arbeiten«, erklärte er. »Wir könnten sie ALBA nennen, die Bolivarische Allianz für Amerika, ein anderes Modell der Integration.«
Heute ist es fast auf den Tag genau 20 Jahre her, dass Venezuela und Kuba im Rahmen der ALBA das erste bilaterale Abkommen schlossen. Es beinhaltete die Lieferung venezolanischen Erdöls an die sozialistische Inselrepublik, die ihrerseits Ärzte nach Venezuela entsandte. Anderthalb Jahre später trat Bolivien unter Evo Morales dem Abkommen bei und damit ein weiteres an Rohstoffen, damals besonders an Erdgas, reiches Land. 2007 folgte Nicaragua, 2008 der Karibikstaat Dominica und das zentralamerikanische Honduras, 2009 Ecuador, San Vicente und die Grenadinen sowie Antigua und Barbuda. Bei einem Gipfel im venezolanischen Maracay im Juni desselben Jahres beschlossen die Staatschefs, das Bündnis in Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas umzubenennen. Die Abkürzung ALBA, was auf Spanisch Morgenröte bedeutet, blieb dieselbe.
Der neue Name sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass die ALBA mittlerweile nicht mehr nur ein loser Zusammenschluss linksregierter Staaten, sondern ein regionales Bündnis geworden war. Das Ziel von Beginn an: eine Alternative zu den Institutionen zu schaffen, die weiterhin unter der Kontrolle der USA standen – so die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Dabei wurde, in Anlehnung an die Vorstellungen des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar, der Anspruch verfolgt, Lateinamerika »zu vereinen«. Als Prinzipien schrieb man den gegenseitigen Respekt vor der Souveränität der Mitgliedstaaten sowie den Nutzen für die breite Mehrheit der Bevölkerung fest – im Gegensatz zu einem Primat der Kapitalinteressen, die in den Institutionen des vorherigen Jahrzehnts vorherrschend gewesen waren. 2008 wurde die ALBA-Bank gegründet, die als eigenes Finanzinstitut des Regionalbündnisses dazu beitragen sollte, die bisherige Abhängigkeit von aus Washington kontrollierten Finanzorganisationen wie Weltbank oder Internationaler Währungsfonds (IWF) zu reduzieren.
Die ALBA markiert das mit Abstand radikalste Projekt der lateinamerikanischen Integration der 2000er Jahre. Neben ihr existierten jedoch weitere Formate, die schon aufgrund ihrer schieren Breite Bedeutung erlangten und in denen ebenfalls progressive Stimmen den Ton angaben. So wurde 2008 die Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) gegründet, die alle zwölf unabhängigen Staaten Südamerikas umfasste, was ein absolutes Novum dar‑stellte. Sogar ganz Lateinamerika und die Karibik umfassend, wurde 2011 die Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (Celac) gegründet. Dieser ge‑hören 33 Länder aus der Region an – mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und Kanadas alle des amerikanischen Doppelkontinents. Gerade hierin lag eine der Stärken der Celac, deren Motto »Einheit in Vielfalt« lautete. Ihre Gründung machte möglich, den Einfluss Washingtons auf die Region in den folgenden Jahren zu reduzieren. Das betraf insbesondere die OAS, in der die USA traditionell ein großes Gewicht besitzen.
Spätestens ab 2015 allerdings verloren die drei wichtigsten Projekte der regionalen Integration von links an Bedeutung. 2013 war Hugo Chávez gestorben, mit Fidel Castro folgte ihm 2016 der zweite Gründungsvater des »bolivarischen Blocks«. Ab 2014 kann von einem Ende der Rohstoffkonjunktur gesprochen werden, von der die lateinamerikanischen Staaten profitiert hatten. So brachten die hohen Preise auf dem Weltmarkt beispielsweise für venezolanisches Erdöl oder bolivianisches Erdgas den linken Regierungen in den 2000er Jahren Devisen ein. Daraus ergab sich ein vergleichsweise großer Spielraum für eine aktive und unabhängige (Außen-)Politik.
Bedeutungsverlust
Zentral für den Bedeutungsverlust der ALBA ebenso wie anderer Projekte der regionalen Integration war jedoch der Rechtsruck in vielen Ländern Lateinamerikas, am deutlichsten sichtbar 2015 beim Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien. Bereits zuvor hatte Honduras das ALBA-Bündnis verlassen, nachdem man 2010 mit Hilfe der USA sowie unterstützt durch die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung gegen Manuel Zelaya geputscht hatte. 2018 stieg Ecuador infolge des Politikwechsels unter Lenin Moreno aus der Allianz aus, im Jahr darauf folgte zeitweilig Bolivien, wo Evo Morales gestürzt worden war. Neben dem Regierungswechsel in Argentinien traf auch der Wahlsieg Michel Temers in Bra‑silien 2016 das ALBA-Bündnis schwer. Wenn auch selbst keine Mitglieder, waren beide Staaten zuvor wichtige Verbündete der Allianz gewesen.
Ebenso wie das ALBA-Bündnis, das dieser Tage in Caracas sein 20jähriges Bestehen feierte, existiert die Union Südamerikanischer Staaten bis heute. Ihre Bedeutung als Ort des politischen Dialogs oder für die Bewältigung regionaler Krisen hat die Unasur heute jedoch größtenteils eingebüßt. Ihr Niedergang ging mit der politischen Krise in Venezuela einher, die sich seit dem Tod von Chávez 2013, besonders jedoch in Folge rechter Proteste und Destabilisierungs- sowie Putschversuche mit Unterstützung aus dem Ausland zuspitzte. Im Streit über den Umgang mit der Situation in Venezuela trat 2018 zunächst die damalige Rechtsregierung Kolumbiens unter Iván Duque aus der Unasur aus. Ihr folgten im Jahr darauf Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay sowie 2020 Uruguay.
Zwar versuchte der brasilianische Präsident Lula nach seiner Wiederwahl – sein Land war mittlerweile wieder Mitglied geworden –, die Unasur wiederzubeleben. Trotz großer Pläne wie dem, eine eigene Regionalwährung einzuführen, verfing das Vorhaben aber nicht. Etwas mehr Erfolg hatten die Versuche, die Celac zu reaktivieren. Der Staatenbund hatte spätestens ab 2017 stark an Bedeutung verloren. Offiziell ebenfalls wegen Meinungsverschiedenheiten zur Situation in Venezuela fielen die eigentlich jährlich abgehaltenen Gipfel aus, bis der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador als Pro-Tempore-Vorsitzender 2021 die Initiative zur Wiederbelebung des Formats ergriff. Allerdings dauerte es danach erneut zwei Jahre, bis 2023 in Argentinien wieder ein Celac-Gipfel gefeiert wurde. Diesem folgte im Juli desselben Jahres ein Treffen mit den EU-Staaten in Brüssel. Seitdem fand ein Gipfel in Kingstown in San Vicente und den Grenadinen statt, im kommenden Jahr wird mit Kolumbien wieder ein linksregierter Staat den Celac-Vorsitz innehaben.
Trotzdem steht es um die lateinamerikanischen Integrationsbestrebungen heute deutlich schlechter als zu Zeiten der ersten linken Welle, auch wenn in vielen Ländern formell wieder progressive Regierungen an der Macht sind. Um das zu erklären, weisen manche auf ideologische Unterschiede zwischen den verschiedenen linken Regierungsprojekten hin. Demnach werde die Zusammenarbeit dadurch erschwert, dass es sich bei manchen Regierungen um »autoritäre«, bei anderen wiederum um »demokratische« handle. Und andere erklären, freilich unter umgekehrten Vorzeichen, die einen Regierungen seien »revolutionär links«, die anderen hätten sich an den US-Imperialismus verkauft.
Geringerer Spielraum
Deutlich relevanter als solche (vermeintlichen oder tatsächlichen) Umstände dürften indes andere Gründe sein. Zunächst ist der wirtschaftliche Spielraum der Linksregierungen heute kleiner als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Neben dem Rückgang der für rohstoffexportierende Staaten vorteilhaften Weltmarktpreise haben die Volkswirtschaften Lateinamerikas in den vergangenen Jahren teils enorm unter den Auswirkungen der Coronapandemie gelitten. Der Krieg in der Ukraine führte zu Nahrungsmittelknappheit, Preissteigerungen für Treibstoff und Energie sowie Lieferkettenengpässen. Die heute teils klammen Staatskassen linksregierter Länder wirken sich auch negativ auf die Attraktivität von Projekten zur regionalen Integration aus.
Außerdem haben sich weltweite Machtverhältnisse und entsprechend auch die Position Lateinamerikas in den vergangenen Jahren stark verändert. Den Linksregierungen, die während der 2000er Jahre an die Macht kamen, kam zugute, dass die Vereinigten Staaten davon ausgingen, der Kommunismus als Systemrivale sei besiegt. Statt – wie in den Jahrzehnten zuvor – penibel darauf zu achten, dass in Lateinamerika kein progressives Projekt an die Macht komme, konzentrierten sich Washington auf einen anderen Feind, der außerdem in einer anderen Weltregion lokalisiert wurde: den »Terrorismus«. So entstanden für progressive Projekte in Lateinamerika teilweise Handlungsspielräume, die es zu Zeiten des Kalten Krieges nicht gab.
Zugleich richteten sich die damaligen Bestrebungen lateinamerikanischer Staaten, souveräne Politik zu betreiben, eindeutig gegen den US-Imperialismus, der weiter der wichtigste extraregionale Akteur war. Heute befindet sich die US-Hegemonie und mit ihr die weltweite Unipolarität in der Krise – auch und gerade in Lateinamerika. China ist für die meisten Länder der Region der wichtigste Handelspartner, was auch damit zusammenhängt, dass die lateinamerikanischen Staaten in erster Linie Rohstoffexporteure sind. Besonders im Nachgang der Finanzkrise ab 2008 vervielfachten chinesische Banken die Vergabe von Krediten in der Region. Unternehmen aus der Volksrepublik setzten verstärkt auf Energieinfrastruktur- und Transportprojekte, die oftmals von chinesischen Banken finanziert wurden. 21 Staaten Lateinamerikas wollen dem chinesischen Megainfrastrukturprojekt »One Belt, One Road« (Neue Seidenstraße) beitreten. Die Intensität bilateraler Beziehungen zwischen der Volksrepublik und den Ländern Lateinamerikas ist stark angestiegen. Ebenso wie mit der Europäischen Union unterhält die Celac seit 2014 ein gesondertes Forum mit China. Hinzu kommt heute der BRICS-Bund, der ökonomisch durchaus über Macht und mit Brasilien über ein Mitglied sowie eine ganze Reihe Interessenten auf dem Subkontinent verfügt.
Die Entwicklung weg von der US-Hegemonie und hin zu einer zunehmend multipolaren Weltordnung brachte zunächst durchaus Vorteile für die Länder Lateinamerikas. Weder die USA noch China forderten von ihren Partnern Exklusivität ein, wobei die Volksrepublik ihren Bedeutungsgewinn in der Region ohnehin vor allem ihrem Status als attraktive Handelspartnerin verdankt. Mittlerweile allerdings gibt es stärkere Spannungen zwischen beiden Mächten, was mit der kommenden Präsidentschaft von Donald Trump in den USA und dem von ihm angekündigten Wirtschaftskrieg gegen China noch weiter zunehmen dürfte.
Faktor: China
In der Folge wächst auch der Druck auf die Länder Lateinamerikas, sich zu positionieren. Über Jahrzehnte hatten sie ihre Regionalpolitik in erster Linie an den USA ausgerichtet – sei es, um sich deren Interessen zu unterwerfen, sich ihnen zu widersetzen oder sich ihnen zu entziehen, um Handlungsspielräume zu gewinnen. Mit der wachsenden Präsenz Chinas verändert sich die regionalpolitische Ausrichtung der lateinamerikanischen Staaten. In Anlehnung an den argentinischen Historiker Leandro Morgenfeld¹ lassen sich diesbezüglich auf Seiten der links-progressiven Regierungen zwei unterschiedliche Strategien identifizieren: einerseits der »multipolare Multilateralismus«, bei dem versucht wird, die eigene Blockfreiheit zu bewahren, um so je nach eigenen Interessen unabhängig agieren zu können. Andererseits vollzogen andere Staaten einen deutlicheren Bruch mit den USA und »dem Westen«, was in der Folge oftmals bedeutet, dass Allianzen mit nichtwestlichen Akteuren eingegangen werden.
Diese Kategorisierung ermöglicht auch ein besseres Verständnis des eingangs erwähnten Konflikts um das brasilianische Veto gegen einen BRICS-Beitritt Venezuelas. Caracas versteht sich – im Gegensatz zu Brasília sowie gewiss auch aufgrund der westlichen Aggressionen und der sich daraus ergebenden teilweisen Isolation – heute nicht mehr als blockfrei. Eine Aufnahme Venezuelas in die BRICS hätte in Lateinamerika diejenigen Stimmen gestärkt, die den Interessen der USA entgegenstehen. Daran beziehungsweise an einem Einflussgewinn Chinas in der Region hat Brasilien als die Regionalmacht in Südamerika kein Interesse. Oder, wie der heutige außenpolitische Berater von Lula, Celso Amorim, bereits 2022 in einem Interview² erklärte: »Es liegt nicht in unserem Interesse, aus der Abhängigkeit von den USA in die Abhängigkeit von China zu geraten.«
Es ist unwahrscheinlich, dass Initiativen zur regionalen Integration in Lateinamerika heute so erfolgreich sein werden wie zu Beginn des Jahrtausends. Dazu trägt auch bei, dass sich ab dem kommenden Jahr eine erstarkte ultrarechte Achse bilden wird, die alle Versuche, souveräne Regionalpolitik zu betreiben, zu torpedieren suchen dürfte. Wenn Trump ab Ende Januar die Amtsgeschäfte im Weißen Haus übernimmt, kann er auf den argentinischen Staatschef Javier Milei oder dessen ecuadorianischen Amtskollegen Daniel Noboa zählen. Beide haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie bereit sind, sich den US-Interessen vollständig zu unterwerfen. Die USA, so viel steht fest, sind nicht bereit, eine Region, die sie als strategisch bedeutsam für die nationale Sicherheit und wichtig für den eigenen Reichtum erachten, einfach aus den Händen zu geben. Und dass Trump gegenüber Lateinamerika getreu der Monroe-Doktrin vorgehen wird, hat er bereits während seiner ersten Amtszeit bewiesen.
1 Leandro Morgenfeld: Nuestra América frente a la doctrina Monroe: 200 años de disputa. Buenos Aires: CLACSO, 2023
2 brasil.fes.de/detalhe/a-america-do-sul-nao-pode-passar-dos-bracos-dos-eua-para-os-bracos-da-china
Frederic Schnatterer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Juli 2024 über Argentiniens Präsidenten Javier Milei: Der Ausverkäufer.
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