Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 21.12.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Mit leicht gesenktem Kopf

Mensch und Puppe: Zwei Berliner Ausstellungen widmen sich dem künstlerischen Werk von Gisèle Vienne
Von Manfred Hermes
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As im Ärmel der Kunst: Das Unheimliche der Puppen und ihre Nähe zur Prothese oder Leiche

Mit gleich zwei Ausstellung‑en – im Haus am Waldsee und im Kolbe-Museum – steht Gisèle Vienne in Berlin gerade stark im Fokus. In beiden Häusern stellt sie lebensgroße Puppen aus, die wie sehr junge, modische Frauen aussehen.

Im Haus am Waldsee sieht man sie vor allem in liegenden oder kauernden Positionen. Zwei der Räume sind zu einer Bühne zusammengefasst, auf der die Figuren auf dem Boden oder auf einem Bett herumliegen oder in der Ecke sitzen. Das wirkt wie eine Party in der Phase der affektiven oder kommunikativen Ermattung. Den Festcharakter sowie ein privates Umfeld verstärken Requisiten wie herumliegende Stofftiere, Getränkebehälter oder Snacktüten.

Im Paraderaum des Hauses, zur Seeseite hin, werden ein Dutzend weitere Puppen gezeigt, allerdings sozial vereinzelt und in rechteckigen Bodenvitrinen liegend wie in Glassärgen. Der Grusel wird im nächsten Raum verstärkt, dort sind die großen und mit Theaterblut dramatisierten Transportkisten der Puppen ausgebreitet. Das erinnert um so mehr an Sarglager, als sie aus Holz gezimmert sind und Deckel haben. (Es erinnert aber auch daran, dass »Kunst« nicht zuletzt ein Transport- und Lagerproblem ist.)

Im Gegensatz zum Haus am Waldsee werden Viennes Puppen im Kolbe-Museum meist aufrecht stehend und mit leicht gesenktem Kopf gezeigt. Bemerkenswert ist das Fehlen von Abtrennungen. Nichts hält einen also davon ab, den Bann zu brechen, der den Raum um Kunstwerke oder fremde Menschen sonst schützt. Man kann an die mädchenhaften Figuren derart nah herantreten, dass das Gefühl von Übergriff und Verbot geradezu viszeral wird.

Aber auch so impliziert die klamme Atmosphäre eine vage »teenage angst«, wenn nicht Schlimmeres. Gleichzeitig führen diese »Manikins« ihr stummes Leiden oder Unbehagen auch als Pose auf, die Kunststoffköpfe mit ihren interessant nichtssagenden Blicken erinnern an Modefotografien.

Das Betretene dieser Ausstellung führt aber womöglich auf eine falsche Spur. Im Kolbe-Museum läuft ein 15minütiges Video, das den ersten Eindruck etwas korrigiert. In »Kerstin Kraus« setzt sich eine Schauspielerin in modernistischen Wohninterieurs mit der Puppe eines großen Jungen in kurzen Hosen namens Frankie auseinander. Dabei wird auf die Verschränkungen der Alterität angespielt, die für das Verhältnis von Mensch und Puppe typisch sind: Das Dialogisieren unter Zuhilfenahme eines Gegenstands dient der Zwie‑sprache mit sich selbst.

Aber das Unheimliche von Puppen beruht auch darauf, dass ihre dingliche Menschenähnlichkeit sowohl eine Nähe zur Prothese oder Leiche hat sowie für Stellvertretungen und Projektionen offen ist. Die Spielerin sagt dann das zur Klappmundpuppe: »Wenn ich mein Gesicht abreißen würde, würdest du einen Schädel wie diesen sehen, aber voller Blut …« Für diese gilt im Rückschluss: Ich bestehe aus Holz, Draht und Plastik. Aber die Vorstellung, dass Kinder oder Kinderpuppen Erwachsenen Angst einjagen können, etwa an Halloween, begeistert Frankie sehr.

Das Makabre fasziniert aber nicht nur Frankie, das Themenfeld Gewalt, Verstümmelung und Tod ist auch in Viennes Auseinandersetzungen zentral. Kein Zufall ist es daher, dass das Skript von »Kerstin Kraus« von Dennis Cooper stammt, dem Romancier des Snuff, mit dem Vienne auch sonst oft zusammenarbeitet (wie übrigens mit Catherine Robbe-Grillet, einer fast 100jährigen Sadistin und der Witwe von Alain).

Da die Arbeit von Vienne nicht nur in der Inszenierung von Puppen in Kunsträumen besteht – sie ist auch Choreographin, Theatermacherin und Puppenspielerin –, wurden im November die Sophiensäle für eine Wiederaufführung des Tanzstücks »Crowd« von 2019 als eine dritte Spielstätte genutzt.

Eine einzelne Performerin betritt eine noch dunkle und mit rotbrauner Erde bedeckte Bühne und gibt die Bedingungen des Stücks vor: Alltagsbewegungen wie Gehen, Gestikulieren oder Tanzen laufen stark verlangsamt ab. Sobald alle 15 Tänzer die Bühne bevölkern, fünf davon sind männlich, geht das in diesem Dehnungsmodus weiter, also in »Zeitlupe«. Dabei ist dieses Soziale – dem biologischen Alter der Performer entsprechend – ein paar Jahre weiter als in Viennes musealen Puppenszenen. Auch die Ausdrucksweisen sind reichhaltiger.

Es gibt die Posen der Selbstüberhebung oder des Überschwangs, dann Szenen der Freundlichkeit, Traurigkeit, Aggressivität, der Geilheit oder Ermattung. Das ist wie ein Rave im Freien, dessen erzählerische Zellen nebeneinander laufen. Gruppen bilden oder lösen sich, ordnen sich neu. Das sexuelle Interesse der einen Figur löst Abscheu in der begehrten anderen aus. Eine psychotische Obdachlose irrt allein mit kleinem Gepäck herum. Ab und zu wird die Fiktion gebrochen, einzelne Performer fallen dann kurz aus der Zeitlupe.

Auf Normalgeschwindigkeit ging es dann auch nach »Crowd« zu, da betrat Gisèle Vienne selbst die Bühne und verlas ein ausführliches Statement gegen den Berliner Sparhaushalt und die Faschisierung der westlichen Gesellschaften. Es ist schon nicht schön, wenn eine künstlerische Arbeit durch persönliche Anwesenheit entwertet wird. Dass aber nach einer anstrengenden Aufführung die Tänzer dazu brav wie Puppen in der Reihe warten mussten, wirkte fast wie ein Missbrauch.

Gisèle Vienne: »This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play«, Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin, bis 12. Januar 2025

Gisèle Vienne: »Ich weiß, dass ich mich verdoppeln kann«, Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25,
14055 Berlin, bis 9. März 2025

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