Es denkt
Von Arnold SchölzelIn der DKP-Wochenzeitung Unsere Zeit schreibt der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath am Freitag: »In mehr als dreißig Jahren Arbeit auf dem Feld der bürgerlichen Medien habe ich ein solches Sperr- und Trommelfeuer von Propaganda nicht erlebt wie 2024.« Dath deutet den Lärm als Indiz dafür, dass die Medien »der Loyalität der Massen nicht trauen«, und nimmt ihn als Ansporn für Gegenpropaganda, »wenn man etwas anderes anzubieten hat als die vorhandenen Scheußlichkeiten des Amoklaufmonopolkapitalismus«.
Von denen wollen dessen Lenker und Profiteure immer weniger in ihren Selbstverständigungsorganen sehen. Einige im Überbaupersonal leisten sich aber immer wieder Unzuverlässiges. Ein Beispiel ist die Rede des emeritierten Harvard-Soziologen Orlando Patterson, die er bei Entgegennahme des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart am 12. Dezember hielt. Die FAZ veröffentlichte sie am Mittwoch als sogenanntes E-Paper. Ein weiteres Beispiel ist der am selben Tag veröffentlichte Text des für »Geisteswissenschaften« zuständigen FAZ-Redakteurs Patrick Bahners, der aus Pattersons Rede unter der Überschrift »Das wird ein Gemetzel. Gegen das eherne Gesetz der Oligarchie hilft nur die Gegengewalt der Volksjustiz« einige Schlussfolgerungen zog.
Patterson zog in Stuttgart eine vernichtende Bilanz der Geschichte von Freiheit im Westen seit 1945: »In der Nachkriegszeit schien der Westen dem harmonischen Dreiklang der Freiheit näher denn je zu kommen.« Mit Dreiklang meint der Autor die »negative Freiheit«, zu tun, was man will, die »positive«, ein Ziel zu verwirklichen, sowie die »kollektive« von »demokratischer Solidarität und Rechtsstaatlichkeit«. Mit Eintritt in das 21. Jahrhundert begann aus Pattersons Sicht das Gleichgewicht zwischen den dreien zu zerbrechen. In den USA zeige sich diese Entwicklung besonders drastisch: »Dort besitzen jetzt drei Milliardäre mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen. Ganze Regionen, einst florierende Industriezentren, sind verödet.« Die Folge: »Für die arbeitende, arme Bevölkerung, diejenigen, die an Verzweiflung sterben, für Gemeinden, die durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch zerbrochen sind, hat die Freiheit jegliche Bedeutung verloren.« Patterson schließt unter Berufung auf Hegel: »Unter solchen Bedingungen wird ein ethisches Leben – wird Sittlichkeit – unmöglich.«
Bahners meint, ein Beispiel für letzteres sei »die keineswegs klammheimliche Freude«, mit der in den USA die Erschießung des Chefs eines Versicherungskonzerns aufgenommen wurde: »Das Opfer wurde verhöhnt, der Täter teilweise als Volksheld gefeiert.« Für den FAZ-Redakteur ist das Anlass, auf das Buch des US-Politikwissenschaftlers John McCormick »Macchiavelli und der populistische Schmerzensschrei« (deutsch 2023) einzugehen. Der Clou darin sei »die Einheit von Institutions- und Klassentheorie«, um die von der parlamentarischen Demokratie zwangsläufig hervorgebrachte Oligarchie einzuschränken. Das beschränke sich nicht auf »Wiedereinführung der Todesstrafe, aber nur für Superreiche« (so twitterte ein McCormick-Fan, über den sich der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki und Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt reflexartig empörten). McCormick werbe vielmehr nicht für Selbstjustiz, sondern für die Einführung eines »Volkstribunats mit Vetorechten nach altrömischem Vorbild«. Wobei die Gewaltandrohung »unersetzlich« sei: »Nur wenn die Großen tatsächlich um ihr Leben fürchten müssten, werden sie sich disziplinieren.«
Da dringen durch Ritzen im System die Ahnung von der real existierenden Katastrophe, aber auch Ohnmacht. Immerhin: Es denkt. Mitten im Amok.
Da dringen durch Ritzen im System die Ahnung von der real existierenden Katastrophe, aber auch Ohnmacht. Immerhin: Es denkt. Mitten im Amok.
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