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Aus: Ausgabe vom 21.12.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

White Cubes zu Like Cubes

Jenseits des Kunstgenusses: Der Kult des Exklusiven und der Ausschluss des Publikums. Ein Überwindungsversuch
Von Stefan Heidenreich
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Selbst Marktkritik bringt Wertsteigerung: »Love is in the Bin« von Banksy

Dieser Tage erscheinen unter dem Titel »Attraktion und Mitmacht« im Merve-Verlag Stefan Heidenreichs Gedanken darüber, »Wie Kunst dem Kult des Exklusiven entkommt«. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck eines Auszuges. (jW)

In der Kunst hat das Publikum nichts zu sagen. Was als wertvoll gilt, bestimmt der Markt, also Sammler und Investoren. Deren Auswahl dominiert die großen Ausstellungen und Museen. Das führt dazu, dass Kunst im Kern eine oligarchische Kulturform ist. Denn sehr wenige wohlhabende Käufer entscheiden, was gezeigt wird und was nicht. Institutionen, Galerien, Kuratoren und Künstler sind auf ihr Wohlwollen angewiesen. Dagegen bleiben Betrachterinnen wie Betrachter von Entscheidungen über die Auswahl der ausgestellten Kunst ausgeschlossen. Sie dürfen kommen, sehen und schweigen. Was ihnen vorgeführt wird, richtet sich so gut wie nie nach ihren Vorlieben oder Wünschen. Dass das Publikum in einem kulturellen Bereich derart ignoriert wird, ist ebenso bemerkenswert wie außergewöhnlich. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die bildende Kunst von so gut wie allen anderen Kunstformen. Überall sonst rühren sowohl Anerkennung wie Einnahmen auf die eine oder andere Weise vom Zuspruch des breiten Publikums her, ob über Eintrittskarten, Verkaufszahlen oder Klicks.

Die Macht des Kunstmarktes wird stellenweise noch ein wenig durch staatliche Kulturförderung gedämpft. Viele Ausstellungsorte bleiben dadurch vor allzu großer Abhängigkeit bewahrt. Deshalb findet man dort immer wieder hervorragende Ausstellungen und großartige künstlerische Projekte abseits kommerzieller Interessen. Auch Kunstvereine leisten einen wichtigen Beitrag zu einem unabhängigen kulturellen Leben. Am Ausschluss und an der Bevormundung des Publikums ändert all das wenig. Denn leider hat es sich eingebürgert, aller öffentlichen Förderung zum Trotz der Öffentlichkeit selbst keine Mitsprache beim Programm zu überlassen.

Die Mittel der Kulturförderung reichen in der Regel nicht aus, um an der grundlegenden Ausrichtung des Kunstbetriebs viel zu ändern. Wer auch immer eine Karriere in der Kunst anstrebt, bekommt die Macht des Marktes zu spüren. Die meisten Ausstellungen sind auf Unterstützung von Galeristen und Sammlern angewiesen. Je größer eine Institution, je kostspieliger die Kunst, desto mehr Einfluss nehmen die Sammler. Der Lockruf des Geldes dröhnt durch den gesamten Betrieb. Wer auch immer höhere Weihen anstrebt, und das betrifft Künstler genauso wie Kuratoren und Galeristen, tut gut daran, die Spielregeln des Marktes zu kennen und sich auf sie einzulassen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Macht der neuen Sammler, damals vor allem Industrielle, Händler und Unternehmer, mit dem zeitgleichen Aufkommen von Moderne und Galeriensystem. Im 20. Jahrhundert hat der moderne Kunstmarkt im Zuge eines von Europa ausgehenden kulturellen Kolonialismus die ganze Welt erobert. Dass während der neoliberalen Jahrzehnte der jüngeren Vergangenheit die staatlichen Museen schwächer und die Milliardäre zahlreicher wurden, hat die Abhängigkeiten weiter verschärft.

Um Kunst als öffentlich wirksame und lebendige Kulturform zu erhalten, müsste sie der oligarchischen Umklammerung entkommen. Dazu braucht es Ausstellungsorte, an denen Betrachterinnen und Betrachter entscheiden können, was sie sehen wollen.

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Für den Markt muss ein Kunstwerk vor allem exklusiv sein. So viel Bedeutung man dem Inhalt oder anderen Eigenschaften auch zuschreibt, am Preis ändern sie wenig. Ob ein Werk schön, bemerkenswert oder aufregend ist, oder auch nicht, bleibt sich nahezu gleich. Rein ökonomisch gesehen ist heute Exklusivität das Kernprodukt von Kunst, gleich mit welcher materiellen Hülle sie ummantelt wird. Welche ästhetischen, intellektuellen oder inhaltlichen Aspekte dazu kommen, macht keinen Unterschied. Die formale Gleichgültigkeit schlägt sich in den Werken nieder. Sie wirken oft unverständlich, verrätselt, leer und dekorativ zugleich, und spiegeln damit die realen Werten enthobene, finanzialisierte Welt ihrer Kundschaft wider.

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Bisweilen tritt das Streben nach Exklusivität so in den Vordergrund, dass es alle anderen Aspekte überstrahlt. In dem Fall wird alles, was ein Werk ausmacht und umgibt, eingesetzt, um den Eindruck von Einmaligkeit zu stärken. Das betrifft formale Aspekte ebenso wie den vermeintlichen Inhalt und kann selbst die Biographie der Künstler oder die Zuschreibungen von Kritikern oder Kunsthistorikern umfassen. Das gesamte Werk erscheint dann als leere Projektionsfläche des Exklusiven. Der etwas umrätselte Begriff der Aura lässt sich als Ausdruck dieser Ausstrahlung verstehen. Was dem Besitzer ganz nah ist, nämlich als Teil der eigenen Sammlung, soll allen anderen so fern wie nur möglich erscheinen. In diesem Sinn steht die Aura eines Kunstwerks für nichts weiter als sein Maß an Exklusivität.

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Das perfekte zeitgenössische Kunstwerk muss nicht ausgestellt werden. Der Gipfel der Exklusivität ist erreicht, wenn alle ausgeschlossen werden, und das heißt: wenn niemand das Werk zu Gesicht bekommt. Ein solches maximalexklusives Objekt geht ab Atelier geradewegs ins Zollfreilager. In vielen Fällen kümmern sich die Besitzer nicht einmal darum, es vor dem Kauf in Augenschein zu nehmen. Solange die Werke des zeitgenössischen Freeportismus am Kunstmarkt liquide gehandelt werden, erfüllen sie die gleiche Funktion wie andere für Finanztransaktionen oder die Geldanlage optimierte Güter, etwa teure Uhren, Schmuckstücke, Goldbarren oder dergleichen. Vergleichbaren Luxusgütern hat Kunst einen zweifelhaften Vorteil voraus. Weil Kunstwerke keinen intrinsischen materiellen Wert besitzen, können sie zu nahezu beliebigen Preisen gehandelt werden. Das macht sie für einige Geschäftsfelder am Rand der Legalität außerordentlich attraktiv. Niemand weiß genau, wie hoch der Anteil der Geldwäsche am Umsatz des Kunstmarkts ausfällt. Schätzungen liegen zwischen fünf Prozent und 20 Prozent. Für diese Art von Schattenökonomie muss das gehandelte Werk seinen Lagerplatz nicht verlassen. Es genügt, die Namen der Eigentümer in einer Datei auszutauschen. Damit erreicht die zeitgenössische Kunst den absoluten Gipfel der Abstraktion.

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Kunstvermittlung klingt gut, nur leider ist sie, was eine wirkliche Beteiligung des Publikums betrifft, keine Lösung, sondern Teil des Problems. Das hat zwei Gründe. Einer liegt im Akt des Vermittelns, und der andere hat mit der Kunst zu tun, die es zu vermitteln gilt. An der Auswahl der ausgestellten Kunst ändert Kunstvermittlung nichts. Sie macht sich erst ans Werk, wenn schon feststeht, was gezeigt wird. Damit trägt die Vermittlung dazu bei, paternalistische Auswahlverfahren im nachhinein zu rechtfertigen. Sie verteidigt den Kult des Exklusiven, anstatt ihn in Frage zu stellen. Sie gibt vor, zu besserem Verständnis beizutragen, belässt aber das von Entscheidungen ausgeschlossene Publikum in der ihm zugewiesenen Passivität. Damit fördert die Kunstvermittlung gerade nicht Eigenständigkeit oder Selbstbestimmung, sondern mildert nur die Folgen des fortdauernden Ausschlusses. Anstatt dem Publikum ein eigenes Urteil mit Entscheidungskraft zuzugestehen, vertritt sie die Entscheidungen anderer. Damit rechtfertigt sie zugleich eine Kunst, mit der das Publikum nichts anzufangen weiß. Schließlich funktioniert das Vermitteln am besten bei Werken, die sich gerade nicht selbst erklären.

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Kants Traum einer Kunstbetrachtung im Zustand interesselosen Wohlgefallens zerfällt in der Moderne nach beiden Seiten hin. Der Markt diktiert ganz banal und finanziell ein sehr konkretes Interesse, nämlich dass der Wert steigen soll. Auf der anderen Seite erübrigt sich das Wohlgefallen. Es spielt schlicht keine Rolle mehr, ob Kunst gefällt oder nicht. Den Wettlauf zum Neuen gewinnen oft gerade jene Werke, die durch Missfallen für Aufsehen sorgen. Wer von Kunst noch Wohlgefallen oder überhaupt Schönheit erwartet, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Die Kunst der Moderne stellt damit Kants Ästhetik geradewegs auf den Kopf. Das bringt immerhin den Vorteil, dass man sich mit den romantischen Illusionen über den Kunstgenuss nicht weiter herumschlagen muss, und schon gar nicht mit der Phantasie, dass sich wie durch magische Kräfte ein gemeinsames ästhetisches Urteil herausbilden würde. Unter Marktbedingungen geschieht genau das Gegenteil. Die Spielwiese des Ästhetischen wird umgepflügt zu einem Schlachtfeld der feinen Unterschiede.

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Der Markt mobilisiert Kunst als Mittel kultureller Distinktion. Zwar hält das Bürgertum an den alten romantischen oder gar klassizistischen Kriterien des Schönen fest. Aber das ändert nichts an der langfristigen flächendeckenden Umerziehung zum modernen individuellen Kulturgebrauch. Die Künstler werden zwar auch in der Moderne weiterhin als Helden verehrt, aber ihre Jobbeschreibung hat sich radikal verändert. Anstelle der kulturellen Volksertüchtigung dienen sie nun dem Kult des Exklusiven. Das fordert Opfer, besonders in der Umbruchphase. Im neuen Wettbewerb um die Speerspitze des Fortschritts eilen nicht wenige Künstler ihrer Zeit so weit voraus, dass sie ihre größten Erfolge selbst nicht mehr miterleben. Zu Lebzeiten werden sie verkannt, sie scheitern, fristen ihr Leben in Armut, sterben früh und verpassen den Gipfel ihres Ruhms oder anders gesagt die Vermarktung ihrer Werke.

Auch die Betrachter bleiben auf verlorenem Posten zurück. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind die ehemals aufgeklärten und gebildeten Kulturbürger zu ahnungslosen Banausen geworden, die sich mit peinlichen Bemerkungen in Ausstellungen lächerlich machen. Seither gehört es unter den Eingeweihten des Kultes zum guten Ton, auf das Publikum herabzusehen.

Kein Wunder also, dass die Idee, man solle dem Publikum auch nur einen Funken Entscheidungsmacht überlassen, auch heute noch gerade unter Künstlern einhelliges Schaudern auslöst. Über Generationen haben sie gelernt, die Betrachter und die breite Masse zu verachten, und nun sollen sie sich plötzlich ihrem Urteil ausliefern?

Auf Seiten des Publikums finden sich die gleichen Vorbehalte, nur umgekehrt. Zeitgenössische Kunst gilt in weiten Kreisen mittlerweile als unverständlicher Kult der Bessergestellten, der einem aus unerfindlichen Gründen noch immer in der Schule beigebügelt wird. Ausstellungsorte wirken wie Schreine eines rätselhaften Rituals, deren Schwelle man besser nicht übertritt. Nicht aus Furcht oder Zurückhaltung, sondern weil ein Jahrhundert moderner Publikumsverachtung schließlich doch Wirkung zeigt.

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Die schon von den Dadaisten geforderte »Aufhebung der Besitzbegriffe in der neuen Kunst« steht leider nach wie vor aus. Noch immer haben die Eigentümer das Recht, die von ihnen besessenen Kunstwerke dem Rest der Welt vorzuenthalten und Abbildungen oder Kopien zu verbieten. Das mag die Exklusivität erhöhen, auch wenn es kulturell gesehen noch so widersinnig ist. Mittlerweile geht die Tendenz dahin, das sogenannte intellektuelle Eigentum immer restriktiver durchzusetzen. So bleiben selbst in kunstwissenschaftlichen Büchern Abbildungen oft untersagt. Auf lange Sicht schaden sich die Kunstkäufer mit ihrer Fixiertheit auf Exklusivität selbst, indem sie die besessene Kunst im Privaten abschotten. Der Glaube an die Aura des Originals versteigt sich zur quasireligiösen Anbetung und umstellt den Zugang zum Werk mit einer Mauer obskurer Tabus und Verbote. Nichts darf berührt, nichts kopiert, nichts nachgemacht, nichts verändert werden. Es wird Zeit, die Heiligtümer der Kunst vom Sockel zu holen und auf die Erde zurückzubringen. Sammler könnten sich in einem kulturellen Verhaltenskodex dazu verpflichten, dem kreativen kulturellen Gebrauch von Kunst nicht länger im Weg zu stehen.

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Damit Kunst wirkt, anstatt einfach nur da zu sein, will sie beachtet und betrachtet werden. In der Finsternis eines Freilagers hat ein Kunstwerk wenig Sinn. Die am Kunstmarkt erzielten Preise garantieren keine kulturelle Bedeutung. Sie drücken die Investitionserwartungen und Vorlieben einer kleinen Käufergruppe aus, nichts weiter. Deshalb führt das derzeit in der Kunstwelt weitverbreitete Vorzeigen exklusiver Anlageobjekte in eine kulturelle Wüste. Die meisten der am Markt hoch gehandelten Werke sind so belanglos wie beliebige andere Luxusgüter. Um der Kunst Bedeutung und Reichweite zu verschaffen, müsste sie aus der Enge des Exklusiven befreit werden. Staatliche Förderung hat dazu bisher wenig beigetragen. Sie mildert manche Härten des Marktes und gewährt bedingte Freiheiten. Für ein tatsächliches Interesse des Publikums sorgt sie in der Regel nicht. Kunstinstitutionen, zumal die staatlich geförderten, könnten sich durchaus dem Einfluss der Sammler entziehen. Leider haben die Kuratoren in dieser Hinsicht wenig bewirkt, im Gegenteil. Die meisten großen Ausstellungen und Museen sind zu Echokammern des Kunstmarktes geworden.

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Kunst kann einen Anspruch auf kulturelle Bedeutung über den kleinen Horizont einiger Eingeweihter hinaus wahren, wenn sie ihren fatalen Hang zur Exklusivität überwindet. Es gibt zu diesem Zweck keinen besseren und vermutlich auch keinen anderen Weg, als die Betrachter bei der Auswahl ausgestellter Kunst mitentscheiden zu lassen. Ob dabei Wahlen, Räte, Kollektive, Onlinecommunitys oder andere netzbasierte Wege demokratischer Beteiligung zu den besten Ergebnissen führen, kann sich nur in der Praxis zeigen. Es gibt kaum Vorbilder oder erprobte Verfahren. Im Netz und in den sozialen Medien kommen laufend neue Ideen gemeinsamer Entscheidungsfindung auf, die es zu testen gilt. Die Verfahren der Beteiligung sollten immer beweglich bleiben, um neue Hierarchien zu vermeiden. Die Ausstellungsmacherei könnte in dieser Hinsicht zu einem Experimentalfeld kultureller Mitbestimmung werden.

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Eine Ausstellungskunst für das Publikum würde sich sowohl von kuratierter wie auch von besessener Kunst ganz grundsätzlich und sehr deutlich unterscheiden. Und zwar so sehr, dass man es mit einer vollkommen anderen Art von Werken zu tun bekäme. Statt um Exklusivität oder Kuratierbarkeit ginge es dieser Kunst um Instagrambarkeit, Tiktokerei oder allgemeiner gesagt um die alte Kategorie des Gefallens in einer onlinetauglichen und deshalb viel widersprüchlicheren und vielfältigeren Variante. Die Werke würden der Tatsache Rechnung tragen, dass Kunst heute am häufigsten in sozialen Medien erscheint. Statt die vielen digitalen Abbildungen als Nebensache abzutun, sollte man sie als integralen Bestandteil des Werkes auffassen.

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Der White Cube hat ausgedient. Statt der modernen Isolationskammer exklusiver Kontemplation, statt Abstraktion und Einfühlung, braucht es künftig Like Cubes, Räume gemeinsamer und vielfach geteilter Aufmerksamkeit, also Attraktion und Mitmacht.

Mit der Moderne kam es in Mode, Kunst möglichst einsam und kontemplativ zu betrachten. Ohne Ablenkung von außen, in einem leeren weißen Raum würde ein Werk seine volle Wirkung entfalten, so die Vorstellung. Die Hängung vieler Ausstellungen folgt diesem Prinzip noch immer. Der White Cube vollzieht in seiner gesellschaftsfeindlichen Vereinzelung nur nach, was andere Künste ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vorgemacht hatten. Im Theater und in der Oper hatte man stillzusitzen und zu schweigen, ebenso im Kino. Dass Betrachter und Kunstliebhaber derart ruhiggestellt wurden, galt zuvor keineswegs als selbstverständlich. Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts diente Kultur noch vorwiegend dem Vergnügen und der Unterhaltung, sieht man von kirchlicher Andacht einmal ab. Erst die Nationalkultur der Bürgerstaaten verlegte sich darauf, das Publikum unter Kontrolle zu bringen. Kultur wurde zum Disziplinierungskult, die Museen zu Kunstgefängnissen. Von nun an herrschte eine protestantische Ordnung, und der gemeinsame geteilte Genuss wurde den Leuten ausgetrieben. So wie der Mensch direkt zu seinem eigenen Gott spricht, so sollte der Betrachter sich zum Werk verhalten, vereinzelt vor dem Einzigartigen. Dass diese ausgesprochen unsoziale Auffassung von Kunstwahrnehmung sich durchsetzen und halten konnte, hat auch damit zu tun, dass sie so gut zum Kult des Exklusiven passt. Denn die Exklusivität der Werke soll sich auch in der Haltung des Betrachtens spiegeln. Dass Kultur ein gemeinsames Erlebnis sein kann, wurde aus der Kunst gestrichen. Nur langsam kommt man nun heute dazu, den White Cube aufzugeben und durch einen Like Cube zu ersetzen. Die Betrachter lernen erst langsam wieder, dass es auch bei der Kunst um ein gemeinsames Sehen und Zeigen geht, um ein Miteinander.

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Das Ausstellen sollte als soziales Ereignis, und das heißt immer auch als digitales, neu erfunden werden. Es kann Zusammenkunft und Bilderfest in einem werden. All die rituellen Momente, in denen Kunst und Publikum zusammenkommen, lassen sich auf dieses Ziel hin neu entwerfen. Von Anfang an sollte das Zeigen von Kunst darauf ausgerichtet sein, dass die Werke immer vielfach zu sehen sind, im Raum lokal und verteilt im Netz. Vor Ort würden Kommentare in Posts, Bildern und Videos angeregt, aufgegriffen und abgebildet werden. Manche Arbeiten könnten während der Schau ausgewechselt werden, vielleicht auch verändert, umgebaut oder erweitert. Warum sollte ein und dieselbe Kunst unverändert nebeneinander über eine Dauer von mehreren Wochen gezeigt werden? Die Auswahl weiterer auszustellender Werke könnte in den Ablauf der Ausstellung eingebaut werden. Warum nicht einen laufenden Wechsel, um auf die Wünsche des Publikums, plötzliche Eingebungen oder neue Vorschläge zu reagieren? Zum Abschied wie zum Willkommen eines neuen Werkes könnten sich die Fans und Liebhaber vor Ort versammeln. Die Ausstellung müsste nicht zu einem festgelegten Termin eröffnet und dann wieder geschlossen werden. Statt dessen könnte sie sich in eine fortlaufende Serie von Ereignissen verwandeln, darunter Selfietage für Kunstinfluencer oder Ruhetage für alle jene, die die Werke gerne im hergebrachten Modus kontemplativer Versenkung betrachten wollen. Im derart aktivierten Ausstellungsraum fände eine permanente Wahl, ein ständiges Kommen und Gehen von und vor der Kunst statt. So verwandeln sich vom Publikum mitgemachte Ausstellungen in lebendige Orte gemeinsamer Anerkennung und Schauplätze vielfach geteilter Attraktion.

Stefan Heidenreich, Jahrgang 1965, ist Kunst- und Medienwissenschaftler. Er lebt in Berlin. Von ihm erschienen unter anderem »Geburtstag. Wie es kommt, dass wir uns selbst feiern« (2018), »Geld. Für eine non-monetäre Ökonomie« (2017), »Was verspricht die Kunst?« (1998)

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