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Aus: Ausgabe vom 23.12.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Haiti

Gewalt ohne Ende

Haiti: Kämpfe zwischen Banden, Polizei und multinationaler Truppe eskalieren weiter – ebenso verschärft sich die katastrophale humanitäre Lage
Von Volker Hermsdorf
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Retten, was zu retten ist: Bewohner von Port-au-Prince auf der Flucht vor der Gewalt (16.12.2024)

In Haiti herrscht seit Sonntag ein vorerst bis zum 21. Januar dauernder erneuter Ausnahmezustand. Der Ministerrat und der Vorsitzende des Übergangsrates, Leslie Voltaire, begründeten die am Donnerstag beschlossene Maßnahme mit der »zunehmenden Unsicherheit und Gewalt im Lande«. Der Ausnahmezustand soll nach der offiziellen Version, »die Interventionen der nationalen Polizei im Kampf gegen die Unsicherheit erleichtern« und dazu beitragen, »die Landwirtschafts- und Nahrungsmittelkrise im Land zu bekämpfen«. Wie Telesur berichtete, wurde parallel dazu ein Nationaler Sicherheitsrat (CNS) gegründet, um »auf verschiedene Aspekte der Sicherheitskrise, die das Land plagt, zu reagieren« und die Voraussetzungen für einen »friedlichen und geordneten Übergang« zu schaffen.

Den Entscheidungen gingen Berichten lokaler Medien über neue Gewalttaten voraus. In der Nacht zum Montag hatten bewaffnete Gruppen, angeblich unter Führung des Expolizisten Jimmy »Barbecue« Chérizier, das Bernard-Mevs-Krankenhaus an der Straße zum Flughafen Toussaint Louverture in der Hauptstadt Port-au-Prince angegriffen und vier Operationssäle sowie alle Laboreinrichtungen zerstört. Einen Monat zuvor hatten allerdings nicht Bandenmitglieder, sondern Polizisten Krankentransporte angegriffen, Patienten getötet und Helfer mit Vergewaltigung und dem Tod bedroht, worauf die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ihre Arbeit vorerst einstellte, in der vergangenen Woche aber offenbar teilweise wieder aufnahm. Das UN-Nothilfebüro hatte bereits Anfang des Jahres davor gewarnt, dass das haitianische Gesundheitssystem »am Rande des Zusammenbruchs« stehe. Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Volker Türk, wurden in diesem Jahr bereits 5.000 Menschen getötet.

Dabei sind offenbar weder die oft selbst gewalttätige nationale Polizei, noch die von kenianischen Einheiten angeführte »multinationale Sicherheitsunterstützungsmission« (MMS) in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. Angesichts der Unterfinanzierung und des belasteten Images der kenianischen Polizei, der systematische Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, betrachten Kritiker den Einsatz der MMS mit Skepsis und sehen darin »eher eine Verzögerungsstrategie« als eine echte Maßnahme zur Bekämpfung der Gewalt. Dafür spricht auch, dass mehrere kenianische Polizisten die Truppe wegen »schlechter Arbeitsbedingungen« und seit September ausstehender Bezahlung wieder verlassen haben sollen, wie das Onlineportal Resumen Latinoamericano berichtete. Ein von Ecuador und der von Washington dominierten Organisation Amerikanischer Staaten unterstützter Antrag der USA im UN-Sicherheitsrat zum Einsatz einer weiteren »Blauhelmtruppe« in Haiti scheiterte Ende November am Veto Chinas und Russlands. Deren Vertreter verwiesen darauf, dass frühere derartige Einsätze die Situation im ärmsten Land Amerikas sogar verschlechtert hätten.

Die USA könnten auch ohne »Blauhelm«-Einsatz sofort dazu beitragen, die Zahl der Opfer in Haiti zu reduzieren, indem sie gegen Waffenhändler im eigenen Land vorgehen. Laut dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) stammen »die meisten Waffen und die Munition, die in Haiti eingesetzt werden, aus den USA«. Bereits 2020 schätzte ein UN-Bericht, dass etwa eine halbe Million davon im Umlauf waren, darunter Maschinen- und Sturmgewehre. Aufgrund der geographischen Nähe und der lockeren Gesetze in einigen US-Staaten ist der illegale Export von Schusswaffen nach Haiti ein lukratives Geschäft, an dem auch einheimische Geschäftsleute, korrupte Politiker und bestochene Beamte beteiligt sind. Neben den USA ist auch der Nachbarstaat Dominikanische Republik in den illegalen Waffenhandel verwickelt. Während beide Länder massenweise Haitianer abschieben, die sich vor der Gewalt in Sicherheit bringen wollen, bleiben die Waffendealer nahezu unbehelligt. Das bestärkt die Zweifel in Haiti.

An der humanitären Krise in seinem Land werde sich weder durch Wahlen noch durch die Polizei etwas ändern lassen, »solange wir eine korrupte Führungselite und eine mitschuldige internationale Gemeinschaft tolerieren«, konstatierte der Autor Kervens Louissaint in einem offenen Brief an den seit 11. November amtierenden Premierminister Alix Didier Fils-Aimé. »Sie betonen den Kampf gegen bewaffnete Banden und die Stärkung der Sicherheitskräfte. Aber wie wollen Sie das in einem Staat erreichen, in dem Gewalt systemisch ist?« Louissaint warnte vor der Illusion, die Gewalt allein durch militärische Operationen eindämmen zu können, »ohne die Gründe für ihre Existenz zu verstehen«. Ohne »präventive Strategien, die wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen, den Zugang zu Bildung verbessern und ein starkes soziales Gefüge aufbauen«, werde jede »Krieg-gegen-die-Banden-Strategie« scheitern. Da Haiti seit Jahrzehnten Spielball ausländischer Regierungen und mächtiger Interessengruppen sei, die keinerlei Interesse an einer Veränderung hätten, könne die Nachverfolgung der Finanzströme, die kriminelle Aktivitäten ermöglichen, eine weit größere Wirksamkeit entfalten als die sporadischen bewaffneten Interventionen.

Hintergrund: Krise in Zahlen

Mit einem Hilferuf wandte sich Leslie Voltaire, der Vorsitzende des Präsidialen Übergangsrates, am 14. Dezember in einer Videobotschaft an die zehn Mitgliedsländer der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völker (Alba-TCP). »Wir rufen unsere Brüder von Alba auf, uns bei der Sicherheit und bei der Nahrungsmittelversorgung zu helfen, denn sechs Millionen Haitianer leiden jetzt in der Weihnachtszeit an Hunger«, appellierte er an die in Caracas beim Gipfeltreffen des Bündnisses versammelten Staats- und Regierungschefs.

Ein zwei Tage später in Port-au-Prince vorgestellter Bericht über die Folgen der Sicherheitskrise in Haiti, der zwischen Juli und Oktober vom Finanzministerium in Zusammenarbeit mit Vertretern der Vereinten Nationen, der EU, der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank erstellt worden war, kommt zu einer dramatischen Einschätzung. Danach ist der Anteil der in dem rund 11,7 Millionen Einwohner zählenden Land in extremer Armut lebenden Personen von 29,9 Prozent im Jahr 2020 auf 36,4 Prozent in diesem Jahr gestiegen. Von August bis September erhöhte sich die Zahl der Menschen in akuter Ernährungsunsicherheit um 600.000 auf nunmehr rund fünf Millionen. Die Zahl der Binnenvertriebenen stieg gegenüber Juni um 22 Prozent und erreicht rund 703.000.

»Die Gewalt hat zur Aufgabe ganzer Viertel geführt, das Angebot an Wohnraum verringert und die Mieten um bis zu 200 Prozent steigen lassen«, stellt der Bericht fest. Mittlerweile seien mehr als die Hälfte der Anlagen zur Trinkwasserversorgung sowie sechs Umspannwerke und 20 Stromleitungen im Großraum Port-au-Prince beschädigt, wo knapp drei Millionen Menschen, meist in ärmlichen Verhältnissen in Slums an den Hängen rund um die Hauptstadt leben. Zugleich sind derzeit von 93 untersuchten Gesundheitseinrichtungen 18 Prozent nicht und 42 Prozent nur noch teilweise funktionsfähig.

Laut dem Bericht benötigt das Land für die Beseitigung der zwischen 2021 und 2024 eingetretenen Schäden und Verluste bis Ende 2026 mindestens 1,34 Milliarden US-Dollar. Für den Zeitraum von 2026 bis 2030 wird mit einem weiteren Investitionsbedarf in Höhe von 2,3 Milliarden Dollar und mehr gerechnet. Aus eigener Kraft ist das angesichts des erheblichen Rückgangs wirtschaftlicher Aktivitäten, bedingt durch Plünderungen und Transportunterbrechungen, nicht zu schaffen. Das Produktionsniveau lag zum Jahresende 39 Prozent unter dem prognostizierten Wert für 2024 (gemessen an den Erwartungen aus dem Jahr 2018), was einem Verlust von 9,7 Milliarden Dollar entspricht. (vh)

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