»Den Armeniern droht ein neuer Genozid«
Interview: Annuschka EckhardtWeltweit freuen sich viele Syrerinnen und Syrer über Assads Sturz Anfang Dezember – doch was bedeutet das für die Armenier in Nordostyrien?
Die Menschen sind über den Sturz von Assad und seinem Gefolge froh, weil sie während seiner Herrschaft viel Bitterkeit erleiden mussten. Aber wir Armenier haben große Angst vor den Fraktionen, die nun begonnen haben, die Macht in großen Teilen Syriens zu übernehmen. Ihre Drohungen und die Kampfansagen des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien könnten zu einem neuen Völkermord am armenischen Volk führen. Bekanntlich mussten wir Armenier schon 1915 einen Genozid erleiden. Tausende Armenier konnten sich damals retten, aber ihren Nachfahren droht ein neuer Genozid. Und nicht nur wir Armenier – auch andere Bevölkerungsgruppen sind bedroht. Wir fordern alle Staaten auf, diese Gruppen in Nord- und Ostsyrien und in ganz Syrien zu schützen. In Hama, Tartus und dem Rest der Region hat Haiat Tahrir Al-Scham zahlreiche Menschenrechtsverstöße begangen, und wir haben große Angst vor dem türkischen Staat und seinen Söldnern in Nordsyrien.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) und deren Vorgängerin, der Al-Nusra Front gemacht?
Da sind vor allem die Erfahrungen, die wir mit Jabhat al-Nusra von 2013 bis 2015 gemacht haben. Diese Gruppierung ermordete Menschen in Syrien aufgrund ihrer Identität, Ethnie und Religion. Sie sind selbst der sogenannte Islamische Staat, IS, der mordete und wütete – nur die Kleidung wurde gewechselt.
Wie geht es den Armeniern in den Gebieten, die jetzt unter HTS-Kontrolle sind?
Sie leiden unter religiöser Diskriminierung und Rassismus. Viele syrische Kirchen wurde verwüstet. Die Zerstörung ihrer religiösen Symbole und Kulturgüter hat begonnen, und wir machen uns große Sorgen um die Armenier in Aleppo, Maaloula und den übrigen Regionen.
HTS bemüht sich um internationale Anerkennung und behaupten, religiöse und ethnische Minderheiten schützen zu wollen. Wie glaubhaft ist das?
Was das Befreiungskomitee von Syrien anstrebt, ist internationale Anerkennung. Was sie verkünden, sind nur Worte und Gerüchte, ihre Grundlage ist extremistisch. Sie akzeptieren keine anderen Religionen, Kulturen oder Ethnien. Was sie sagen, dient nur dazu, ihren Namen von der Liste der »Terroristischen Gruppen« zu streichen. Wir glauben nicht, was sie über den Schutz von Minderheiten behaupten. Dass sie lügen, belegen die vielen Verstöße, bevor sie anerkannt wurden.
Werden jetzt Armenier aus dem Exil nach Syrien zurückkehren?
Gegenwärtig werden die Armenier nicht nach Syrien zurückkehren, weil es nichts Verlässliches gibt, keinen Schutz vor Pogromen. Sie kennen die Bitterkeit während der Zeit der Assad-Regierung. Das, was sie unter der Nusra-Front erleben mussten, ist ins Gedächtnis eingebrannt. Es gibt kein Gesetz, das sie vor diesen Extremisten schützt.
Wofür kämpft das armenische Bataillon in Nordsyrien als Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK)?
Das armenische Bataillon kämpft für den Schutz des armenischen Volkes, für den Schutz der Minderheiten und für den Schutz der Region, die es seit Ausbruch des Syrienkrieges gesichert hat.
Sind die US-Amerikaner denn ein verlässlicher Partner?
Wir können dem amerikanischen Staat nicht vertrauen, weil er die Kämpfer und ihre Partner, die den IS besiegt haben, im Stich gelassen und die Gebiete Ras al-Ain und Gire Spi an den türkischen Staat übergeben hat. In diesen Gebieten leben viele Armenier, die erneut vertrieben wurden. Wir können nur hoffen, dass der amerikanische Staat uns schützen und den SDK als seinem Partner im Kampf gegen die dschihadistischen Gruppen helfen wird. Denn was die Syrischen Demokratischen Kräfte getan haben, wird keine andere Kraft tun können. Sie haben den IS besiegt und ihre Gebiete und das armenische Volk geschützt.
Imad Tatarian ist Generalberater der Armenischen Räte in Nord- und Ostsyrien
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