Aufarbeitung Fehlanzeige
Von Ursula TrüperSo steht es in den Reiseführern: »deutscheste Stadt südlich des Äquators«, »Ostseebad in Afrika« usw. Swakopmund ist eine Kleinstadt in Namibia, am Atlantik gelegen, mit ungefähr 76.000 Einwohnern. In der Tat sieht Swakopmund ein bisschen aus wie Travemünde oder Heringsdorf, samt Seebrücke und Leuchtturm. Und dann die vielen Jugendstilgebäude. Die deutsche Kolonialzeit war ja auch eine Hochzeit des Jugendstils, und in Swakopmund war genügend Geld vorhanden, um aufwendige Gebäude zu errichten, beispielsweise die Anlage um den Woermann-Turm.
Beeindruckend auch die Promenade am Strand, von Palmen und allerlei Blumen gesäumt, jeden Tag gegossen im wasserarmen Swakopmund. Zu Apartheidzeiten, so wurde mir erzählt, sogar mit Trinkwasser. Das ist inzwischen verboten. Es darf nur noch Brauchwasser verwendet werden, so dass über der Promenade neuerdings stets ein zarter Hauch von Fäkalien liegt. Swakopmund ist eine Fußgängerstadt, man kann dort – anders als in der absolut autogerechten Hauptstadt Windhoek – durch die äußerst sauberen Straßen flanieren, Souvenirs einkaufen für die Lieben daheim, im lokalen Buchladen Kaffee trinken, Schwarzwälder Kirschtorte essen, Zeitung lesen. Und man spricht überall Deutsch. Für Weiße ist Swakopmund ein Ferienparadies, das jedes Jahr viele Touristen anzieht. Auch viele Deutschnamibier haben Swakopmund zu ihrem Altersruhesitz gewählt. Fünf Prozent der Swakopmunder sind deutschsprachig (im Landesdurchschnitt nur 0,68 Prozent).¹
Wem es langweilig wird, der kann das nette altmodische Swakopmund-Museum besuchen, direkt am Strand gelegen. Es dokumentiert liebevoll die Freuden und Leiden der ersten deutschen Siedler im heutigen Namibia. Aber wie war das in der deutschen Kolonialzeit? Wie war das mit dem Völkermord an den Nama und Herero 1904 bis 1908? Davon ist nichts im Swakopmund-Museum zu finden. Und auch sonst sucht man vergeblich im Stadtbild nach irgendwelchen Hinweisen auf diesen Teil der namibisch-deutschen Geschichte.
Rassentrennung bis in den Tod
Namibia war von 1884 bis 1914 eine deutsche Kolonie, im Anschluss wurde es lange vom Weißen² Apartheidregime in Südafrika verwaltet. Apartheid, das hieß strenge »Rassentrennung« von Schwarzen und Weißen. Überall. Im Geschichtsbild. In den Wohngebieten. In den Schulen. Die Apartheid ist wohl in keiner namibischen Stadt noch immer so gegenwärtig wie in Swakopmund.
Sogar nach dem Tod. Das kann man anschaulich am Friedhof von Swakopmund studieren. Der liegt etwas außerhalb der Innenstadt. Nur wenige Touristen verirren sich hierher. Gleich, wenn man das Gelände betritt, springt der Kontrast ins Auge: Da die Gräber der Weißen, Grabsteine in wilhelminischem Prunk. Dann die Gräber der jüdischen Gemeinde, ebenfalls sorgsam gepflegt. Die Wege sind ordentlich geharkt. Es wachsen Bäume und Blumen, die von den städtischen Friedhofsarbeitern täglich gegossen werden. Dann kommen die Gräber der Schwarzen. Ein riesiges Sandfeld mit flachen Hügeln, unmarkiert. Früher war der »Eingeborenenfriedhof«, wie man damals sagte, nicht einmal eingezäunt. Autos und Quads brausten über die Gräber.
Inzwischen gibt es immerhin eine Mauer, die alle drei Friedhofsteile umfasst. Seit 2007 steht auf dem Friedhof auch ein ungefähr zwei Meter hoher schwarzer Gedenkstein mit der Inschrift: »Zu Ehren und im liebenden Gedenken an Tausende von Ovaherero und Nama: Männer, Frauen und Kinder, die an dieser heiligen Stätte umgekommen sind. Sie starben in den Konzentrationslagern an Hunger, Sklavenarbeit, sexuellem Missbrauch, Krankheiten, Müdigkeit und widrigen Wetterbedingungen in der Gewalt deutscher Soldaten. Ihre Überreste wurden von Mitgefangenen in flachen Gräbern begraben. Unser angestammtes Land und das Streben nach Gerechtigkeit bleiben für immer die Inspiration für unseren Kampf, heute, morgen und für immer.« Dieser Stein ist nicht etwa von der Stadtverwaltung aufgestellt worden, sondern von Aktivisten.
Es gab mehrere Konzentrationslager in Swakopmund, über die ganze Stadt verstreut.³ Das vom Gouvernement eingerichtete Hauptlager wurde »Gefangenenkraal« genannt. In der Nähe des Bahnhofs, neben dem Viehkraal für die Zugochsen, mit Stacheldraht umzäunt und von Schutztrupplern bewacht, waren hier durchschnittlich bis zu 1.500 Gefangene zusammengepfercht. Auch Kinder. Außerdem gab es einige kleinere Nebenlager. Jeder Weiße Bewohner von Swakopmund bekam mit, was in diesen Lagern geschah. Man hielt es nicht für notwendig, dies zu verheimlichen. Sogar Postkarten wurden von den Lagern gedruckt.
Hunger und Zwangsarbeit
Die Haftbedingungen waren für die eingesperrten Menschen – fast ausschließlich Ovaherero – verheerend. Vor allem in den nasskalten Wintermonaten boten die primitiven Unterkünfte keinerlei Schutz vor der Kälte. Es gibt schriftliche Dokumente von Zeitzeugen, Missionaren der Rheinischen Mission, die an ihre Vorgesetzten berichteten. Über die »Hafenamtswerft«, ein Nebenlager im Hafengelände, schreibt beispielsweise der Missionar Heinrich Vedder: Die Gefangenen »wurden hinter einem doppelten Stacheldraht, (…) in jämmerlichen, nur aus einfachem Sackleinen und Latten hergestellten Räumen untergebracht, und zwar so, dass in einem einzigen Raum 30–50 Personen ohne Unterschied des Alters und Geschlechts zu bleiben gezwungen waren«.⁴ »Ombepera i koza«, schrien die verzweifelten Gefangenen dem Missionar entgegen. »Die Kälte tötet mich!« Denn die primitiven Behausungen konnten den feuchtkalten Seewind nicht abhalten. Swakopmund liegt am kalten Benguelastrom, die Temperatur sinkt nach Sonnenuntergang auf um die 18 Grad. Die Gefangenen waren diese Kälte nicht gewöhnt, die meisten stammten aus dem Inland, wo die Temperaturen um die 35 Grad betragen. Außerdem waren sie völlig unzureichend gekleidet. Viele trugen lediglich Säcke, die nicht wärmten. Da die deutschen Kolonialbehörden auf die Beschwerden der Missionare nicht reagierten, rief die Rheinische Missionsgesellschaft schließlich in Deutschland zu Kleiderspenden auf.
Hinzu kam die mangelhafte Ernährung. Die Gefangenen starben an Krankheiten wie Skorbut und Tuberkulose. Es gab nur Reis, und zwar, »nach eigener Aussage der Lagerkommandanten, in ungenügender Menge«, der zudem aus »Mangel an Kochtöpfen nur schwer gar zu kochen« war, also halb roh.⁵ Keine Proteine, keine Vitamine. »Reis ohne jegliche Zutaten war nicht genügend, den (…) geschwächten und an die heiße Sonne des Innern gewöhnten Körper die Kälte und ruhelose Anspannung aller Kräfte in der Swakopmunder Gefangenschaft ertragen zu lassen,« so Vedder.⁶
Auch die Vernichtung durch Arbeit, später in den Konzentrationslagern der Nazis in großem Stil durchgeführt, wurde hier bereits erprobt. »Vom frühen Morgen bis zum späten Abend mussten (die Gefangenen, U. T.) am Werktag sowohl als an Sonn- und Feiertagen unter den Knütteln roher Aufseher arbeiten, bis sie zusammenbrachen«, schreibt der Missionar. »Wie Vieh wurden Hunderte zu Tode getrieben und wie Vieh begraben.«⁷
Frauen und Kinder mussten ebenfalls Zwangsarbeit leisten. Beispielsweise im Eisenbahnbau. »Die Frauen mussten Handkarren und Waggons be- und entladen«, schreibt ein Augenzeuge. »Jeweils acht Frauen wurden in Gespanne vor einen Eselskarren gesteckt und mussten diesen wie Zugochsen ziehen. Viele waren halb verhungert und schwach und starben wegen völliger Erschöpfung. Diejenigen, die nicht gut arbeiteten, wurden brutal mit dem Sjambok ausgepeitscht.«⁸ Darüber hinaus waren die Frauen den sexuellen Übergriffen durch ihre Bewacher ausgesetzt, die sie nicht nur vergewaltigten, sondern ihnen auch Geschlechtskrankheiten anhängten.
50 Tote pro Woche
Ungefähr 50 Gefangene starben jede Woche in den Konzentrationslagern von Swakopmund, nahezu jeder zweite. In einer regierungsamtlichen »Zusammenstellung über die Sterblichkeit in den Kriegsgefangenenlagern in Deutsch-Südwestafrika« heißt es: »Nach den eingegangenen, den Zeitraum vom Oktober 1904 bis März 1907 umfassenden Berichten sind insgesamt von etwa 15.000 Köpfe betragenden Hereros und den etwa 2.000 Köpfe starken Hottentotten⁹ 7.682, also 45,2 Prozent der gesamten Gefangenen gestorben.«¹⁰
Eine regelmäßige Einnahmequelle für das Kolonialgouvernement war die »Vermietung« von KZ-Insassen an Firmen und Privathaushalte. Die Firma Woermann beispielsweise, heute im Besitz der größten Supermarktkette Namibias, die passenderweise mit dem Slogan »Making your live easier since 1894« wirbt, betrieb ein eigenes KZ auf ihrem Firmengelände. Zehn Mark pro Monat kostete die Arbeitskraft eines oder einer Gefangenen. Für Arbeiter, die nur auf Tagesbasis arbeiteten, waren 50 Pfennige zu zahlen. Von der Firma Woermann ist ein Brief an den Missionar Vedder überliefert: »Da gestern schon wieder ein Teil unserer Hereros fortgelaufen sind, nachdem sie am Tage vorher bei Ihnen im Gottesdienste waren, so haben wir Veranlassung genommen, unseren Hereros in Zukunft keine Erlaubnis zum Besuche des Gottesdienstes zu geben, da wir inzwischen die Überzeugung gewonnen haben, dass die Hereros die Zusammenkünfte lediglich zur Besprechung von Fluchtplänen benutzen.«¹¹
In der Tat schafften es immer wieder einzelne Gefangene, ins nahegelegene und von Großbritannien regierte Walvis Bay zu entkommen. Doch sicher nicht, weil die Missionare sie unterstützt hätten. Ja, die Mission versuchte, mit Kleiderspenden Leben zu retten. Und ja, die Missionare beschwerten sich bei den zuständigen Stellen über die mangelhafte Ernährung der Gefangenen. Aber mehr taten sie nicht. Die allermeisten von ihnen befürworteten grundsätzlich, dass ihr Missionsgebiet nunmehr eine deutsche Kolonie geworden war. Dass sich Nama und Ovaherero gegen die deutsche Kolonialmacht erhoben hatten, betrachteten sie als sündhafte Anmaßung, die die Deutschen zu Recht bestraften – wenn sie auch die Strafe für zu hart erachteten.
Auch nach dem Tod gönnte man den Gefangenen keine Ruhe. Oft wurden ihre Köpfe abgetrennt und nach Deutschland an wissenschaftliche Institute gesandt, die damit zweifelhafte rassistische Experimente durchführten.
Von all dem ist nichts in der hübschen Innenstadt von Swakopmund zu sehen. Keine Hinweistafel. Nichts.
Dem versucht Bernd Heyl etwas entgegenzusetzen. Er engagiert sich als Reiseleiter für einen kritischen Umgang mit der namibisch-deutschen Vergangenheit. Seit vielen Jahren organisiert er Studienreisen nach Namibia und hat einen postkolonialen Reiseführer zur deutschen Kolonialgeschichte verfasst.¹² Er habe das Buch geschrieben, »damit es neben all den anderen Büchern im Regal steht«, nämlich den »reaktionären, den Kolonialismus verherrlichenden Büchern« in den Buchläden von Swakopmund. Heyl spricht von einer »kolonialen Amnesie«.
Das einzige Museum
Szenenwechsel: Mondesa. Dieser Stadtteil ist ungefähr sieben Kilometer von der Weißen Innenstadt entfernt, ein Weg, den die vielen Schwarzen Arbeiter und Angestellten jeden Tag zweimal zu Fuß oder mit dem Taxi zurücklegen müssen. Er grenzt an das lokale Industriegebiet und ist ansonsten von der Namib-Wüste umgeben. Zur Zeit der Apartheid war Mondesa die Schwarze Township von Swakopmund. Es ist auch heute noch der ärmste Stadtteil. Und der am schnellsten wachsende. Seine Einwohnerzahl wird auf 70 Prozent der Gesamteinwohnerzahl von Swakopmund geschätzt.¹³ Mondesa besteht aus kleinen, aus Ziegelsteinen erbauten Zwei-Zimmer-Häuschen, die die Apartheidverwaltung damals für ausreichend für Schwarze hielt und in denen auch heute noch ganze Familien leben. Immerhin gibt es Strom und fließend Wasser. Anders als in den daneben stehenden informell erbauten Hütten aus Wellblech und Plastikplanen. Die Straßen sind nicht asphaltiert, und der Staub setzt sich überall ab. Ganz in der Nähe von Mondesa ist eine neue Township-Gemeinde entstanden, die DRC (Democratic Resettlement Community), auch Matutura genannt. Hier kommen die vielen neuen Bewohner der Township unter, die jährlich nach Swakopmund strömen, um dort Arbeit zu suchen. Ein Gebiet, geprägt von Holz- und Papphütten ohne Strom und Wasser.
Hier betreibt der Künstler und Aktivist Laidlaw Peringanda, ein großer, breitschultriger Mann Ende vierzig, das Swakopmund Genocide Museum. Peringanda bewohnt eines der kleinen Zwei-Zimmer-Ziegelhäuschen. Daran hat er einen Raum von drei mal vier Metern angebaut. Dort befindet sich das einzige Museum in Namibia, das sich mit der Geschichte des deutschen Völkermords beschäftigt. Im Innenraum hat Peringanda verstörende Bilder aus der Kolonialzeit aufgehängt, die er aus Büchern kopiert hat. Zum Skelett abgemagerte Männer und Frauen aus den Konzentrationslagern. Kinder mit dicken Hungerbäuchen. Frauen, die schwerste Lasten schleppen. Männer, die beim Eisenbahnbau schuften. Am schrecklichsten: abgetrennte Köpfe von Afrikanern, die nach Deutschland geschickt wurden, um an ihnen rassistische Forschungen durchzuführen. Wer sich mit Kolonialgeschichte beschäftigt, kennt all diese Bilder. Aber so dicht nebeneinander sind sie nur schwer zu ertragen.
Zu den Konzentrationslagern in Swakopmund hat Peringanda eine persönliche Beziehung. Seine Urgroßmutter wurde in einem von ihnen gefangengehalten. Doch sie konnte entkommen. Zehn Jahre alt war er, als sie ihm davon erzählte. »Diese Geschichten haben mich traumatisiert«, sagt er. »Manchmal wache ich nachts auf, weil ich davon geträumt habe.«
Seit 2018 organisiert Peringanda gemeinsam mit anderen Aktivisten jährliche Instandsetzungsarbeiten auf dem Swakopmunder Friedhof, denn die Stadtverwaltung kümmert sich nicht um die Gräber. »Wir begannen mit den Aufräumarbeiten, denn dort befindet sich eines der größten Massengräber aus der Kolonialzeit in Namibia.«¹⁴ Die Afrikaner, die dort beerdigt sind, wurden damals eilfertig in flachen Gräbern verscharrt, oft ohne Särge. Immer wieder stoßen Peringanda und seine Helfer bei ihren Arbeiten auf menschliche Überreste, die der Wüstenwind freigelegt hat. Als ihm das das erste Mal passierte, so erzählt er, sei er in Ohnmacht gefallen. Es sei zwar schockierend, die Gebeine von Menschen so einfach zu finden, es sei aber auch befriedigend, ihnen nun ein würdiges Begräbnis zu geben und sicherzustellen, dass ihre Gräber gekennzeichnet sind. »Es ist wichtig, den Opfern Respekt zu erweisen«, sagt er. »Sie sind unsere Vorfahren.« Was ihn freut: Unter den Helfern gibt es immer wieder junge Leute mit deutschen Wurzeln. Das Verhalten dieser jungen Frauen und Männer mache ihm Hoffnung.
Villen auf Gräbern
Das Problem seien die älteren Deutschnamibier, die in ihrem kolonialistischen Weltbild gefangen sind. Noch heute werde ihm als Schwarzem der Zugang zu manchen Restaurants verwehrt. Doch oftmals geht es auch um ganz handfeste materielle Interessen. Während der Apartheid wurden auf einem Teil des Schwarzen Friedhofs Häuser erbaut. Noch 2015 hat die deutschsprachige Community Swakopmunds die Stadtverwaltung in einem Brief aufgefordert, weitere Gräber auf dem Schwarzen Friedhof einzuebnen, um sie zu bebauen.
Peringanda arbeitet zusammen mit der Londoner Agentur »Forensic Architecture«.¹⁵ Diese Agentur hat es sich zur Aufgabe gemacht, neue Techniken zu entwickeln, um Menschenrechtsverletzungen aufzuklären. Auch solche, die über hundert Jahre zurückliegen. »Forensic Architecture« beschäftigt sich intensiv mit Menschenrechtsverletzungen, unter anderem mit dem Israel-Palästina-Konflikt, und seit neuerem eben auch mit den KZ in Swakopmund. Eine wichtige Quelle für »Forensic Architecture« ist dabei die Oral History.
Noch immer ist die Erinnerung an den Völkermord in vielen namibischen Gemeinschaften präsent und wird dort über Generationen weitergegeben. Wissenschaftler von »Forensic Architecture« konnten beweisen, dass sich unter mehreren Swakopmunder Villen direkt an der Friedhofsmauer Gräber von KZ-Opfern befinden. Ein anderes Grundstück, wo sie ebenfalls Gräber entdeckt haben, befindet sich außerhalb der Friedhofsmauer und ist durch nichts vor einer künftigen Bebauung geschützt. Peringanda und seine Mitstreiter fordern, dass der Schwarze Friedhof in eine nationale Gedenkstätte umgewandelt wird.
Der Völkermord geschah damals nicht in erster Linie aus Rachsucht oder Herrenmenschentum, sein Ziel war vor allem, sich den Reichtum der Nama und Ovaherero anzueignen. Peringanda erzählt, dass seine Familie vor der deutschen Kolonialzeit sehr wohlhabend war und Tausende Rinder besaß. Nach dem Völkermord wurde ihnen ihr Vieh und Land weggenommen. Er kennt die Familie, die heute auf diesem Land wohnt. Sie behauptet, es legal erworben zu haben. »Da heißt es dann, es gebe keine Beweise, dass wir das Land besessen haben. Dabei habe ich Beweise.«¹⁶
Oft wird argumentiert, die »Ureinwohner Namibias« hätten das Land nicht als ihren eigenen Besitz gesehen, sondern als etwas, das allen gehört, von daher sei eine Entschädigung nicht möglich. Das ist Unsinn. Ja, es gab keinen Privatbesitz an Grund und Boden bei den Nama und Ovaherero. Aber Rinderherden waren sehr wohl Privateigentum. Und was das Land anging, so wussten alle, welche Nama- oder Ovaherero-Gemeinschaft welches Land nutzte. Es gibt sogar Karten aus der Kolonialzeit, wo genau festgehalten ist, welche »Stämme« wo lebten. Das Land, dessen Bewohner die deutschen Schutztruppen während des namibisch-deutschen Krieges verjagten oder ermordeten, und das Vieh, das sie wegtrieben, ging zunächst an die deutsche Regierung, die beides – Vieh und Land – an interessierte Weiße Siedler weiterverkaufte. Diese Vorgänge sind akribisch dokumentiert worden und können in den entsprechenden Archiven leicht nachgesehen werden.
Bis heute ist ein Großteil des Grundbesitzes, etwa 70 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Farmlandes, im Besitz Weißer Landwirte. Nicht wenige von ihnen sind Nachkommen der deutschen Siedler. Sie profitieren also noch heute von der gewaltsamen Vertreibung der Nama und Ovaherero. »Wir wollen unser Land zurück«, sagt Peringanda. »Die deutsche Regierung muss das Land kaufen und uns zurückgeben. Wir wollen nicht die Nachkommen der Weißen Siedler nach Deutschland zurückschicken. Sie sind hier geboren. Sie sind Namibier. Aber wir wollen nicht, dass 0,3 Prozent der Namibier 70 Prozent des Landes besitzen.« Statt dessen: »Sharing the land«, gemeinsame Nutzung des Landes. Von Schwarzen und Weißen.
Schmerzensgeld
Heute ist Namibia eines der Länder mit der ungleichsten Vermögensverteilung weltweit. Nur in Südafrika ist die Gesellschaft noch ungleicher. Daher sprechen sich die Nachkommen der Opfer des Völkermordes auch gegen das »Versöhnungsabkommen« von 2021 mit der Bundesregierung aus. Diesem zufolge soll Namibia 1,1 Milliarden Euro »Wiederaufbauhilfe« erhalten, verteilt auf 30 Jahre. Dies ist kaum mehr, als Deutschland bisher jährlich an Entwicklungshilfe an Namibia zahlt.
Die Nachkommen der Opfer sind bei der Aushandlung dieses Deals nicht einbezogen worden. Deshalb weigern sie sich, das Geld anzunehmen. Sie betrachten es als Schweigegeld, das der deutsche Staat an die namibische Regierung zahlt, damit über den Völkermord nicht mehr gesprochen wird. Statt dessen fordern sie – neben einer uneingeschränkten Entschuldigung durch die Bundesrepublik, die bislang lediglich von »einem Genozid aus heutiger Perspektive«¹⁷ spricht – Reparationen, wie das etwa bei jüdischen Holocaustopfern selbstverständlich ist. »Die deutsche Regierung muss Reparationen zahlen«, so Peringanda, »damit wir die Armut hinter uns lassen können, die ein Ergebnis des Genozids ist.«
Anmerkungen:
1 Vgl. Bernd Heyl: Namibische Gedenk- und Erinnerungsorte. Postkolonialer Reisebegleiter in die deutsche Kolonialgeschichte, Frankfurt/M. 2021, S. 163
2 Um anzudeuten, dass die Bezeichnungen für Hautfarben »Schwarz« und »Weiß« keine biologischen Tatsachen, sondern politisch-kulturelle Zuschreibungen sind, schreibe ich im folgenden die entsprechenden Adjektive groß.
3 Vgl. Joachim Zeller: »Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich«. Zur Geschichte des Konzentrationslagers Swakopmund (1904–1908). In: Jürgen Zimmerer/Joachim Zeller (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) und seine Folgen. Berlin 2003, S. 64–79
4 Zit. n. ebd.
5 Ebd., S. 67
6 Ebd.
7 Zit. n. ebd.
8 Zit. n. ebd., S. 70. »Sjambok« ist eine Peitsche aus Flusspferdhaut, die besonders brutale Verletzungen verursacht.
9 Abwertender Ausdruck für das Volk der Nama.
10 Zit. n. Horst Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, Berlin 1966, S. 213
11 Zit. n. Zeller (Anm. 3), S. 74
12 Vgl. Heyl (Anm. 1)
13 de.wikipedia.org/wiki/mondesa
14 minorityafrica.org/they-died-for-us-the-people-tending-to-the-graves-of-namibias-colonial-genocide-victims. Neben den Toten aus den Konzentrationslagern liegen auf dem Schwarzen Friedhof Swakopmund auch an Kälte, Typhus und Skorbut gestorbene Vertragsarbeiter wie Ovambo aus Nordnamibia und Damara aus Zentralnamibia sowie Männer aus den britischen Kolonien in West- und Südafrika. 1918/19 kamen mehrere hundert Opfer der Spanischen Grippe hinzu. Allen gemeinsam ist, dass sie afrikanische Zwangsarbeiter für die Siedlerkolonie Deutsch-Südwestafrika waren.
15 forensic-architecture.org/location/namibia. Derzeit reist Laidlaw Peringanda durch die Bundesrepublik, um den Film, den »Forensic Architecture« gedreht hat, zu präsentieren.
16 www.medico.de/blog/nicht-vergessen-19846
17 So in einer Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages. Zur Anerkennung kolonialen Unrechts als Völkermord, WD 2-3000-094/22, 9. Januar 2023. Tatsächlich wird die Bundesregierung in dieser Frage von den anderen ehemaligen Kolonialmächten mit Argusaugen betrachtet. Würde sie uneingeschränkt von einem Völkermord sprechen und Reparationen an die Opfer zahlen, würde das einen Präzedenzfall für alle ehemaligen Kolonien weltweit schaffen.
Teil 1 der Serie »Namibia gestern und heute« erschien in der jW vom 23. Dezember.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (24. Dezember 2024 um 14:47 Uhr)Diese Artikelserie ist – das kann man jetzt schon sagen – außerordentlich berührend. Sie hebt einen genügend großen Teil des Teppichs hoch, unter den die Wahrheit über die finsteren Seiten der deutschen Geschichte heute immer wieder gekehrt wird. Es tut gut, sich des riesigen Müllhaufens bewusst zu sein, der dort schlummert. Auch um besser verstehen zu können, dass der heutige Reichtum Deutschlands durchaus nicht nur dem Fleiß seiner Einwohner geschuldet ist. Blut, Schweiß und Tränen anderer Völker haben sich nicht nur im 18. und 19. Jahrhundert auf dem Wege nach Norden in den Wohlstand der westlichen Welt verwandelt. Sie tun das auch heute noch in einem Maße, dessen man sich nur schämen kann. Was Wunder, dass die offizielle Politik und ihre Geschichtsschreibung darüber gern den Mantel des Schweigens decken. Von ihnen wird man nichts entsprechendes erfahren. Wie gut, dass es euch gibt!
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