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Aus: Ausgabe vom 28.12.2024, Seite 12 / Thema
Ostafrika

Der »vergessene« Krieg

Im Sudan kämpfen die RSF-Miliz und die Streitkräfte um die Macht im Land. Millionen Menschen sind auf der Flucht
Von Jörg Kronauer
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Die Hälfte der Bevölkerung des Sudans hat keinen sicheren Zugang zu Nahrung. 4,7 Millionen Kinder und schwangere oder stillende Frauen sind akut unterernährt; 1,7 Millionen Menschen leben in oder am Rand einer Hungersnot (Bahri, Sudan, 13.5.2023)

Am 22. November traf in Zamzam ein wenig Hoffnung ein. In dem Flüchtlingslager bei Al-Faschir, der Hauptstadt des sudanesischen Bundesstaates Norddarfur, waren, wie eine unabhängige Expertengruppe festgestellt hatte, spätestens seit dem 1. August alle gängigen Kriterien für eine Hungersnot erfüllt. Bis zu einer halben Million Menschen, die der Bürgerkrieg im Sudan in die Flucht getrieben hat, leben dort. Von den 29.000 Kindern unter fünf Jahren, die Hilfsorganisationen Anfang September in dem Lager untersucht hatten, litten etwa zehn Prozent an lebensbedrohlicher Unterernährung, weitere 35 Prozent an akuter Unterernährung. Seit die Hungersnot offiziell diagnostiziert worden war, waren über Monate hin keine Hilfslieferungen mehr in Zamzam angekommen, weil entweder die Bürgerkriegsparteien dies verhinderten oder weil die Wege aufgrund von Überschwemmungen unpassierbar geworden waren. Nun aber war es endlich soweit: Ein Hilfskonvoi des UN-Welternährungsprogramms (WFP), der über 400 Kilometer westlich in Tschads Grenzstadt Adré aufgebrochen war, kam in Zamzam an. Er brachte Nahrung und Medikamente.

Weitgehend ignoriert

Der Bürgerkrieg im Sudan, der seit dem 15. April 2023 tobt, ist einer der brutalsten Kriege der Gegenwart. Wie viele Menschen ihm bisher zum Opfer fielen, ist nicht genau bekannt. Als sicher gilt, dass die Zahl von etwas mehr als 20.000 Toten, die zuverlässig dokumentiert sind, viel zu niedrig ist. Eine Untersuchung, die an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM) erstellt wurde, kam im November zu dem Schluss, allein im Bundesstaat Khartum seien mindestens 26.000 Menschen gewaltsam zu Tode gekommen; die Zahl im gesamten Land müsse deshalb erheblich höher liegen. Der US-Sondergesandte für den Sudan, Tom Perriello, ging schon im Mai davon aus, man habe mutmaßlich bis zu 150.000 Todesopfer zu beklagen. Laut Schätzung der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR sind bis Oktober 11,3 Millionen Menschen geflüchtet, rund drei Millionen davon ins Ausland, andere in sudanesische Lager wie Zamzam. Etwa die Hälfte der Bevölkerung von rund 50 Millionen Menschen hat laut dem WFP keinen sicheren Zugang zu Nahrung; 4,7 Millionen Kinder und schwangere oder stillende Frauen sind akut unterernährt; 1,7 Millionen Menschen leben in oder am Rand einer Hungersnot. Kriegsverbrechen sind bei allen Kriegsparteien an der Tagesordnung. Manche sprechen von der größten humanitären Katastrophe weltweit.

Den sudanesischen Bürgerkrieg nennen Menschenrechts- und Hilfsorganisationen wegen seiner verheerenden Ausmaße und Folgen zuweilen in einem Atemzug mit dem Gazakrieg – aus gutem Grund. Und dennoch – im Westen, in Europa, auch in Deutschland wird er weithin ignoriert. Was Politik und Leitmedien anbelangt, liegt dies wohl daran, dass sich mit ihm gegenwärtig keine bedeutenden deutschen oder allgemein westlichen Interessen verbinden; darin ähnelt er dem Konflikt im Ostkongo, einem weiteren »vergessenen« Krieg. Das war vollkommen anders bei dem Bürgerkrieg, der vor ziemlich genau zwei Jahrzehnten im westsudanesischen Darfur tobte; dieser war in aller Munde. Politisch leicht erklärlich, ist das hartnäckige Beschweigen des heutigen Bürgerkriegs im Sudan der Sache nach um so zynischer, als es auffällige strukturelle Parallelen zwischen beiden Waffengängen gibt.

Der Bürgerkrieg in Darfur, der Anfang des Jahres 2003 losbrach, hatte komplexe Ursachen. Die schwarzafrikanisch geprägte Region war seit je von den arabischen Eliten aus dem Niltal, die in Khartum das Sagen hatten, geringschätzig betrachtet und vernachlässigt worden. Die zunehmenden Dürreperioden, die die Jahre vor 2003 prägten, verringerten Wasserquellen und Weideflächen und ließen nicht nur Mangel und Armut, sondern auch die traditionellen Spannungen zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern ansteigen. Darüber hinaus nahmen die Konflikte zwischen der schwarzafrikanischen Bevölkerung und arabischen Nomaden, die mit ihren Kamelen durch Darfur zogen, zu; immer häufiger wurde von ernsten Übergriffen der Nomaden berichtet. Zu Jahresbeginn 2003 explodierten die Spannungen; Milizen schwarzafrikanischer Aufständischer griffen staatliche Einrichtungen, darunter Armeestützpunkte, an.

Sudans Regierung beschloss, um die regulären Streitkräfte zu schonen, für den Kampf gegen die Aufständischen in Darfur, irreguläre Milizen zu nutzen, die die arabischen Nomaden in der westsudanesischen Region gebildet hatten; man kannte sie unter dem Namen Dschandschawid. Die Dschandschawid, die schon vor Beginn des Bürgerkriegs 2003 mit Übergriffen auf die schwarzafrikanische Bevölkerung Furcht und Schrecken verbreitet hatten, gingen nun mit brutalster Gewalt vor, mordeten, vergewaltigten, brannten ganze Dörfer nieder. Im Mai 2005 veröffentlichte die School of Public Health an der Université catholique de Louvain eine ausführliche Untersuchung, die die Zahl der Todesopfer in Darfur von September 2003 bis Januar 2005 auf rund 134.000 schätzte. Etwa 35.000 davon seien direkt durch Waffengewalt ums Leben gekommen, die anderen durch unmittelbare Kriegsfolgen wie Hunger und Krankheiten. Die Untersuchung aus Louvain ging in der damaligen Debatte beinahe unter – denn es wurden, basierend auf nicht immer seriösen Schätzungen, in Politik und Medien im Westen längst viel höhere Todeszahlen diskutiert.

Der Grund? Nun, er bestand in politischen Interessen der transatlantischen Welt. Vor allem die Vereinigten Staaten waren damals bestrebt, die arabische Welt mit allen Mitteln auf einen prowestlichen Kurs zu trimmen. Im März 2003 überfiel eine US-geführte Kriegskoalition den Irak, um in Bagdad eine kooperationswillige Regierung ins Amt zu bringen. Zudem wurde der Druck auf andere Staaten erhöht, auf Syrien etwa, aber auch auf den arabisch dominierten Sudan. 2002 war es dort gelungen, den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zwischen Khartum und dem schwarzafrikanischen Süden des Landes einzudämmen; der Westen, Deutschland allen voran, setzte sich für die Abspaltung des Südens ein, um den arabischen Norden zu schwächen. Die mörderischen Kämpfe in Darfur boten die Möglichkeit, Khartum zusätzlich unter Druck zu setzen. Rasch war in der westlichen Politik von einem Genozid die Rede; in Berlin wurde die Entsendung der Bundeswehr diskutiert. Gegen Präsident Omar Al-Baschir ermittelte letztlich sogar der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag.

Partner der EU

Dann geriet Darfur im Westen wieder in Vergessenheit. Die transatlantische Welt fokussierte sich im Sudan bald darauf, die Abspaltung des Südens vorzubereiten, was 2011 in der Tat gelang; für Khartum, das damit den Zugriff auf einen Großteil seiner Erdölfelder verlor, war das ein herber Schlag. Darüber hinaus verschoben sich im Westen die Prioritäten; zunächst absorbierte die globale Finanzkrise die Kräfte, 2011 die Unterstützung der Unruhen in der arabischen Welt, danach der Syrien-Krieg, der Krieg gegen den »Islamischen Staat« (IS) sowie der eskalierende Ukraine-Konflikt. In Darfur gingen das Leben und die regelmäßig neu aufflackernde Gewalt wieder ohne interessierte Beachtung durch den Westen weiter. Damals begann der Aufstieg eines Milizionärs aus den Reihen der Dschandschawid, den man heute kennt, weil er einer der beiden Hauptopponenten im gegenwärtigen Bürgerkrieg ist: Mohammed Hamdan Dagalo, weithin unter seinem Spitznamen Hemedti, »kleiner Mohammed«, bekannt. ­Hemedti, in Darfurs arabischen Milizen in die Position eines Anführers hineingewachsen, gründete im Jahr 2013 aus den Dschandschawid eine neue, straff geführte paramilitärische Truppe: die »Rapid Support Forces« (RSF).

Zunächst dienten die RSF ihre Unterstützung (»Support«) Sudans Regierung unter Al-Baschir an. 2013 beteiligten sie sich etwa an der Niederschlagung von Protesten gegen die Regierung in Khartum; dabei kamen rund 200 Demonstranten ums Leben. Es sei gewissermaßen »das erste Mal« gewesen, dass die Bewohner der Hauptstadt »die Gewalt erlebt« hätten, »denen Darfur und andere Kriegsgebiete seit Jahren ausgesetzt sind«, konstatierte später einmal der Sudan-Experte Jérôme Tubiana. Ein Jahr später tat Hemedti das nächste Geschäftsfeld auf; er stellte die »Unterstützung« durch seine RSF nun in den Dienst von Brüssels »Flüchtlingsabwehr«. Die EU startete im November 2014 ihren sogenannten Khartum-Prozess, in dem sie mit den Staaten des östlichen Afrikas von Ägypten über Eritrea und Äthiopien bis zu Somalia und Kenia kooperierte, um Flüchtlinge aus den ostafrikanischen Krisen- und Kriegsgebieten nicht nach Europa gelangen zu lassen. Eine wichtige Rolle spielte dabei: Sudan – sowohl als Transit- als auch als Herkunftsland von Flüchtlingen. Allein bis Anfang 2018 sollen aus den Töpfen der EU rund 200 Millionen Euro für die »Flüchtlingsabwehr« nach Khartum geflossen sein. Zwar bestreitet Brüssel, den RSF jemals Geld gezahlt zu haben. Man weiß aber, dass Hemedti und die RSF sich an der Jagd auf Flüchtlinge beteiligten. Gratis taten sie das wohl kaum.

Ihre nächste Karrierestufe erkletterten Hemedti und die RSF, als sie sich als Söldner für den Krieg anheuern ließen, den Saudi-Arabien sowie die Vereinigten Arabischen Emirate ab 2015 im Jemen führten. Wie viele Milizionäre die RSF genau dorthin schickten, ist nicht bekannt; Experten gehen fest von einer fünfstelligen Zahl aus. Entscheidend ist jedoch, dass die Milizionäre der RSF im Jemen nicht nur viel mehr Geld verdienen konnten als mit der Niederschlagung von Protesten für Al-Baschir oder mit der Flüchtlingsjagd zugunsten der EU; sie konnten auch Kriegserfahrung sammeln. Sie wuchsen also zu einer militärisch umfassend einsetzbaren Truppe heran. Und was das Geld angeht: Hemedti hatte inzwischen auch anderweitig höchst attraktive Finanzquellen aufgetan. 2017 gelang es ihm, in Norddarfur Goldminen unter seine Kontrolle zu bekommen; Präsident Al-Baschir, der die Dienste der RSF sehr schätzte – auch deshalb, weil die Miliz seine Abhängigkeit von den mächtigen Militärs verringerte –, genehmigte ihm den Goldexport, und Hemedti konnte mit dem Verkauf des Goldes in die Vereinigten Arabischen Emirate seinen Reichtum mehren.

Den Weg direkt zur Macht in Khartum begann sich Hemedti ab dem 11. April 2019 zu bahnen. An jenem Tag mündeten monatelange Massenproteste gegen die Regierung, ausgelöst durch einen dramatischen Anstieg der Lebenshaltungskosten, in Al-Baschirs Sturz, der freilich nur möglich war, weil sowohl die regulären Streitkräfte unter General Abdel Fattah Al-Burhan als auch die RSF unter Hemedti sich gegen Al-Baschir stellten. Zunächst teilten sie sich – jedenfalls offiziell – die Macht mit Zivilisten. Die RSF hatten dies zu verhindern versucht, hatten am 3. Juni 2019 in Khartum ein ziviles Protestcamp überfallen und in Brand gesteckt sowie mindestens 127 Zivilisten umgebracht. Dennoch kam es am 7. August zur Einigung auf eine Übergangsregierung, an der Militärs und Zivilisten beteiligt waren. Am 25. Oktober 2021 rissen die Streitkräfte und die RSF dann aber die alleinige Kontrolle über das Land an sich. Zwar stellten sie für Juli 2023 Wahlen in Aussicht; Ungewissheit darüber blieb allerdings bestehen.

Zwei bewaffnete Machtgruppen

Und das nicht zuletzt deshalb, weil sich ein zentrales Problem nicht lösen ließ: dass der Sudan auf Dauer kaum zwei bewaffnete Machtzentren haben konnte, die Streitkräfte sowie die inzwischen auf 70.000 – nach einigen Schätzungen noch mehr – Kämpfer angewachsenen, kriegserfahrenen RSF. Beide hatten ihre Pfründe. Die Streitkräfte kontrollierten ein Wirtschaftsimperium von mehr als 200 Unternehmen, darunter Handels- und Telekommunikationsfirmen sowie die einflussreiche Omdurman National Bank. Hemedti betrieb neben dem Goldexport inzwischen auch Landgrabbing und hielt ein Viertel der Anteile an der Al-Khaleej Bank, an der übrigens auch Firmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten beteiligt waren. Bei der Rivalität, die sich zwischen den Streitkräften und den RSF herausbildete, ging es jedoch um noch mehr. Streitkräftechef Al-Burhan war im Niltal aufgewachsen, hatte eine klassische Militärlaufbahn absolviert und war Teil von Sudans traditionellen Eliten. Hemedti und die RSF stammten aus Darfur, der verachteten Provinz; Hemedti hatte nahezu keine Schulbildung, sprach Arabisch nur mit dem für Darfur typischen, in Khartum belächelten Akzent. Kamen die RSF in der Hauptstadt an die Macht, dann bedrohten die Neuaufsteiger aus der Provinz ganz prinzipiell die Privilegien der alteingesessenen Eliten. Dieser Konflikt saß – auch, was die ökonomische Dominanz der Eliten angeht – tief.

Angesichts der klaren Erkenntnis, dass auf Dauer zwei militärische Machtzentren kaum nebeneinander bestehen konnten, lief alles auf eine Eingliederung der RSF in die regulären Streitkräfte hinaus. Das Establishment wiederum versuchte, weil diese Entwicklung langfristig seine Entmachtung bedeuten konnte, Hemedti zu verhindern. Die Spannungen zwischen den Streitkräften und den RSF, zwischen Al-Burhan und Hemedti, nahmen zu. Am 12. April 2023 brachten sich erste RSF-Truppen nahe Khartum und in Merowe ganz im Norden des Landes in Stellung; am 15. April begannen heftige Kämpfe, zunächst in Khartum und Merowe, bald auch in weiteren Städten Sudans. Insbesondere in der Hauptstadt verschanzten beide Seiten sich schnell – die RSF, die aus Darfur, aus der Provinz kamen und in Khartum nicht heimisch waren, oft in Privathäusern, deren Bewohner sie vertrieben oder umbrachten, woraufhin die Streitkräfte die Wohngebiete, in denen sie RSF-Stellungen vermuteten, aus der Luft bombardierten. Das ließ die Zahl der zivilen Todesopfer schon in der frühen Phase des Krieges rasant in die Höhe schießen.

Khartum ist bis heute erbittert umkämpft. Die RSF begannen schon kurz nach Kriegsbeginn, Darfur zu erobern – die Region, aus der sie stammen, in die sie sich notfalls zurückziehen können, sollte das Kriegsglück sich gegen sie wenden, und die zudem logistisch wichtig ist, da die RSF über den westlich angrenzenden Tschad Nachschub erhalten. Die regulären Streitkräfte wiederum verlegten den Regierungssitz, weil die Kämpfe in Khartum allzu unübersichtlich wurden, in die Hafenstadt Port Sudan, die für sie darüber hinaus existentielle logistische Bedeutung besitzt. Eine Zeitlang sah es nach einem Patt aus. Im Frühsommer dieses Jahres gelang es den RSF, im Südosten des Landes in die Offensive zu gelangen, während zuletzt die regulären Streitkräfte wieder Fortschritte erzielten, unter anderem in Khartum. Versuche, zu einer diplomatischen Lösung zu gelangen, wurden zuweilen gestartet, scheiterten aber stets.

Dass der Krieg bis heute andauert, dass beide Seiten sich halten können, liegt auch daran, dass sie jeweils von Drittstaaten gestützt werden. Als Unterstützer der regulären Streitkräfte gilt insbesondere Ägypten, das schon vor dem Bürgerkrieg enge Verbindungen zu Sudans Militär unterhielt. In den vergangenen Monaten häuften sich Berichte, Kairo habe sich etwas zurückgezogen und setze mehr auf diplomatische Vermittlungsversuche; letzteres trifft wohl zu, ersteres ist schwer zu überprüfen. Allgemeiner Konsens herrscht dahingehend, dass die RSF vor allem von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt und mit Waffen beliefert werden, was ein Resultat nicht nur der guten Geschäftsbeziehungen zwischen beiden Seiten, sondern auch ein Ergebnis der RSF-Unterstützung für die Emirate im Jemen-Krieg sei. Emiratische Waffenlieferungen an die RSF werden demnach vor allem über Südostlibyen und den Osten des Tschads abgewickelt; dank der Tatsache, dass die RSF weite Teile von Darfur an der Grenze zu Tschad kontrollieren, passt das logistisch gut.

Russlands Rolle

Immer wieder diskutiert worden ist die Rolle Russlands im Bürgerkrieg im Sudan. Klar ist, dass Moskau schon mit Al-Baschir, also vor dessen Sturz am 11. April 2019, über den Plan verhandelte, an der sudanesischen Küste des Roten Meers einen Stützpunkt für seine Marine zu errichten. Mit Al-Baschirs Sturz war die Sache fürs erste passé. Ende 2021 nahm die nun im Sudan herrschende Koalition aus den regulären Streitkräften sowie den RSF das Gespräch darüber mit Russland wieder auf, und im Februar 2023 hieß es dann, man habe sich im Grundsatz auf das Projekt geeinigt; allerdings wolle man die Bildung einer zivilen Regierung abwarten. Ob das halbwegs ernst gemeint oder eine skurril bemäntelte Verschiebung in eine nicht absehbare Zukunft war, ist nicht ganz klar. Bei Kriegsbeginn hieß es immer wieder – auch aus den Reihen der regulären Streitkräfte –, Russland unterstütze über Söldner faktisch die RSF, mit denen »Wagner«-Kämpfer schon vor dem Bürgerkrieg kooperiert hätten. Seit Ende April 2024 der stellvertretende russische Außenminister Michail Bogdanow zu Gesprächen mit Al-Burhan in Port Sudan eintraf, mehren sich jedoch die Zeichen, dass Moskau sich auf die Seite der regulären Streitkräfte geschlagen hat.

Dabei fällt auf – so beschrieb es bereits im Juni 2023 die International Crisis Group (ICG), eine weltweit vernetzte prowestliche Denk­fabrik –, dass sowohl im Sudan als auch in einer ganzen Reihe weiterer Länder nicht mehr der Westen, sondern »vor allem nichtwestliche ›Mittelmächte‹« Einfluss ausüben. Das reflektiere »die globalen Machtverschiebungen«, konstatierte die ICG: »Der Moment unmittelbar nach dem Kalten Krieg, als die USA unübertroffenen Einfluss besaßen«, sei »vorbei«; die Ära der »multipolaren Welt« sei angebrochen.

Zurück von den auswärtigen Unterstützern ins Inland. Sind dort Streitkräfte und RSF die zwei Hauptkontrahenten, so hat sich der Bürgerkrieg längst ausgeweitet und stark zersplittert. Ein Beispiel hat im Februar die Sudan-Expertin Hager Ali vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) aus Hamburg beschrieben; es betrifft die Region Kordofan, die man in Richtung Westen durchqueren muss, wenn man aus Khartum nach Darfur gelangen will. Dort ist schon lange die Rebellenmiliz »Sudan People’s Liberation Movement–North« (SPLM-N) mit ihrem bewaffneten Flügel »Sudan People’s Liberation Army–North« (SPLA-N) aktiv, die sich 2017 in zwei Fraktionen aufspaltete, die SPLM-N Agar, benannt nach ihrem Anführer Malik Agar, und die SPLM-N Al-Hilu, benannt nach ihrem Chef Abdelaziz Al-Hilu. Den regulären Streitkräften gelang es im Frühjahr 2023, die SPLM-N Agar an sich zu binden. Daraufhin suchte die SPLM-N Al-Hilu, sich die Tatsache zunutze zu machen, dass die mit ihr rivalisierende SPLM-N Agar nun gemeinsam mit den regulären Streitkräften gegen die RFS kämpfen musste, also ausgelastet war; es gelang ihr, der SPLM-N Agar Territorien abzujagen. Dass das Land entlang solcher Bruchlinien immer weiter zersplittert, lässt die Hoffnung auf Frieden noch weiter schrumpfen.

Anhaltender Massenmord

Tatsächlich droht sich der Krieg nicht nur elend weiter in die Länge zu ziehen; es drohen auch ganz konkret beispiellose Katastrophen. Die vielleicht schlimmste betrifft Darfur – zu einem Zeitpunkt, nebenbei, zu dem sich der Westen für das Gebiet nicht mehr interessiert, weil er außenpolitisch anderweitig ausgelastet ist. Das ist wohl auch der Grund, wieso im Westen und seinen Leitmedien im Frühjahr 2023 wenig von dem Geschehen in Al-Dschunaina zu erfahren war. Al-Dschunaina ist mit ihren 500.000 Einwohnern die Hauptstadt des sudanesischen Bundesstaates Westdarfur, keine 30 Kilometer von Tschads Grenzstadt Adré gelegen; sie gilt als Hochburg der schwarzafrikanischen Masalit. Die Masalit wurden bereits in den Jahren ab 2003 von den Dschandschawid drangsaliert, vergewaltigt, ermordet. Als kurz nach dem Ausbruch der aktuellen Kämpfe am 15. April 2023 die RSF – die »Ex-Dschandschawid«, wenn man so will – bestrebt waren, sich die Kontrolle über Darfur zu sichern, da gingen sie erneut auch in Al-Dschunaina gegen die Masalit vor. Bereits bis Mitte Juni sollen sie nach Berichten aus der Region mindestens 10.000, womöglich auch 15.000 Masalit ermordet haben, vielleicht sogar noch mehr. In Al-Dschunaina wiederholte sich die Geschichte.

Ob sie sich auch in Al-Faschir wiederholen wird, ist noch nicht ausgemacht. Die Hauptstadt von Norddarfur, in der einschließlich Flüchtlingen heute wohl eine Million Menschen leben, vielleicht noch mehr – und das zusätzlich zu der halben Million in Zamzam –, ist die letzte in ganz Darfur, die noch nicht von den RSF kontrolliert wird. Seit April ist sie allerdings von den RSF umzingelt. Verteidigt wird sie vor allem von den regulären Streitkräften sowie von zwei schwarzafrikanischen Milizen, die »Sudan Liberation Movement« (SLM) und »Justice and Equality Movement« (JEM) heißen. In den Jahren ab 2003 wurden sie im Westen von vielen als »Kämpfer gegen Khartum« gefeiert. Heute interessiert sich in Europa niemand mehr für sie. Längst haben die RSF angefangen, Al-Faschir zu beschießen, um die Verteidiger mürbe zu machen. Am 13. Dezember trafen sie das zentrale Krankenhaus der Stadt, töteten dabei neun und verletzten 20 Zivilisten. In der ersten Dezemberhälfte attackierten sie darüber hinaus immer wieder Zamzam; allein am 4. Dezember kamen dabei mindestens 24 Menschen ums Leben. Was würde geschehen, wenn es den RSF gelänge, Al-Faschir einzunehmen? Würden sie vorgehen wie in Al-Dschunaina und willkürlich Schwarze drangsalieren, vergewaltigen, ermorden? Würden sie Massaker verüben? Genau das fürchten viele – wie vor 20 Jahren.

Jörg Kronauer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Oktober 2024 über die rassistischen Ausschreitungen in Großbritannien und die Rolle von Nigel Farage: Gemacht, nicht passiert.

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