Wahnhafter Zirkel
Von Nico PoppWenige Tage nach dem Anschlag von Magdeburg ist klar, dass in diesem Fall die Ablösung der politischen Verwertung vom konkreten Sachverhalt ungewöhnlich rasch erfolgt ist. Tatsache ist, dass sich der Täter, dessen intellektuelle Kapazität aus dem von ihm verbreiteten Befund ersichtlich wird, der deutsche Staat wolle Europa »islamisieren«, seit vielen Jahren in Netzwerken bewegt hat, deren wesentliche Funktion es ist, mit »Islamkritik« imperialistischen Kriegen und der Spaltung der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Hauptländern zuzuarbeiten, indem etwa die Flucht- und Migrationsbewegungen aus dem globalen Süden zur lebensweltlichen Bedrohung stilisiert werden.
Der Mann, der sich vor fünf Jahren in der FAZ als »aggressivster Kritiker des Islams in der Geschichte« vorstellen durfte, hat noch wenige Tage vor dem Anschlag einer rechten US-Plattform, die ihr Publikum mit den »schädlichen Auswirkungen des Kommunismus und der islamischen Vorherrschaft auf die Zivilisation« vertraut machen will, ein Interview gegeben. Da ist also jemand ziemlich dicht dran gewesen an Debatten, die die ideologische Überbauarbeit im »Westen« strukturieren.
Auf diesen Umstand ist von den Akteuren dieser Ideologieproduktion in den vergangenen zwei Tagen nicht ungeschickt reagiert worden. Zunächst hat, als am Sonnabend nach und nach ersichtlich wurde, dass der Täter kein Islamist, sondern ein »Kritiker« des Islams, ein Bejubler von Elon Musk, Geert Wilders und der AfD ist, eine Bewegung eingesetzt, den Facharzt für Psychiatrie zu einem klinischen Fall von Verrücktheit zu erklären – vorneweg in jenem Ökosystem aus »libertären«, neoliberalen und halbfaschistischen Multiplikatoren mit globaler Reichweite, das sich beim Kurznachrichtendienst X um den Account von Musk gebildet hat. Hektische Versuche, den Täter als besonders raffiniert getarnten Islamisten zu enttarnen, sind dort unterdessen eingestellt worden.
Mit der Pathologisierung von politischem Wahn ist das so eine Sache: Sie wird vorzugsweise von Leuten vorgenommen, denen die Verrücktheiten im Einzelfall gar nicht so fremd, aber in ihrem konkreten Resultat unangenehm sind. Im Magdeburger Fall hat der Schachzug, das politische Profil des Täters für belanglos zu erklären – und hierhin gehört auch die aktuelle Konzentration auf das »Versagen« behördlicher Stellen –, die unmittelbar praktische Folge, dass ein Effekt noch verstärkt wird, mit dem ohnehin zu rechnen ist: Bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ist in Hinsicht auf den Magdeburger Anschlag lediglich angekommen, dass ein Mann aus Saudi-Arabien mit der Absicht über den Weihnachtsmarkt gerast ist, Menschen zu töten. Mit diesem Reduktionismus taugt auch noch der »aggressivste Kritiker des Islams« als Belegmaterial für die Gefahren einer eingebildeten »Islamisierung«. Der wahnhafte Zirkel ist komplett: Kurzfristig wird es die politische Rechte sein, auf deren Konto dieser Anschlag eines Rechten einzahlt.
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