Knaben im Sonnenschein
Von Norman PhilippenWas dem einen ein Ei des Kolumbus, ist dem anderen eine etwas härter zu knackende Nuss. Für den evangelisch aufgewachsenen Pfarrerenkel Gerhard Henschel ist die Sachlage glasklar: »In einer Zeit, in der viele sich fragen, ob die katholische Kirche überhaupt jemals etwas anderes war als eine kriminelle Vereinigung mit dem Ziel, sexuelle Straftaten an Kindern und Jugendlichen zu verüben, springt es aller Welt ins Auge, welchem Zweck diese Zeitschriften dienten: Sie waren – da gibt es nichts zu beschönigen – von Pädophilen für Pädophile hergestellte Masturbationsvorlagen.« Sein Mitverfasser eines aktuellen Bandes mit »römisch-katholischen Fotoromanen«, der die über Jahrzehnte in horrender Auflage zirkulierenden Ministrantenzeitschriften milder monierende Exministrant Wenzel Storch, glaubt zwar auch nicht, dass »all die feschen, kurzbehosten, von hinten geknipsten Knaben, die sich auf Türrahmen vornüberbeugen, ins Badewasser hüpfen, die Morgentoilette verrichten oder sich im Sonnenschein räkeln, (…) den Fotografen« (Henschel) »nicht zufällig vor die Kameralinse geraten« sind. Aber dass es unter den Autoren der die Liturgie schwiemelig ergänzenden Literatur auch nicht unmissverständlich pädophil zu lesende gegeben haben könnte, kann sich Storch immerhin vorstellen.
Grundsätzlich aber einig sind sich Henschel und Storch, dass spätestens Titel wie »Peter legt die Latte höher« (»Ein Buch für Jungen zum Größerwerden« – wenn es doch wenigstens als »Ein Buch zum Größerwerden für Jungen« untertitelt worden wäre!), auf dessen Cover ein blankbrüstiger Jüngling den Betrachtern mit dem Allerwertesten ins Gesicht springt, manche Fragen schließen. Verfasst wurde das Buch 1954 vom Ministrantenliteraturmegastar Berthold Lutz, Autor auch etwa von »Frechdachs lernt Anstand. 192 anständige Seiten für Lausbuben und brave Mädchen« (1953) oder »Noch viel schöner, Ursula!«. »Ob Zauberei oder nicht, heute ist das Werk des wirkungsmächtigen Kinderbuchkaplans unhebbar versunken.« Storch und Henschel gebührt der heiter-heidnische Verdienst, es zum konfessionsübergreifenden Vergnügen soweit gehoben zu haben. Zwei Stündchen Schmökern reichen, um ausreichend schlüpfrige Einblicke in eine Welt zu gewähren, die nicht zu sehr versunken scheint, als dass den Lesenden nicht aufginge, warum katholische Kaplane Interesse daran haben konnten, wenn ein Peter seine Latte höher legte.
Storchs reichlich bebilderter, einschlägig vorerfahrungsbewehrter Essay »›Der Stoff jauchzt auf‹. Eine Pilgerreise in die wunderbare Welt der katholischen Aufklärungs- und Anstandsliteratur nebst einem Streifzug durch die kirchliche Heftchenkultur 1946–1985« zeigt deutlich: Auch das repressive Moment der Heftchen und Büchlein für Jungen und Mädchen war virulent. Wer sich nicht scheut, in ander jungen Leutens Unterhosen zu diktieren, eignet sich bestens zum Diktator mindestens wider Willen.
Was war die (katholische) Kirche, relative Wohlfahrt hin oder her, denn je anderes als ein repressives politisches Instrument zur Ausübung sozialer Kontrolle. Nicht allzuviel mehr, wird zugeben, wer nicht zu tief drinsteckt. Wider dies Gestrüpp wuchs noch kein Kraut. Wird der Heilige Geist übergriffig, lässt sich darauf doch heiter reagieren. Etwa so, wie Storch und Henschel in ihren Montageromanen.
Wenzel Storch/Gerhard Henschel: Das Ei des Kolumbus. Römisch-katholische Fotoromane. Martin-Schmitz-Verlag, Berlin 2024, 128 Seiten, 30 Euro
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