Tief in der »Scheiße«
Von Wolfgang PomrehnWas für ein Jahr. Schon in den ersten Januartagen begann es mit schweren Überschwemmungen in Niedersachsen, im Sommer dann traten in Baden-Württemberg und Bayern die Flüsse über die Ufer. Dazwischen verwandelten unter anderem im Süden Brasiliens und im zuvor lange von extremer Wasserknappheit gebeutelten Uruguay Wassermassen Felder, Dörfer und ganze Städte in Seenlandschaften. In Brasiliens südlichstem Bundesstaat Rio Grande do Sul waren es die schwersten Überflutungen seit Menschengedenken. Noch schlimmer traf es im Frühjahr gleich zweimal hintereinander Papua-Neuguinea, wo in einem Tal bis zu 2.000 Menschen unter einem Erdrutsch begraben wurden, ausgelöst vermutlich von massiven Regenfällen. Meldungen über extreme Niederschläge mit oft Dutzenden von Toten und verwüsteten Ernten kamen im Laufe des Jahres unter anderem aus Mali, Niger, Nigeria, dem Sudan, Marokko, Jemen, Italien, Großbritannien, Bangladesch, Nordkorea, Pakistan, Malaysia oder auch aus Polen. Oft folgten sie auf eine langanhaltende Dürre, wie sie aktuell in Kenia herrscht, von wo vor einigen Tagen der Sender Al-Dschasira von der schlimmsten Trockenheit seit 40 Jahren schrieb. Mehrere Millionen Menschen seien ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und verfügten über nicht ausreichend Nahrungsmittel.
Als sei das alles noch nicht genug, wurden viele Regionen auch noch durch eine Rekordzahl von tropischen Wirbelstürmen gebeutelt, deren Intensität weiter zunimmt. Im Nordatlantik war es bereits das neunte Jahr in Folge mit überdurchschnittlicher Hurrikanaktivität. Auf den Karibikinseln und in den USA richteten die Stürme enorme Schäden an, wie unter anderem die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) berichtet. In einem Fall löste ein Hurrikan auch noch zahlreiche Tornados aus.
Mit »Beryl« trat im Juli so früh wie nie zuvor ein Hurrikan der höchsten Stufe fünf auf und richtete auf Grenada, St. Vincent und den Grenadinen, in Mexiko und schließlich auch in den USA schwere Verwüstungen an. Zum Glück blieb aber die Zahl der Todesopfer begrenzt. »Trotz seiner Wildheit forderte der Hurrikan weniger Opfer im Vergleich zu früheren Stürmen dieser Stärke«, meint WMO-Generalsekretärin Celeste Saulo. Das sei der Verbesserung der Frühwarnsysteme zu verdanken.
Behördenversagen
Ganz anders erging es vor zehn Tagen den Bewohnern von Mayotte, einer Insel zwischen Madagaskar und dem afrikanischen Festland – offiziell ein französisches Überseeterritorium, de facto aber wohl eher eine Kolonie, in der Zehntausende in Slums aus Blechhütten leben. Am vergangenen Wochenende, mehr als eine Woche nach dem Durchzug des Tropensturms »Chido« war weder die Versorgung mit Trinkwasser überall sichergestellt, noch konnten die Behörden Angaben über die Zahl der Toten machen. Mehr als tausend könnten es sein, wurde befürchtet. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beschied bei einem Besuch auf der Insel einer wütenden Menge, sie solle froh sein, in Frankreich zu leben. Macron: »Ich sage euch, wenn es nicht Frankreich wäre, säßet ihr 10.000mal tiefer in der Scheiße.«
Die Bewohner Mayottes mögen das Pech gehabt haben, in einer sich erwärmenden Welt ausgerechnet in der Zugbahn von »Chido« zu liegen – für gewöhnlich ziehen die Stürme südlich oder nördlich der Insel direkt auf Mosambik zu, wo der Sturm ebenfalls Tod und Zerstörung verbreitete. Doch vor allem haben sie das Pech, dass sie meist arm sind und ihre Regierung sich nicht um ihren Schutz und ihre Versorgung kümmert. Trotz einer Vorwarnzeit von mehr als 50 Stunden konnten sich viele Menschen nicht adäquat in Sicherheit bringen. Entweder, weil ihnen niemand Bescheid gegeben hatte oder weil es keine sicheren Schutzräume für sie gab, wie sie das wesentlich ärmere Bangladesch schon vor über 20 Jahren für seine Küstenbewohner gebaut hat. Ganz zu schweigen von sicheren Trinkwasserspeichern und anderen Lagern mit dem Notwenigsten. Schließlich sind Tropenstürme in der dortigen Region Alltag, auch wenn Mayotte nicht oft getroffen wird. Und dass die Erwärmung der Meere die Stürme intensiver macht, ist ebenfalls seit langem bekannt.
Die Vorgänge auf Mayotte sind ein gutes Beispiel dafür, was Klimakrise im real existierenden Kapitalismus heißt: Wärmere Meeresoberflächen und wärmere Luft führen zum einen zu mehr Verdunstung, zu stärkeren Stürmen, die einen Teil ihrer Energie aus der Kondensation des Wasserdampfs beziehen, und zu heftigeren Niederschlägen. Zum anderen bedeuten heftigere Unwetter in einer durch und durch kapitalistischen Welt, dass die unteren Klassen, die ärmeren Bevölkerungsteile, den Folgen der Klimaveränderungen schutzlos ausgeliefert sind und sich im Ernstfall nicht auf die Behörden verlassen können. So war es schon beim Julihochwasser 2021 im deutschen Ahrtal, und so zeigte es sich nun einmal mehr auf Mayotte.
Weiter im Osten, über dem nordöstlichen Pazifik, gab es eine Taifunsaison der Superlative. Taifun ist die regionale Bezeichnung für tropische Wirbelstürme. Nie zuvor hatte es dort in einer Saison so viele Stürme gegeben, und nie zuvor waren vier von ihnen im November gleichzeitig aufgetreten. Zeitweise reihten sie sich wie an einer Schnur hintereinander auf, Kurs auf den Norden der Philippinen nehmend. Diese waren im ausgehenden Jahr besonders gebeutelt. In weniger als einem Monat wurden sie von sechs Taifunen getroffen, die meist nach Südchina und Vietnam weiterzogen und auch dort für viele Zerstörungen sorgten. Drei der Stürme galten als Taifune der höchsten Kategorie mit Windstärken von mehr als 180 Kilometern pro Stunde.
Ursache: Klimawandel
Solche Ereignisse, so das Ergebnis einer inzwischen abgeschlossenen Zuordnungsstudie, sind durch die globale Erwärmung 25 Prozent wahrscheinlicher geworden. Derartige Studien, diese wurde am Grantham-Institut des Imperial College in London erstellt, simulieren zahlreiche ähnliche Wetterlagen mit Wettervorhersagemodellen, denen ein vorindustrielles Treibhausgasniveau vorgegeben wird. So lässt sich eine Statistik für das Wetter in einer kühleren Welt erstellen, die dann mit dem untersuchten Ereignis verglichen werden kann. Auf diese Art konnte 2024 unter anderem der ausschlaggebende Anteil des Klimawandels an den Hurrikanen »Helene« und »Milton«, die in den USA nach inoffiziellen Schätzungen einen Schaden von 200 Milliarden US-Dollar angerichtet haben, und am Supertaifun »Gaemi« nachgewiesen werden.
Der die Wirbelstürme intensivierende Mechanismus ist dabei gut verstanden. Die Stürme beziehen ihre Energie aus den warmen obersten Schichten der subtropischen Meere. Das dort verdunstende Wasser steigt in Wirbeln auf, kondensiert in der kühleren Luft und gibt dabei Wärmeenergie ab. Diese erwärmt die umliegende Luft, was deren Auftrieb steigert und damit Aufwinde und Wirbel verstärkt. Je wärmer die Meere, desto mehr Wasserdampf und desto stärker die Stürme. Und wie unter anderem die an der Universität von Maine aufgearbeiteten Daten zeigen, liegt sich die Temperatur der Meeresoberflächen seit dem Frühjahr 2023 auf einem nie zuvor gesehenem hohen Niveau.
Das macht sich auch global bemerkbar. Dieses Jahr wird das erste sein, in dem die über den ganzen Planeten und das ganze Jahr gemittelte Temperatur in zwei Metern über dem Erdboden – so die offizielle Definition – mehr als 1,5 Grad Celsius gegenüber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen wird. Diese Periode wird gewöhnlich als Referenz für die vorindustrielle Zeit genommen, weil sie bereits mit den Temperaturmessungen erfasst wurde, aber es noch vergleichsweise wenig Treibhausgasemissionen gab.
Erwärmung um zwei Grad
Dabei erwärmen sich die Meere eigentlich langsamer als die Kontinente. Die am Goddard Institut for Space Studies (GISS) der NASA in New York aufbereiteten Temperaturdaten zeigen, dass es im Durchschnitt der letzten 30 Jahre über weiten Teilen Sibiriens bis nach Nordostchina, über Grönland und dem Norden Kanadas und Alaskas zwei bis vier Grad wärmer war als zwischen 1881 und 1910, also in der Frühzeit der Industrialisierung. (Weiter zurück reichen die GISS-Daten nicht.) Auch über dem Rest Eurasiens, über Nordafrika und Teilen der beiden Amerikas war die Erwärmung bereits etwas überdurchschnittlich.
Im Prinzip wird diese Entwicklung auch seit langem von den Klimamodellen vorhergesagt, wobei die Projektionen in den regionalen Details oft erheblich voneinander abweichen. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass aufgrund begrenzter Rechnerkapazitäten das Klima nur in relativ großmaschigen Gittern berechnet werden kann. Eine neue Studie, die mit selbstlernenden Algorithmen arbeitet, sogenannten neuronalen Netzwerken, verspricht da Abhilfe.
Heraus kam folgendes: In 31 der 34 von den Autorinnen und Autoren definierten Weltregionen könnte es bereits um 2040 zwei Grad wärmer sein als in vorindustriellen Zeiten und 26 Regionen könnten sich 20 Jahre später bereits um ein weiteres Grad Celsius erwärmt haben. Beunruhigende Nachrichten, wenn man bedenkt, dass nach WMO-Angaben schon jetzt Hitzewellen die mit Abstand tödlichsten Wetterextreme sind.
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