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Aus: Ausgabe vom 28.12.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Mission Birnbaum

Domenico Müllensiefens Roman »Schnall dich an, es geht los«
Von Heiner Kruschke
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Und die Jahre gingen wohl auf und ab wie der Schienenverkehr

Die Altmark? »Kenn ick. Da sagen sich Fuchs und Hase ›Gute Nacht‹«, sagte ein Mitarbeiter des Verlags 8. Mai vor einigen Jahren (Gruß geht raus an Dirk). Aber was wusste er schon von diesem Landstrich in Sachsen-Anhalt, wo Ortschaften Hindenburg und Bismark heißen? Auf der Landstraße flattern Fasane ums Auto herum, Waschbären versperren einem, wenn man nachts zum Angeln fährt, empört mit den Ärmchen fuchtelnd den Weg zum Elbdeich, und auf dem Heimweg muss man selbst innerhalb von Ortschaften noch Rehböcken ausweichen.

Wo die Natur auf dem Vormarsch, da ist Rückzug des Menschen. Im Altmarkkreis Salzwedel beispielsweise lebten 1995 noch 105.500 Einwohner, im vergangenen Jahr waren es 81.151. Im Landkreis Stendal gab es 1990 genau 156.157 Einwohner, 2020 waren es 110.485, und für das Jahr 2035 werden 94.099 prognostiziert.

Wohin die Menschen verschwunden sind, ist nicht schwer zu erraten. Unter die Erde, für die in der Altmark ein kleinteiliger Wechsel von sandigen und lehmigen bodenbildenden Substrattypen charakteristisch ist, und deren Ertragsfähigkeit deshalb zwischen sehr fruchtbar und extrem unfruchtbar schwankt.

Oder die Leute sind rüber, wo es nicht so schwankt. Seit 1991 sind netto knapp 1,2 Millionen Menschen aus den ostdeutschen in die westdeutschen Länder gezogen. Vor allem im Alter zwischen 18 und 30.

Ärzte gibt es in der von Land- und Forstwirtschaft geprägten Altmark beispielsweise kaum. Die Zahlen sind seit Ewigkeiten rückläufig. Zuwachs gibt es nur – Überraschung – bei den Tierärzten.

Da kommt ein: »Schnall dich an, es geht los« zur rechten Zeit. So lautet der Titel des Romans von Domenico ­Müllensiefen, der allerdings etwas irreführend ist. Denn Müllensiefen bleibt ehrlich und seine Geschichte auf dem Boden der altmärkischen Tatsachen, also geht da auch nichts los. Im Gegenteil, die Bahn in dem fiktiven Ort Jeetzenbeck wird eingestellt. Früher kam man von dort mit der Amerikalinie – die ist nicht fiktiv, sondern sagenumwoben – bis in die USA, heute kommt man nicht mal mehr ins Nachbardorf.

Ich-Erzähler Marcel, Mitte dreißig, steht abends am Drehspieß, nachdem er morgens Zeitungen ausgetragen hat, und stellt seinem Kumpel Pascal und dessen Vater »Nazi-Schulz« Bier auf den Tisch. Sonst verirrt sich niemand in den Imbiss, der vom Kubaner Emilio geführt wird, dessen Ehefrau Marcels Lehrerin war und mit dessen Tochter er einst anbandelte. Sie ist eine von denen, die abgehauen sind. Bewegung kommt in das Geschehen, als sie wieder auftaucht.

In Rückblenden schildert Marcel, wie in Zeiten der kapitalistischen Restauration die Zukunft der Familie verlorenging. Der Vater: ein Neonazi der ersten (Vorwende-)Stunde, arbeitsloser Lkw-Fahrer, Träumer, Lügner, Krimineller. Die Mutter: sitzt rauchend, trinkend, verwahrlost in der Wohnung und schaut »Columbo«. Die Schwester: hat als Teenager Selbstmord begangen.

Dieses Bild vom abgehängten Osten hätte man sich in Redaktionsstuben nicht schöner ausmalen können. Für Marcel, der sich und seine Familie als »Abschaum des Dorfes« betrachtet, ist da aber mehr: »Wenn mein Leben hier wirklich so wäre, wie es im Fernsehen immer zu sehen ist, würde ich hier nicht leben wollen.«

Was ihn hält, ist ein Wurzelwerk aus Erinnerungen an Momente der Zärtlichkeit in der kaputten Familie, Stadionbesuche beim 1. FC Magdeburg, Autoschrauben in der Werkstatt mit Maik und Mike oder das Fingern der Ex-Freundin in der Turnhalle. Romantisierung von Armut? Was bleibt einem schon, wenn man sich nicht der alles verschlingenden Verzweiflung überlassen mag?

Was Marcel an Heimat reicht, muss für Skeptiker mit literarischer Tradition angedickt werden. In einem Streit um Gehen oder Bleiben bringt der Erzähler den Birnbaum ins Spiel. Entlehnt ist das Bild Theodor Fontanes »Herr von Ribbeck«. Der verteilt zwar im benachbarten Havelland das Obst aus seinem Garten an die Kinder, aber im Großen und Ganzen ist das derselbe Käse wie in der Altmark, nur auf der anderen Seite der Elbe.

Marcel setzt auf kleine von Ribbecks, die das Leben dort, wo der letzte Zug längst schon abgefahren ist, erträglich machen und den Laden nicht den Arschlöchern überlassen. Mehr Rettendes kann man hier auch nicht verlangen. Wie gesagt, der Roman bleibt auf dem schwankenden Boden der altmärkischen Tatsachen.

Domenico Müllensiefen: Schnall dich an, es geht los. Kanon-Verlag, Berlin 2024, 352 Seiten, 25 Euro

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  • Leserbrief von Peter Nowak aus Berlin (30. Dezember 2024 um 10:24 Uhr)
    Der Autor schreibt: »Im Altmarkkreis Salzwedel beispielsweise lebten 1995 noch 105.500 Einwohner«. Dabei sollte aber auch erwähnt werden, dass es in Salzwedel eine aktive linke Szene gibt, die auch dafür sorgt, dass alte leerstehende Häuser wieder sinnvoll genutzt werden können. Schon ein kurzer Spaziergang durch die pittoreske Altstadt von Salzwedel zeigt an den Graffitis und Aufklebern, dass es dort eine linke Hegemonie gibt, die durchaus auch aus der nahen (Wendland) und ferneren (Berlin/Hamburg) Unterstützung bekommt.

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