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Aus: Ausgabe vom 28.12.2024, Seite 15 / Geschichte
Italien

Chef der Verbrecherbande

Ausgang aus der Matteotti-Krise. Vor 100 Jahren skizzierte Mussolini die Eckpunkte seiner Diktatur im Aufbau
Von Daniel Bratanovic
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Deckel zu, Opposition tot (zeitgenössische Karikatur zur Matteotti-Krise 1924)

Für den Regierungschef eines formal immer noch parlamentarisch verfassten Staates ungewöhnlich genug, traut man ihm – diesem vierschrötigen Mann, wie er, ein Abziehbild des populärgeschichtlichen Gedächtnisses, die Fäuste gegen die Hüften rammt und zum Gebrüll anhebt – selbst dies zu: das Geständnis, in einen politischen Mord verwickelt zu sein. Am 3. Januar 1925 erklärte Benito Mussolini vor dem von ihm zusammengerufenen italienischen Abgeordnetenhaus: »Es heißt: Der Faschismus sei eine Horde von Barbaren, eine Bewegung von Räubern und Banditen (…). Nun gut, ich erkläre hier vor diesem Haus und vor dem ganzen italienischen Volk, dass ich, ganz allein ich, die Verantwortung, die politische, moralische, historische Verantwortung von allem, was vorgefallen ist, übernehme. (…) Wenn der Faschismus eine Verbrecherbande gewesen ist, dann bin ich der Chef dieser Verbrecherbande!«

Was war vorgefallen, dass der Führer der Faschisten sich genötigt sah, eine Wahrheit auszusprechen? Ein gutes halbes Jahr früher, am 10. Juni 1924, hatten Squadristi, paramilitärische Milizionäre der faschistischen Bewegung, den Reformsozialisten Giacomo Matteotti entführt und kurz darauf ermordet. Matteotti war elf Tage zuvor bei einer Parlamentssitzung am 30. Mai auf zahlreiche Unregelmäßigkeiten der Wahlen vom 6. April zu sprechen gekommen und hatte die Annullierung des Ergebnisses verlangt. In der Regel gilt diese Provokation des faschistischen Premiers unter Historikern als Mordmotiv, ein anderes könnte allerdings gewesen sein, dass Matteotti Gerüchten zufolge über Informationen verfügte, wonach führende Faschisten von der US-amerikanischen Ölgesellschaft Standard Oil bestochen worden sein sollen.

So oder so, der Fall Matteotti geriet für das noch nicht vollständig konsolidierte faschistische Regime in Italien zur Matteotti-Krise, denn die Ermittlungen führten sehr schnell und direkt in Mussolinis Vorzimmer. Noch gab es eine legale antifaschistische Opposition – ein paar Liberale des alten Systems, die katholischen Popolari, vor allem die damals dreigeteilte Arbeiterbewegung –, die dem durch die Mordaffäre völlig diskreditierten Mussolini einen möglicherweise entscheidenden Schlag hätte verpassen können. Die von Antonio Gramsci gegründete kommunistische Tageszeitung L’Unità titelte: »Nieder mit der Mörderregierung!«, und Gramsci selbst schrieb seiner Frau Julia Schucht am 22. Juni: »Der Faschismus wurde in die Isolation getrieben und seine Führer von Panik ergriffen, während die Mitläufer das Weite suchten.«

Schockstarre, Panik und Konfusion auf seiten der faschistischen Regierung währten allerdings nicht sehr lange. Entscheidend dafür war vor allem das Verhalten der Opposition, die aus Protest das Parlament verließ und den sogenannten Aventinblock bildete, dabei aber nicht zum politischen Generalstreik aufrief, wie die Kommunisten empfahlen, sondern, wie Mussolini höhnte, nichts zuwege brachte als »lautstarke Nörgelei« und »lästiges Geschwätz«. Die »aventinische Sezession«, die, anders als von ihren Anhängern erhofft, eben nicht die Unterstützung von König Vittorio Emanuele III. erhielt, machte aus der für das Regime gefährlichen Debatte um einen politischen Mord eine, wie der australische Historiker Richard Bosworth schrieb, direkte »Konfrontation zwischen Faschismus und Antifaschismus. In dieser Auseinandersetzung wussten die italienischen Eliten, wo sie standen«. Seine liberalen und konservativen Förderer, allen voran der König, hielten dem Regierungschef nach kurzem Schwanken die Treue, und am 24. Juni sprach der Senat ihm mit überdeutlicher Mehrheit das Vertrauen aus. Mussolini hatte seine Atempause.

Interne Widersprüche

Die war auch deshalb dringend nötig, weil sich mit der durch den Mordfall ausgelösten äußeren Krise auch die innere Krise beziehungsweise die Widersprüchlichkeit des italienischen Faschismus offenbarte. In den eigenen Reihen war nämlich der Ruf nach einer »Rückkehr zu den Ursprüngen« schon länger virulent.

Anfangs bedeutungslos versammelten die auf Initiative von Mussolini im März 1919 gegründeten Fasci di combattimento (Bünde der Kriegsteilnehmer) meist kleinbürgerliche, kaum mehr in den Alltag zu integrierende Existenzen mit verworrenen revolutionären Erwartungen und gaben sich ein diffuses Programm mit linkem Anstrich. Von Beginn an aber traten sie gegen die Sozialistische Partei auf, die bei den Wahlen vom November 1919 zur stärksten Kraft geworden und zudem in zahlreiche Gemeindeverwaltungen, vor allem in der Emilia-Romagna und in der Toskana, eingezogen war. Die relative Stärke der Arbeiterbewegung und deren ökonomische und soziale Errungenschaften, keineswegs aber die Furcht vor einer proletarischen Revolution (denn die stand schon nicht mehr auf der Tagesordnung), veranlasste erhebliche Teile der Industriebourgeoisie, die das Vertrauen in den alten liberalen Staat verloren hatten, das Problem mit den Mitteln der Gewalt lösen zu lassen.

Damit schlug die Stunde der Fasci. Ab November 1920 griffen bewaffnete faschistische Einheiten (Squadri) in »Strafexpeditionen« Partei- und Gewerkschaftshäuser, Zeitungsredaktionen, Arbeiterheime und Kulturhäuser an und stürmten Hunderte sozialistische Gemeindeverwaltungen. Die antisozialistische Mordbrennerei stieß nicht nur auf Wohlwollen etlicher Notablen, sondern erfolgte mit direkter und indirekter Unterstützung der staatlichen Bürokratie. Militärstellen lieferten Waffen, Carabinieri griffen in den Kampf ein, sobald die Faschisten auf Widerstand stießen, die Justiz ließ Verfahren gegen Squadristi einschlafen. Schon diese Abhängigkeit vom alten Staatsapparat missfiel zahlreichen faschistischen Kadern.

Mussolini war kein Vertreter dieser extremen Spielart des Faschismus, deren Repräsentanten glaubten, ein autoritäres Regime auch ohne Rücksichtnahme auf liberale Interessengruppen errichten zu können. Er war, finanziell gefördert von Mailänder Industriellen und Bankiers, der Mann der neuen kapitalistischen Klasse, der, ganz der politische Taktiker, zu Kompromissen neigte und darauf setzte, die lose vernetzten Fasci zu »parlamentarisieren«. Dazu gehörte, die Fasci 1921 in einen bürgerlichen Wahlblock zu integrieren, sowie ein letztlich folgenloser »Befriedungspakt« mit Vertretern des rechten Flügels der Arbeiterbewegung im August 1921. Nicht zuletzt diente auch die Gründung des Partito Nazionale Fascista im November des gleichen Jahres dem Zweck, den Squadrismus einzudämmen.

Der Aufbau paramilitärischer Strukturen jenseits des staatlichen Gewaltapparats hatte nach Maßgabe der bourgeoisen Förderer des Faschismus zum Ziel, den Staatsapparat zu reorganisieren, auf dass ein ungestörtes Produktionsregime des restrukturierten italienischen Kapitalismus gewährleistet sei. Die Aufrechterhaltung paralleler Gewaltstrukturen und enttäuschte Erwartungen an der sozialen Basis des Faschismus blieben aber lange ungelöste Probleme; erst recht, nachdem der König Mussolini im Oktober 1922 mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Nur mühsam kaschiert wurde dieses Problem auch von der schon im Dezember erfolgten Umwandlung der Squadri in eine Nationalmiliz und der Einrichtung des Gran Consiglio del Fascismo, der außerhalb verfassungsrechtlicher Bestimmungen stand und als Schnittstelle zwischen der faschistischen Partei beziehungsweise der faschistischen Provinzfürsten und der Regierung fungierte.

Mit der Matteotti-Krise brachen diese Widersprüche zwischen Extremisten und »Normalisierern« wieder auf. Als am 12. September 1924 der faschistische Abgeordnete Armando Casalini in Rom erschossen wurde, forderten radikale Faschisten von Mussolini, unter Einsatz bewährter Mittel mit dem Antifaschismus vollständig aufzuräumen. Umgekehrt verlangten die Normalisierer, legale Verhältnisse herzustellen und für eine Trennung von den radikalen und kriminellen Teilen des Faschismus zu sorgen.

Abrechnung

Am 26. Dezember veröffentlichte eine oppositionelle Zeitung ein Memorandum des Faschisten Cesare Rossi, wonach Mussolini zwar nicht direkt mit dem Mord an Matteotti, aber mit vergleichbaren Fällen in Verbindung stand. Daraufhin drohte die Regierung auseinanderzufallen. Am 31. Dezember bedrängten Führer der Miliz und Provinzkader der Partei Mussolini, die Opposition endgültig zum Schweigen zu bringen. Der ließ noch am selben Tag die Abgeordnetenkammer für den 3. Januar zusammenrufen, um in seiner Rede in der eingangs erwähnten Weise die »politische, moralische und historische«, nicht jedoch die materielle Verantwortung für den Mord an Matteotti zu übernehmen.

Gleichzeitig kündigte er an, »binnen 48 Stunden« mit der aventinischen Sezession abzurechnen. Noch am selben Tag wurden die Präfekten angewiesen, politische Versammlungen und Demonstrationen fortan zu unterbinden und aktiv gegen alle »die Macht des Staates untergrabenden« Organisationen vorzugehen. In kürzester Zeit erfolgten nach Angaben des Innenministeriums 655 Hausdurchsuchungen und 111 Verhaftungen »subversiver Elemente«; etliche politische Zirkel und »subversive Organisationen« wurden aufgelöst. Den Abgeordneten der Oppositionsparteien wurde die Rückkehr in die Kammer von nun an verweigert. Bis 1926 wurden alle nichtfaschistischen Parteien verboten oder aufgelöst.

Mussolinis Diktatur, die an jenem Tag gleichsam verkündet wurde, gründete sich, das zeigten die nun folgenden Maßnahmen, auf die legitimen Strukturen des Staates und nicht auf die paramilitärischen der Ursprungszeit. Die hatten ihre Schuldigkeit getan.

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