»Es gibt verdammt viele Idioten auf diesem Scheißplaneten«
Interview: Torge Löding und Frederic SchnattererSie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Zustand der Welt: als Historiker, als Schriftsteller, als Aktivist. Heute befindet sich die Ultrarechte im Aufwind, Teile der Linken verfallen mehr und mehr in Pessimismus. Auf der anderen Seite werden in Lateinamerika so viele Länder von progressiven Politikerinnen und Politiker regiert wie nie zuvor. In was für Zeiten leben wir denn nun?
Ich denke immer in einer Schaukellogik. Eine Schaukel schwingt nach oben und dann wieder nach unten. Auf derselben Position bleibt sie nie stehen. Zuletzt konnte die Linke die Präsidentenwahl in Uruguay gewinnen. Hier in Mexiko steigt die Zustimmung zur neuen Regierung von Präsidentin Claudia Sheinbaum von Woche zu Woche. Pessimistisch bin ich also nicht.
Sheinbaum regiert seit dem 1. Oktober als Nachfolgerin von Andrés Manuel López Obrador. Sie gewann mit der Morena-Partei im Rücken die Präsidentschaftswahl mit deutlichem Vorsprung. Wie ist es der Linken in Mexiko gelungen, so erfolgreich zu sein?
Bevor López Obrador Präsident wurde, ist die Linke mehrmals um ihren Sieg betrogen worden. Darauf haben die Leute reagiert. Die Macht der konservativen Regierungen, die zuvor im Amt waren, war auf Korruption aufgebaut. Wir hingegen konnten eine breite Front aufbauen – so breit, dass sie uns den Wahlsieg schließlich nicht mehr nehmen konnten. Insgesamt haben wir viermal die Wahlen gewonnen, zweimal wurde uns der Sieg genommen. In der mexikanischen Politik war Wahlfälschung eine historische Konstante.
An unserem Modell, das sich wohl am ehesten als Volksfront beschreiben lässt, ist an sich nichts Geheimnisvolles. Große Teile der mexikanischen Bevölkerung waren des traditionellen, korrupten und neoliberalen Projekts überdrüssig. Das hat die Voraussetzungen für unseren Erfolg geschaffen. Zunächst für den Wahlsieg von Andrés Manuel. Dann für sechs Jahre fortschrittliche Regierung, deren Erfolge zweifellos groß waren. Sie hat unsere Souveränität verteidigt, die Rechte der Menschen ausgeweitet, das Lohnniveau verbessert und den Menschen in ihrem Alltagsleben immense Verbesserungen gebracht. Und schließlich die Konsolidierung unseres Projekts durch den Erdrutschsieg von Morena mit der Kandidatin Claudia Sheinbaum. Sie ist die erste Präsidentin Mexikos und tritt radikal feministisch auf. Mit ihr änderte sich der Slogan »Zuerst die Armen« zu »Zuerst die armen Frauen«. Ihre Präsidentschaft wird die mexikanische Gesellschaft tiefgreifend verändern.
Der Wahlsieg von Sheinbaum basierte also in erster Linie auf den sozialen Verbesserungen großer Teile der Bevölkerung?
Er basiert auf den erfolgreichen sechs Jahren Andrés Manuel. Claudia trat als seine Erbin an, sie versprach Kontinuität. Die Mexikanerinnen und Mexikaner haben mit überwältigender Mehrheit dafür gestimmt, dass es so weitergehen soll wie bisher und die Veränderungen vertieft werden.
Nun ist seit dem Amtsantritt am 1. Oktober noch nicht so viel Zeit vergangen. Lässt sich trotzdem schon sagen, inwiefern Sheinbaums Regierung auch eigene Impulse setzt?
Ich muss ehrlich sagen: Es langweilt mich, zu spekulieren. Während der ersten drei Monate Sheinbaum-Regierung hat die Rechte eine Kampagne gefahren, die der Präsidentin zum Vorwurf macht, nur die Politik der Vorgängerregierung fortzuführen. Ja und? Was ist es, das die Rechten daran stört? Natürlich geht es darum, wozu Sheinbaum eine Kontinuität darstellt. Sie behaupten, Andrés Manuel ziehe im Hintergrund weiter die Strippen. Das ist eine Lüge, eine gemeine und vulgäre Verleumdung.
Wie sahen die ersten Monate der Regierung Sheinbaum denn nun aus?
Zunächst musste sie die Regierung umstrukturieren. Das klingt zwar einfach, doch es war komplizierter als gedacht. Das lag auch daran, dass die großen Infrastrukturprojekte im Süden des Landes, die Andrés Manuel in seiner Amtszeit angestoßen hat, teurer geworden sind als ursprünglich geplant: die Staudämme, der Maya-Zug, der Transozeanische Korridor und so weiter. Das Geld für diese Projekte, mit denen die Entwicklung im Süden angestoßen werden soll, musste im Gesamthaushalt des Landes erst einmal freigemacht werden. Gleichzeitig musste die privilegierte Finanzierung im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen garantiert werden – eine zentrale Herausforderung für eine fortschrittliche Politik, im besten Sinne des Wortes. Um ein Gesundheitssystem aufzubauen, das wirklich allen Mexikanerinnen und Mexikanern kostenfrei zur Verfügung steht, mussten Dutzende parallele staatliche Strukturen vereinheitlicht werden. Bürokratie eben. Im Januar wird die Regierung bestimmt ihre definitive Form angenommen haben. Dann werden ihre eigenen Absichten auch erkennbarer werden, schätze ich. Natürlich gibt es noch einiges zu tun.
In den deutschen Medien stand neben den großen Infrastrukturprojekten insbesondere die Justizreform in der Kritik. Die direkte Wahl von Richterinnen und Richtern wurde dabei als Risiko für die Unabhängigkeit der Justiz dargestellt …
Die Debatte hat ja bereits im vergangenen Jahr begonnen. Heute haben wir bereits eine Reihe von Gesetzen dazu. Der alte Justizapparat ist extrem verrottet, weshalb es von grundlegender Bedeutung war, uns davon zu befreien. Das Problem bestand nicht allein darin, dass ein paar Richter korrupt waren und die Untersuchungen behinderten, um das Großkapital vor Ungemach zu bewahren oder die Korrupten und Drogenhändler zu schützen.
Wenn also im kommenden Jahr die ersten Richter gewählt werden, dürften auch die Angriffe von Vertretern des alten Staatsapparats schärfer werden. Hintergrund ist ein Konservatismus, der in Mexiko auf völlig verlorenem Posten steht. Seine Vertreter haben den politischen Kompass verloren, sie befinden sich im Niedergang. Nur über die Medien üben sie weiterhin Macht aus. Für uns Linke muss das heißen, dass wir unsere Anstrengungen in diesem Bereich vergrößern müssen. Die staatlichen Medien, sowohl Fernsehen als auch Radio, waren schon immer wichtig. Jetzt könnten sie sogar noch an Bedeutung gewinnen.
Die Kritik an den Regierungen von López Obrador und jetzt von Sheinbaum, an den Großprojekten oder auch an einem angeblich autoritären System im Aufbau hört sich interessanterweise oft ähnlich an – egal ob sie von links oder von rechts kommt.
Es gibt verdammt viele Idioten und Verrückte auf diesem Scheißplaneten. Kritik ist wenig hilfreich, wenn sie nicht mit Vorschlägen verknüpft ist. Es reicht nicht, sich zu beschweren, auch wenn ich das natürlich völlig legitim finde. Von rechts kam in den vergangenen Monaten keine einzige Kritik, die auf Verbesserung zielte, weiterkommen oder etwas korrigieren wollte. Ihre Kontrolle über die großen Privatmedien hat dazu geführt, dass die Kritik der Rechten mittlerweile völlig banal ist, leer und voller Fake News und Beleidigungen. Auch von seiten der Nichtregierungslinken – der radikalen Linken, wenn man so will, von der man allerdings sagen muss, dass sie in Mexiko verschwindend klein ist und über extrem wenig Einfluss verfügt – sehe ich keinen einzigen Vorschlag.
Apropos Vorschläge: In Mexiko-Stadt etwa gibt es Projekte, die jetzt auch international Schule machen. Etwa die »Utopías«, Zentren für Kultur, Soziales und Sorge. Sie wurden als Orte linker Sozial- und Kulturpolitik in einem marginalisierten Stadtteil ins Leben gerufen. Die Idee breitet sich jetzt aus. So plant der peronistische Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof, einige solche Zentren in Argentinien zu installieren. Was macht die »Utopías« so besonders?
Das Interessante an den »Utopías« war, dass sie als scheinbar kulturelles Projekt entstanden sind. Es ging um Museen, Kulturhäuser, Unterhaltungsräume, Sportstätten. Aber sie hatten alle eine integrale soziale Struktur. Die »Utopías« bieten ein öffentliches Angebot für die, die sonst wenig haben. Ein olympisches Schwimmbad in einem Viertel, in dem es sonst kein Wasser gab. Es entstand die Möglichkeit für gemeinsam genutzte Waschmaschinen, für Gemeinschaftsküchen, eine biologische Landwirtschaft, und es gab riesige Flächen für Kindertagesstätten. Insgesamt entstand nicht nur ein großes Kulturzentrum, sondern auch eine neue Art von sozialem Zentrum, das den Frauen mehr Freizeit verschaffte. Es durchbrach die Rolle der Frau, die an das Haus gebunden war. Es wurde zu einem sozial viel großzügigeren Projekt. Das Modell der »Utopías« funktioniert mit großem Erfolg. Und das wird nachgeahmt. Wir werden viele »Utopías« haben, nicht nur in Mexiko.
Mexiko grenzt im Norden an die Vereinigten Staaten. Diese unmittelbare Nachbarschaft bringt Probleme mit sich, auch für die mexikanische Innenpolitik. Ab Januar regiert in Washington Donald Trump, der Mexiko bereits mit harten Maßnahmen gedroht hat: höhere Zölle, die Abschiebung von Einwanderern usw. Sie sagen, Sie halten nicht viel davon, über künftige Politik zu spekulieren. Nun hatten Trump und Sheinbaum allerdings bereits Kontakt miteinander. Wie werden sich die Beziehungen beider Länder gestalten?
In Mexiko gibt es ein Sprichwort, das wörtlich übersetzt besagt: Von den Kröten hängt ab, wie die Steinwürfe kommen. Trump sollte sich genau überlegen, ob er Zölle auf mexikanische Importe erhebt. Die Autobauer aus den USA, die in Mexiko produzieren – also Ford und General Motors –, werden ihm den Vogel zeigen und sagen: Denk gar nicht erst daran, uns mit Zöllen zu belegen, denn wir sind nordamerikanisches Großkapital. Auf der anderen Seite steht die Frage, ob Trump wirklich ein Interesse daran haben kann, die Tür für Importe der mexikanischen Avocado- und Zitronenindustrie zu schließen. Möchte er wirklich das Risiko eingehen, dass fünf Tage nach einer solchen Maßnahme Chaos in den Supermärkten der USA herrscht? Aber: Sollte Trump seinen Drohungen Taten folgen lassen, müsste er mit maßvollen, aber strengen und ernsthaften Reaktionen der mexikanischen Regierung rechnen.
Bezüglich der Migration bleibt abzuwarten, welchen Druck die US-Regierung tatsächlich innerhalb des nordamerikanischen Territoriums ausüben wird. Davon hängt ab, wie wichtig es für Mexiko sein wird, die Wellen einzudämmen, die an den Gitterstäben der Grenze aufgehalten werden. Wenn die Verfolgung durch die USA an Schärfe gewinnt – und sie wird noch sehr bitter werden – und die Grenzen aus US-Sicht effizienter geschlossen werden, dürften auch die Flüchtlingskarawanen kleiner werden.
Seine Drohungen gegen Mexiko begründet Trump außerdem mit dem Vorwurf, neben den Migranten kämen besonders viele Drogen über die Grenze. Sie kritisieren die Drogenpolitik der USA seit Jahren.
Die mexikanische Regierung führt in acht Bundesstaaten gegen die Drogenbanden Krieg. Und »Krieg« ist hier wirklich der angemessene Begriff, es geht um militärische Interventionen. Wir fordern, dass auf der anderen Seite der Grenze genauso gegen die mafiösen Strukturen vorgegangen wird. Bis heute gilt: Wir zahlen mit den Toten dafür, dass bei euch massenhaft konsumiert wird, während die Verantwortlichen wegsehen, die Drogenumschlagplätze in Los Angeles nicht reguliert und die Mafiastrukturen auf US-amerikanischem Boden nicht verfolgt werden.
Der Krieg gegen die Drogenbanden kann nur auf mehreren Ebenen gelöst werden. Einerseits geht es darum, jungen Menschen Alternativen zum leichten, schnellen und riskanten Drogengeld anzubieten. Das ist die soziale Ebene und fraglos die interessanteste und diejenige, die besonders tief reicht. Die zweite ist die militärische. Und dann gibt es noch eine dritte, die des Geldes: »Follow the money – folgen Sie dem Geld«. Das Geld, das die Drogenbanden mit dem Verkauf in Dollar an die nordamerikanischen Konsumenten erwirtschaften, kehrt in Form großer Vermögen wieder zurück. Hier in Mexiko wird das Geld dann gewaschen, wobei korrupte Beamte und korrupte Richter Komplizen sind. Und mit diesem Geld werden dann die Waffen für den Drogenkrieg gekauft: hochmoderne Waffen – etwa Maschinengewehre mit 30-06-Kaliber – in den Händen von Drogenbanden, die in einem Schreibwarenladen bei Houston gekauft wurden. Dieser Faktor ist wichtig: die Freizügigkeit im Waffenverkauf. Sie ist Teil des üblen Spiels, das die USA in ihrer Drogenpolitik betreiben.
Sie sind auch unter der neuen Regierung Direktor des mexikanischen Kulturfonds FCE. Was verbirgt sich hinter der Abkürzung?
Der Fondo de Cultura Económica, FCE, unterscheidet sich vom deutschen Goethe-Institut; er ist ein gemischtes Unternehmen. Er ist zwar vor allem auch ein Verlag, aber er muss gleichzeitig mehr sein, ein Produzent von Büchern, aber auch ein kommerzielles Netzwerk, um das Buch dorthin zu bringen, wo es sonst nicht hinkommen würde. Außerdem ist der Fondo eine transnationale Organisation, wahrscheinlich das einzige transnationale Unternehmen der Linken auf diesem verdammten Planeten. Wir erreichen Argentinien, Chile, Ecuador, Peru, Kolumbien, Guatemala und so weiter. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, das Lesen in der Bevölkerung zu fördern.
Das hört sich aber trotzdem in erster Linie nach einer bürokratischen Organisation an. Wie wohl fühlen Sie sich dort?
Das Lustige daran ist, dass ich mich nicht als Teil einer Institution fühle. Ich fühle mich als Teil eines verrückten Projekts, das anarcho-kommunistischer ist als ich selbst. So etwas gibt es wohl nur selten, aber bei uns ist es so. Wir haben der Bevölkerung Millionen kostenloser Büchern zur Verfügung gestellt. Millionen. Wir haben die Kosten für Bücher gesenkt. Wir haben Netze von Buchhandlungen geschaffen, die das ganze Land und weite Teile Lateinamerikas abdecken. Wir haben mobile Buchläden geschaffen, die auch das entlegenste Dorf erreichen. Wir nehmen an Hunderten Buchmessen teil. Wir haben 20.020 Leseklubs gegründet, die sich aus Freiwilligen zusammensetzen. Wir veröffentlichen jedes Jahr zahlreiche Bücher. Wenn ich gefragt werde: »Wo ist die Linke?«, antworte ich: Genau hier ist sie. Mit meiner Funktion bin ich ein Teil dieser Linken, deren Beginn mit dem Amtsantritt von López Obrador zusammenfällt und jetzt unter Sheinbaum weitergeht.
Warum ist Lesen so wichtig?
Dieses Thema ist der Schlüssel. Wir alle, die wir lesen, wissen das und finden es schwer, es Nichtlesern zu erklären. Wir wissen, dass das Lesen einen vergleichenden Blick auf die Welt außerhalb von uns selbst ermöglicht, dass es eine Vision von dem einprägt, was man nicht lebt, was man nicht ist, was man nicht hat. Es zeigt einem Städte, die man nie besucht hat, und Erfahrungen, die man nie gemacht hat. Reflexionen. Gleichzeitig ist es aber auch eine Form der Unterhaltung, die einen zutiefst sozialen Charakter hat. Die Unterhaltung des Lesers ist der Mensch, der den Text in seinem Kopf konstruiert, und hat eine ganz besondere Tiefe.
Wir denken, je mehr Leser eine Gesellschaft hervorbringt, desto mehr kritischen Geist bringt sie hervor. Ob nun digital oder analog gelesen wird, ist mir völlig egal. Ob wir Bücher auf Zigarettenpapier drucken und es dann rauchen müssen, ist mir auch egal. Wir erstellen Hörbücher für zweisprachige indigene Gemeinschaften und verbreiten sie über kommunale Radiosender. Wir machen Lesereisen an Orte, die noch nie ein Buch erreicht hat. Und in diesem Sinne gibt es einen Prozess. Der Fondo ist eine Waffe der Transformation Mexikos. Wir geben nicht vor, unschuldig oder politisch objektiv zu sein.
Paco Ignacio Taibo II ist Historiker, Autor Dutzender Sachbücher und Romane sowie seit der blutigen Niederschlagung der Studierendenrevolte 1968 aus der mexikanischen Linken nicht wegzudenken. Seit 2019 steht er an der Spitze des Fondo de la Cultura Económica (FCE)
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