Waffentechnik und Klassenkampf
Wenn auch die Klassenscheidung durch die wirtschaftliche Lage bestimmt ist, so wird danach doch das politische Machtverhältnis der Klassen nur in erster Linie durch die wirtschaftliche Lage der einzelnen geregelt, in zweiter Linie aber durch zahlreiche geistige, moralische und physische Machtmittel, die wiederum durch die wirtschaftliche Klassenlage der wirtschaftlich herrschenden Klasse in die Hand gespielt sind. Den Bestand der Klassen vermögen alle diese Machtmittel nicht zu beeinflussen, da dieser Bestand durch eine von ihnen unabhängige Situation gegeben wird, die mit Naturnotwendigkeit gewisse Klassen, die selbst eine Mehrheit darstellen können, in wirtschaftliche Abhängigkeit gegenüber andern Klassen, die eine kleine Minderheit sein können, zwingen und darin halten, ohne dass daran der Klassenkampf oder ein politisches Machtmittel etwas ändern könnte. Der Klassenkampf kann also nur sein ein Kampf zur Förderung des Klassenbewusstseins einschließlich der revolutionären Tat- und Opferbereitschaft im Interesse der Klasse unter den Klassengenossen und zur Gewinnung derjenigen Machtmittel, die für die Erzeugung oder Unterdrückung des Klassenbewusstseins von Wichtigkeit sind, sowie derjenigen körperlichen und geistigen Machtmittel, deren Besitz eine Vervielfältigung der physischen Kraft bedeutet.
Aus alledem folgt, welch wichtige Rolle in den gesellschaftlichen Kämpfen die Waffentechnik spielt. Von ihr hängt es ab, ob, wenn eine wirtschaftliche Notwendigkeit dazu nicht oder nicht mehr besteht, eine Minderheit durch militärische Aktion, die »konzentrierteste politische Aktion«, in der Lage bleibt, über eine Mehrheit gegen deren Willen zu herrschen – wenigstens eine gewisse Spanne Zeit hindurch. Abgesehen von der Klassenscheidung ist die Entwicklung der Herrschaftsverhältnisse denn auch tatsächlich überall eng mit der Entwicklung der Waffentechnik verknüpft. Solange sich im wesentlichen ein jeder – auch der wirtschaftlich Schlechtestgestellte – unter im wesentlichen gleichen Schwierigkeiten im wesentlichen gleichwertige Waffen schaffen kann, wird das Majoritätsprinzip, die Demokratie, die regelmäßige politische Form der Gesellschaft sein. Das müsste selbst bei wirtschaftlicher Klassenscheidung zutreffen, sofern eben nur auch jene Voraussetzung zuträfe. Der natürliche Entwicklungsprozess ist freilich, dass die Klassenscheidung, die ja die Folge der wirtschaftlich-technischen Entwicklung ist, parallel der Ausbildung der Waffentechnik (einschließlich Fortifikation und Strategie) läuft; dass dadurch die Herstellung der Waffen mehr und mehr zu einer speziellen Berufsfertigkeit wird; dass ferner, da Klassenherrschaft in der Regel gleich wirtschaftlicher Überlegenheit einer Klasse über die andere ist und die Verbesserung der Waffentechnik zu einer sich fortgesetzt steigernden Erschwerung und Verteuerung der Waffenerzeugung führt, diese Waffenerzeugung allmählich zu einem Monopol der wirtschaftlich herrschenden Klasse wird, womit jener physische Grund für die Demokratie beseitigt ist. Dann aber heißt es: Sei im Besitze, und du bist im Recht. Auch bei Verlust der wirtschaftlichen Überlegenheit kann sich die einmal im Besitz der politischen Machtmittel befindliche Klasse mindestens zeitweilig in der politischen Herrschaft halten. (…)
Es genügt aber nicht bereits, dass alle Bürger gleich bewaffnet sind und ihre Waffen bei sich führen, um eine Herrschaft der Demokratie auf die Dauer zu sichern. (…) Die gleichmäßige Bewaffnung der gesamten Bevölkerung kann eben nur dann eine dauernde und unentziehbare sein, wenn die Waffenerzeugung selbst Allgemeingut ist.
Die demokratisierende Rolle, die die Waffentechnik spielen kann, hat Bulwer in einem seiner weniger bekannten Werke, der merkwürdigen Utopie »The Coming Race« (»Die künftige Rasse«, »Die Zukunftsgesellschaft«), in geistreicher Weise ausgemalt. Er setzt in diesem Werke eine solch hohe Entwicklung der Technik voraus, dass ein jeder Bürger durch einen kleinen, mit einer geheimnisvollen, der Elektrizität ähnlichen Kraft geladenen, leicht zu beschaffenden Stab in der Lage ist, jeden Augenblick die vernichtendsten Wirkungen zu erzeugen. Und in der Tat können wir damit rechnen, dass, wenn auch in einer fernen Zukunft, die Technik, die leichte Beherrschung der gewaltigsten Naturkräfte durch den Menschen, eine Stufe erreichen wird, die eine Anwendung der Mordtechnik überhaupt unmöglich macht, weil sie Selbstvernichtung des Menschengeschlechts bedeuten würde, und die die Ausnützung der technischen Fortschritte aus einer gewissermaßen plutokratischen wiederum in eine gewissermaßen demokratische, allgemein menschliche Möglichkeit wandelt.
Karl Liebknecht: Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung. Leipzig 1907, Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft, 126 Seiten. Hier zitiert nach: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Band I. Dietz-Verlag, Berlin 1958, Seiten 257–259
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