Stillschweigend gebilligt
Von John McAulayDie Route 505 schlängelt sich durch das Herz des Westjordanlandes. Auf beiden Seiten der Straße bestätigt sich, dass dies die angestammte Heimat der Palästinenser ist. Die sanften Hügel erstrecken sich bis zum Horizont, Olivenhaine säumen das zerklüftete Terrain. Eine dreiköpfige Familie füllt einen großen Sack mit den wertvollsten Früchten der Region, und aus ihrer übermütigen Unterhaltung dringen lose arabische Worte auf die Straße. In der Ferne liegen mehrere kleine Städte, und in den seltenen Momenten der Stille zwischen dem Verkehr kann man den Ruf zum Gebet von den wenigen Minaretten hören, die zwischen den Häusern stehen.
Doch Frieden herrscht hier nur scheinbar. Dutzende bewaffnete israelische Soldaten patrouilieren an der belebten Tapuah-Kreuzung, an der einer der wichtigsten Militärposten im Westjordanland liegt, und einige der Soldaten bewachen Bushaltestellen, die ausschließlich jüdische Fahrgäste bedienen. Ein Straßenschild in arabischer Sprache wurde beschmiert und trägt nun die Aufschrift »Tod den Arabern«. An einem Kreisverkehr demonstriert eine Gruppe israelischer Menschenrechtsaktivisten und zeigt den vorbeifahrenden Fahrzeugen Plakate mit der Aufschrift »Palestinian Lives Matter«.
Doch eines der deutlichsten Zeichen der Besetzung liegt direkt vor uns. Ein handgeschriebenes Schild in hebräischer Sprache weist nach links. Hier führt ein neu geteerter Weg den Berg Sabih hinauf. Der schwarze Asphalt hebt sich auffällig von dem braunen Boden und den grünen Sträuchern ab. Am Fuße des Weges stehen zwei Teenager mit Locken neben einer großen, handgemalten israelischen Flagge, die Passanten daran erinnert, dass dies der Eingang zu jüdischem Eigentum ist. Am oberen Ende des Weges liegt die künftige Siedlung Evyatar.
Ein Beispiel von vielen
Die Geschichte von Evyatar ist ein anschauliches Beispiel für die harte Realität, die das Westjordanland seit vielen Jahrzehnten ertragen muss. Der Außenposten befindet sich auf dem Land der palästinensischen Stadt Beita und wurde 2013 von den Israelis beschlagnahmt, als eine Art Strafe für die Ermordung von Evyatar Borovsky, einem jüdischen Siedler, durch einen palästinensischen Angreifer an der Tapuah-Kreuzung. Kurz nach ihrer Errichtung ließen israelische Beamte die Anlage, für die keine Baugenehmigung erteilt worden war, wieder abreißen. Versuche, das Land 2016 und 2018 erneut in Besitz zu nehmen, scheiterten, aber nach einem vierten Versuch im Mai 2021 stimmten die Behörden zu, die Strukturen des Außenpostens an Ort und Stelle zu lassen. Im vergangenen Jahr durften die Siedler dauerhaft zurückkehren.
Die Präsenz auf palästinensischem Land hat zu Reibereien mit Dutzenden Bauernfamilien geführt, die am Zugang zu ihren Feldern gehindert werden. Bei den daraus resultierenden wöchentlichen Protesten und Zusammenstößen mit dem Militär kamen mindestens 15 Palästinenser ums Leben und es starb auch die türkisch-US-Amerikanische Aktivistin Ayşenur Ezgi Eygi – sie wurde im September letzten Jahres bei einer Demonstration von einem Soldaten erschossen.
Derzeit leben rund 500.000 Menschen in etwa 150 Siedlungen und 225 Außenposten im besetzten Westjordanland, mit Ausnahme von Ostjerusalem. Diese jüdischen Gemeinden sind nach internationalem Recht illegal und sollten geräumt werden, wie der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem bahnbrechenden Urteil im Juli entschieden hat. Da zivile Außenposten ohne offizielle Genehmigung der Regierung errichtet werden, sind sie nach israelischem Recht ebenfalls illegal und werden in der Regel abgerissen. In den meisten Fällen werden sie jedoch später wieder aufgebaut und schließlich von den Behörden toleriert. In einigen Fällen werden Außenposten rückwirkend legalisiert und zu Siedlungen, die nach israelischem, nicht aber nach internationalem Recht legal sind.
Genau das ist mit Evyatar geschehen. Im Juni beschloss das israelische Kabinett nach einem Jahrzehnt der Streitigkeiten zwischen Siedlern und Behörden, das Legalisierungsverfahren für die Gemeinde sowie für vier weitere Außenposten im Westjordanland einzuleiten, von denen sich einer auf einer UNESCO-Weltkulturerbestätte in der Nähe von Bethlehem befindet. Diese Entscheidung war eine Vergeltung für die Unterstützung der palästinensischen Sache durch fünf Länder, darunter Spanien, Norwegen und Irland. Die Botschaft war klar und wurde vom ultranationalistischen Finanzminister Bezalel Smotrich formuliert: »Für jedes Land, das einseitig einen palästinensischen Staat anerkennt, werden wir eine neue Gemeinde aufbauen. Damit werden wir die wahnhafte Idee der Gründung eines palästinensischen Staates, der die Existenz Israels gefährden würde, zu den Akten legen.«
Oberwasser für Extremisten
Das derzeitige Koalitionskabinett gilt weithin als das extremste in der Geschichte des Landes. Die expansive Agenda wurde von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu stillschweigend gebilligt, der seine Befugnisse in dieser Angelegenheit an Smotrich – selbst ein Siedler – abgetreten hat, um sich seine Unterstützung zu sichern und die Mehrheit der Koalition zu erhalten. »Diese Leute, die zu den radikalsten und fundamentalistischsten in der israelischen Politik gehören, haben jetzt das Sagen im Westjordanland«, warnt der Aktivist Dror Etkes, Gründer der Organisation Kerem Navot.
Während frühere Regierungen noch ein gewisses Maß an Zurückhaltung an den Tag gelegt hatten, tat das derzeitige Kabinett das genaue Gegenteil. »In den letzten zwei Jahren haben die Siedler im Westjordanland den größten Handlungsspielraum, den es je gab«, sagt Etkes. In Abstimmung mit Smotrich und seinem Team von Beamten dürften diese ultranationalistischen Israelis bauen, »was sie wollen«, während Palästinenser, die versuchten, in der Region zu bleiben, »dem größten Druck aller Zeiten« ausgesetzt sind. »Ich dokumentiere die israelische Siedlungspolitik seit 23 Jahren, und so etwas habe ich noch nie gesehen«, erklärt er. Seit dem Ausbruch des Krieges im Gazastreifen hat sich die Situation noch verschlimmert. »Die Siedler nutzen Zeiten intensiver Konflikte, um zu expandieren«, sagt der Aktivist, »es gibt also einen klaren Zusammenhang zwischen der Gewalt im Gazastreifen und dem, was im Westjordanland geschieht.«
Die Daten zeigen, in welchem Ausmaß radikale Siedler seit dem 7. Oktober 2023 in palästinensisches Land eingedrungen sind. Laut einem Bericht der israelischen Organisation Peace Now wurden in dieser Zeit mindestens 43 neue Außenposten errichtet. »Im letzten Jahr haben wir viele Siedleraktivitäten in bezug auf den Bau von Gebäuden ohne Baugenehmigung, einschließlich Straßen, beobachtet«, erklärt Yonatan Mizrahi, Mitglied des Settlement Watch Teams von Peace Now und Autor des Berichts – ein »beispielloser« Anstieg.
So war es auch im Jordantal. Nur einen Kilometer von der Siedlung Mevo’ot Yericho entfernt, nordwestlich der palästinensischen Stadt Jericho, befindet sich ein kleiner Außenposten. Er wurde vor drei Jahren auf unfruchtbarem Land gegründet, aber kurz darauf von den Behörden abgerissen. In diesem Jahr beschlossen die Siedler, ihn wiederaufzubauen. Er besteht nur aus einer Handvoll Gebäude: ein einfacher Bauernhof mit einigen Hühnern und Schafen und zwei Fertighäuser. Aber niemand wohnt dauerhaft hier. Der einzige Grund für seine Existenz, so Mizrahi, ist die »Landnahme und die systematische Vertreibung der Palästinenser«. Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Regierung fast 6.000 Hektar im Westjordanland zu israelischem Staatseigentum erklärt – die gleiche Fläche wie seit der Jahrhundertwende.
Mizrahi zufolge ist die Verwaltung jetzt »viel stärker als in der Vergangenheit an der Ausweitung der Siedlerpräsenz beteiligt«. Auch der Haushalt des Siedlungsministeriums wurde verdoppelt und damit um über 300 Millionen Schekel (rund 78 Millionen Euro) aufgestockt. In der Zwischenzeit stellte Smotrichs Büro ein Budget von 75 Millionen Schekel für den Ausbau der Infrastruktur in 68 illegalen Außenposten bereit. Nach Angaben von Peace Now ist dies das erste Mal, dass die Regierung diese Ansiedlung direkt über offizielle Kanäle finanziert.
Einer der Orte, die von dieser Unterstützung profitieren werden, ist Evyatar. Der Außenposten ist an das israelische Stromnetz angeschlossen und verfügt über fließendes Wasser, aber die Versorgung ist oft instabil, und die Siedler sind auf Wassertanks angewiesen, sagt Eli, einer der Nachbarn. »Das macht das Leben hier ziemlich hart.« Eli ist ein Mann in den Vierzigern mit einem Vollbart und einem vorsichtigen Blick. Er hütet sich davor, zu viele Informationen preiszugeben, aber er möchte seiner Stimme Gehör verschaffen: »Die derzeitige Regierung hilft uns, aber sie muss noch mehr tun, damit mehr Menschen kommen«, fordert er.
Evyatar ist die Heimat von etwa 50 Familien. Die meisten von ihnen leben in einfachen Fertighäusern, die in Zukunft zu richtigen Häusern umgebaut werden sollen, aber es gibt auch eine Handvoll Zelte neuerer Bewohner, die willkürlich aufgestellt wurden. Einige Möbel, Koffer und Haushaltsgegenstände sind chaotisch über die kargen Vorgärten verstreut, von denen einige mit Kunstrasen bedeckt sind, um das zerklüftete Terrain zu verbergen. Die triste Einfarbigkeit der Betonhäuser wird nur selten durchbrochen, aber eine Wand zeigt eine Karte Israels, das sich die palästinensischen Gebiete einverleibt hat.
Eli verdeutlicht diese Haltung noch: »Unser Ziel ist es, die göttliche Verheißung zu erfüllen«, erklärt er auf die Frage, warum diese Gruppe von Israelis beschlossen hat, sich im isolierten Herzen des Westjordanlandes niederzulassen. »Der Herr sagte: ›Ich gebe euch das Land Israel‹, und wir sind hier, um es zu beanspruchen.« Diese Ansicht wird von den meisten seiner Nachbarn geteilt, da dieser Außenposten fast ausschließlich von orthodoxen Juden bewohnt wird, die sich als »Pioniere« der Bewegung zur Besiedlung des Westjordanlands betrachten.
Und wenn es darum geht, diese messianische Sichtweise zu rechtfertigen, ist alles erlaubt. Obwohl Evyatar auf Feldern gebaut wurde, die Palästinensern aus den umliegenden Dörfern gehören, behauptet Eli, dass es »Niemandsland« war, als sie kamen. »Diejenigen, die dies bestreiten, sind Lügner.« Er hat auch keine Skrupel, die Illegalität der Außenposten auf seine Weise zu tadeln. »Wir wenden das Völkerrecht an, wenn es gerecht und fair ist«, erklärt Eli. »Wenn es nicht wahr ist, können wir es nicht respektieren.«
Annexion droht
Die Regierung scheint diesen Ansatz zu teilen, die Forderungen nach einer »Annexion« des Westjordanlands wurden verstärkt. »Dieser Prozess war bereits vor dem 7. Oktober 2023 im Gange, wurde aber im letzten Jahr beschleunigt«, erklärt Mairav Zonszein, leitende Analystin bei der International Crisis Group. Seit den Osloer Verträgen in den 1990er Jahren ist das palästinensische Gebiet in drei Souveränitätsebenen aufgeteilt, wobei das Gebiet C, das etwa 60 Prozent des Landes ausmacht und die meisten jüdischen Siedlungen enthält, de facto unter vollständiger israelischer Kontrolle steht. Nun könnte die Regierung die Annexion offiziell machen. »Und sie tut das im Schatten des Krieges in Gaza«, warnt Zonszein.
Israel würde wahrscheinlich nicht die Kontrolle über das gesamte Westjordanland beanspruchen, glaubt der Aktivist Etkes, sondern nur über Gebiete mit wenigen Arabern, damit sich die Regierung nicht dem Vorwurf aussetze, einen »Apartheidstaat« zu führen. Das gesamte Gebiet zu annektieren würde bedeuten, allen drei Millionen Palästinensern, die hier leben, politische und bürgerliche Rechte zuzugestehen, was Israel nur ungern tun möchte. Etkes ist jedoch der Ansicht, dass »eine Annexion heute wahrscheinlicher ist als je zuvor« und durch die politischen und internationalen Umstände begünstigt wird. »Wir haben Extremisten, die in Israel die Regierung führen, und das Gleiche wird auf der anderen Seite des Atlantiks passieren«, argumentiert er.
Die bevorstehende Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus könnte diesen Prozess tatsächlich beschleunigen. Smotrich behauptete kürzlich, Israel sei während der ersten Amtszeit des Republikaners als US-Präsident »einen Schritt von der Annexion des Westjordanlandes entfernt« gewesen. Trumps »Friedensplan« für die Region, bei dem große Teile des Gebiets an Israel abgetreten worden wären, wurde letztendlich nicht umgesetzt. In seiner zweiten Amtszeit könnte Trump dort weitermachen, wo er aufgehört hat, und bislang hat er wenig getan, um die Sorgen über eine Annexion zu zerstreuen. Der evangelikale Hardliner Mike Huckabee, der er zum US-Botschafter in Israel ernannt hat, argumentierte in der Vergangenheit, dass das Westjordanland nicht besetzt sei und erklärte kürzlich, dass der künftige Präsident durchaus die israelische Autorität über palästinensisches Gebiet anerkennen könnte. Die mit Spannung erwartete Rückkehr Trumps ins Oval Office wurde auch von Israels extremistischen Kabinettsmitgliedern begrüßt. »Das Jahr 2025 wird, mit Gottes Hilfe, das Jahr der Souveränität in Judäa und Samaria sein«, erklärte Smotrich unter Verwendung des biblischen Namens für das Westjordanland.
Auch die Siedler sind optimistisch. In dem neuen Außenposten östlich der Siedlung Mevo’ot Yericho wischt Sigalit einen Plastikstuhl mit einem Tuch ab und stellt ihn fest auf den verbrannten und unebenen Boden, bevor sie sich setzt. »Trump war gut für Israel, und er wird wieder gut sein«, behauptet sie. »Aber wir können uns auf niemanden verlassen. Die Kontrolle über dieses Land müssen wir aus eigener Kraft erlangen.« Sie und ihr Mann leben in der Siedlung, wechseln sich aber mit anderen ultranationalistischen Israelis aus der Gegend ab, um auf dem Hof des Außenpostens zu helfen. »Wir bleiben hier präsent, um zu zeigen, dass dies unser Land ist«, sagt Sigalit. Heute wird sie von einer Gruppe Jugendlicher begleitet, die ein paar Tage »Gemeinschaftsarbeit« leisten. »Wir wollen diesen Ort so gastfreundlich wie möglich gestalten«, erklärt Sigalit, »damit eines Tages jemand ständig hier leben kann.« Es wurden bereits sichtbare Schritte unternommen und Baumaterialien auf dem Gelände verstreut. Die Wasserleitung kommt aus Mevo’ot Yericho, und am Eingang des Außenpostens installieren Techniker Solarzellen.
Im Gegensatz zu Evyatar haben hier »keine Palästinenser gelebt, und es sind nie Hirten mit ihren Tieren auf die Weide gekommen«, erklärt der Antibesatzungsaktivist Guy Hirschfield einige Tage nach dem Besuch des Außenpostens am Telefon. Allerdings bauten Siedler mehrere ähnliche Siedlungen an den Eingängen zu Jericho. »Ihr Ziel ist es, die Straßen zu kontrollieren und die Stadt zu isolieren. Dann wird es Probleme geben«, warnt er. Seine Vorahnung erweist sich früher als erwartet als richtig. Plötzlich teilt Guy mit, dass er das Gespräch abbrechen muss. »Ich erhalte einen Alarm aus der Nähe, in Mu’arrajat. Eine Gruppe von Siedlern legt sich mit einigen Palästinensern an«, erklärt er. »Ich muss los.«
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