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Aus: Ausgabe vom 30.12.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Mehr als ein Gedankenspiel

Ein halbes Jahrhundert nach der Erstausgabe endlich eine Neuauflage der Anthologie »Blitz aus heiterm Himmel«
Von Marie Hewelt
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Die Götter wollen’s wissen: Fragestunde im Hause Teiresias

Als Teiresias eine weibliche Schlange tötet, verwandelt er sich in eine Frau und lebt sieben Jahre so, bis er durch das Töten einer männlichen Schlange wieder zum Mann wird. Im Streit zwischen Zeus und Hera, ob Männer oder Frauen beim Sex mehr Lust empfinden, als Experte befragt, gibt er Zeus recht, es seien die Frauen, und wird dafür von Hera geblendet. Zeus verleiht ihm als Ersatz die Sehergabe.

Mehr als zweieinhalbtausend Jahre nach Hesiods Dichtungen erscheint in der DDR eine Sammlung von Erzählungen, die das Motiv der Verwandlung nutzen, um über Geschlechterverhältnisse zu sprechen. Zur »Widerspiegelung (…) des heutigen Gedankenstandes in der DDR über Frauenrechte, Männerrechte, Menschenrechte« erscheint 1975 im Rostocker Hinstorff-Verlag das Buch »Blitz aus heiterm Himmel«, eine Anthologie von Texten mit einem gemeinsamen Gedankenspiel: Was wäre, wenn man eines Tages sein Geschlecht vertauscht fände? Schon 1970 initiiert die Herausgeberin, Edith Anderson, das Projekt, auf die Idee gebracht durch Peter Hacks’ Drama »Omphale«. Sie fragt bekannte Autorinnen und Autoren wie Irmtraud Morgner, Günter de Bruyn, Christa Wolf an. Die Reaktionen reichen von sofortigen Zusagen zu so vehementen Ablehnungen wie der von Franz Fühmann: »Eine Frau! Das ist ja schlimmer als Kafka! Viel, viel schlimmer, als zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt zu erwachen!« Als nach jahrelangen Schwierigkeiten die Anthologie endlich erscheint, ist sie sofort ausverkauft, es gibt jedoch keine zweite Auflage. Auch antiquarisch war das Buch bisher nur noch schwer erhältlich. Es ist deswegen ein glücklicher Umstand, dass Die Andere Bibliothek nun eine Neuausgabe präsentiert.

In dieser werden die Essays und Erzählungen der Originalausgabe um einen sehr aufschlussreichen Vortrag von Anderson zur Entstehungsgeschichte und ein literaturhistorisches Nachwort von Carsten Gansel bereichert. Der Beitrag von Irmtraud Morgner, der es aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Verlag nicht in die Originalausgabe geschafft hatte, ist auch in der Neuausgabe nicht vertreten, was angesichts seiner literarischen Qualität und dem engen Zusammenhang mit den anderen Erzählungen sehr schade ist. Morgners »Gute Botschaft der Valeska in 73 Strophen« ist jedoch in ihrem berühmten Montageroman »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz« enthalten.

Die Zusammenstellung der Erzählungen ist dadurch äußerst reizvoll, dass sehr verschiedene weibliche und männliche Autoren, politisch unterschiedlich fortschrittlich und künstlerisch unterschiedlich interessant, sich den Geschlechterverhältnissen auf Basis eines gemeinsamen sozialistischen Weltbilds nähern. Am deutlichsten wird das in Annemarie Auers Essay: »Klar denkende Frauen wussten damals wie heute, dass ihre Sache nur in einer sozialen Revolution ausgefochten werden kann.«

Als die Anthologie das erste Mal herausgebracht wird, steht sie auf einem Wendepunkt in der DDR-Literatur von naturalistisch-realistischen Darstellungen zur Phantastik und erscheint fast gleichzeitig mit vielen, auch internationalen, Büchern zu Frauenbefreiung und Geschlechterverhältnis. Trotz rechtlicher Gleichstellung sind auch in der DDR die Sitten hartnäckig. »Die Wachsamkeit des Patriarchats, was seine Privilegien betrifft, ist viel größer als die Wachsamkeit von Frauen, was ihre Rechte betrifft, und das gilt für die gesamte sogenannte zivilisierte Welt.« (Anderson)

Die im Band vertretenen Erzählungen treten auf vielfältige Weise an das gemeinsame Thema heran. Büroarbeit, Wissenschaft und Haushalt treffen auf Science-Fiction und Märchenelemente. Der Geschlechtswechsel wird herbeigeführt durch Wunscherfüllung (Günter de Bruyn), Spritzen (Christa Wolf), Hexerei (Gotthold Gloger), als Strafe (Rolf Schneider) oder passiert einfach (Edith Anderson, Sarah Kirsch). Karl-Heinz Jakobs hat wohl die Aufgabenstellung nicht ganz verstanden und lässt in »Quedlinburg« das Matriarchat ausrufen. Sarah Kirschs Figur Katharina, die Solidarität und Freundschaft auf Augenhöhe in ihrer Beziehung zu Albert bisher vermisst hatte, stellt verwandelt in Max fest: »Jetzt, wo ich selbern Kerl bin, jetz kriekich die Ehmannzipatzjon.«

Carsten Gansel hofft in seinem Nachwort, dass die Anthologie als Gesprächsanlass dienen könne, für eine »lebendige Kommunikation« unter veränderten Verhältnissen. Zu besprechen gäbe es weiterhin genug.

Edith Anderson (Hg.): Blitz aus heiterm Himmel. Erzählungen. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024, 300 Seiten, 48 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael M. aus Berlin (30. Dezember 2024 um 14:06 Uhr)
    Zudem erschien in Heft 9/1975 der ndl Stefan Heyms Erzählung »Das Wachsmuth-Syndrom«. Ein junger Mann erwacht eines Morgens als Frau. Das Phänomen tritt alsbald weltweit auf, nach einiger Zeit schon bei Säuglingen. Die Rettung kommt – aus Kötzschenbroda.

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