Neue Dynamik
Von Christian Selz, KapstadtDas Zitat ist bezeichnend: »Wenn wir mit China sprechen, bekommen wir einen Flughafen; sprechen wir mit Deutschland, bekommen wir einen Vortrag«, hatte die Generaldirektorin der Welthandelsorganisation (WHO), Ngozi Okonjo-Iweala, im September 2023 befunden. Gesagt hat die Nigerianerin, die mit ihrem »wir« afrikanische Länder meinte, das nicht irgendwo, sondern als Ehrengast auf einer Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt in Berlin. Der Satz bringt jedoch nicht nur Deutschlands und Chinas jeweiliges Image im globalen Süden auf den Punkt, er beruht auch auf einer generellen Verschiebung von Kräfteverhältnissen im Welthandel. Afrikanische Staaten profitieren davon, vor allem durch ihre wachsende Rolle im Bündnis BRICS.
36 Staatschefs in Kasan
»Afrika hat seit langem Verbindungen zu westlichen Ländern, aber der Aufstieg von China und Russland, Schlüsselmitglieder der BRICS, hat den westlichen Einfluss über die vergangenen Dekaden etwas schwinden lassen«, konstatierte der englischsprachige Kanal des vom deutschen Außenministerium finanzierten Auslandssenders Deutsche Welle (DW) im Oktober dieses Jahres auf seinem Internetportal. Anlass des Artikels war das BRICS-Treffen in Kasan. 36 Staatschefs – auf die Nennung der Zahl verzichtet die DW – waren dazu ebenso wie UN-Generalsekretär António Guterres in die südwestrussische Millionenstadt gereist. Die Vertreter zweier afrikanischer Staaten – Äthiopien und Ägypten – kamen erstmals als Mitglieder der nun BRICS+ genannten Gruppe, die ihren Ursprung 2006 in einem losen Bündnis von Brasilien, Russland, Indien und China hatte, 2010 um Südafrika erweitert wurde und sich inzwischen anschickt, die Dominanz des Westens im Welthandel zu durchbrechen. Der »etwas« schwindende Einfluss in Zahlen: Knapp ein Drittel der globalen Wertschöpfung entfallen heute auf BRICS-Mitgliedsländer, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung beherbergen. Zum Vergleich: Die vorgeblichen G7, von denen einige längst nicht mehr zu den größten sieben Volkswirtschaften zählen, vereinigen nur gut ein Viertel der weltweiten Bruttoinlandsprodukte sowie etwa zehn Prozent der globalen Bevölkerung auf sich. Auch die Tendenz geht eindeutig zu Gunsten der BRICS-Länder, die ein stärkeres Wirtschaftswachstum aufweisen und durchschnittlich jüngere Bevölkerungen haben.
Doch es sind längst nicht nur die reinen Zahlen, die BRICS für afrikanische Länder zur attraktiven Gemeinschaft machen. »Einige Analysten sagen, BRICS biete Afrika mehr Mitsprache in der sich verändernden globalen Weltordnung«, heißt es bei der DW vorsichtig, ehe der Politanalyst Michael Ndimancho von der Universität Douala (Kamerun) im Artikel Klartext reden darf: »Ich sehe, dass viele afrikanische Länder beitreten, weil Afrika eine neue Weltmacht haben will, die die existierende Weltmacht zerstört.« Der Zulauf scheint entsprechend ungebrochen. Beim letzten BRICS-Gipfel waren 13 neue Partnerländer vertreten, darunter mit Algerien, Nigeria und Uganda auch drei weitere afrikanische Staaten. BRICS bringe »eine neue Dynamik«, erklärte Ndimancho, als Alternative zum »alten System«, das Afrikaner mit »Sklaverei, Sklavenhandel, Kolonialismus, Imperialismus und all dem« verbänden.
Kampf gegen Apartheid
Im Gegensatz dazu steht ein Satz des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa, dem Staats- und Regierungschef der am stärksten entwickelten afrikanischen Volkswirtschaft, der jüngst bei einem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin am Rande des Gipfels in Kasan sagte: »Wir sehen Russland weiterhin als wertvollen Verbündeten, als wertvollen Freund, der uns von Anfang an unterstützt hat, seit den Tagen unseres Kampfes gegen die Apartheid.« Über westliche Länder, die das rassistische Apartheidregime lange Jahre gestützt hatten, ließe sich ähnliches nicht sagen.
Die Betonung der historischen Verbundenheit ist zumindest zur innenpolitischen Flankierung der neuen BRICS-Ausrichtung durchaus wichtig für afrikanische Regierungen. Letztlich hängt der Erfolg des Modells aber davon ab, welchen wirtschaftlichen Nutzen die afrikanischen Staaten daraus ziehen. Und auch dabei sprechen die Kennzahlen eine klare Sprache: Allein der Handel der afrikanischen Länder mit China ist im vergangenen Jahr auf einen neuen Rekordwert von 263 Milliarden US-Dollar gewachsen – ein deutliches Plus auch im Vergleich zum Vor-Pandemie-Jahr 2019, als es 192 Milliarden US-Dollar waren.
Neue Freihandelszone
Die Entwicklung lässt sich – wenn auch in kleineren Maßstäben – durchaus auf die anderen BRICS-Mitglieder übertragen. »Über die Jahre sind diese Nationen ökonomisch stärker zusammengewachsen«, befand beispielsweise die US-amerikanische Unternehmensberatungsfirma Boston Consulting Group (BCG) in einem Bericht aus dem April dieses Jahres und konstatierte: »Der Güterhandel zwischen BRICS-Volkswirtschaften hat den Handel zwischen den BRICS und den G7-Nationen deutlich überholt.« Zwar hat das Wachstum insbesondere im Warenaustausch mit China in vielen afrikanischen Staaten auch zu einem gewachsenen Handelsdefizit geführt, doch hier sehen Experten einen Ausweg in der neu geschaffenen afrikanischen Freihandelszone African Continental Free Trade Area (Afcfta), die durch die Skaleneffekte eines gemeinsamen afrikanischen Marktes die Ansiedlung chinesischer Produzenten in Afrika begünstigen soll. 54 von 55 afrikanischen Staaten sind der Anfang 2021 offiziell in Kraft getretenen Afcfta bisher beigetreten, die Verhandlungen über Herkunftsregeln und den Wegfall von Zollschranken dauern derzeit allerdings noch an. Auch bei der Finanzierung von Infrastrukturprojekten spielt die oft als »BRICS-Bank« bezeichnete New Development Bank eine immer größere Rolle, auch wenn die Bretton-Woods-Institutionen in zahlreichen hochverschuldeten Staaten des Kontinents noch immer fest verankert sind und dies durch jüngere weitere Kreditvergaben zumindest mittelfristig auch bleiben dürften.
Abkommen mit Russland
Neben der ökonomischen hat BRICS für afrikanische Staaten aber auch eine sicherheitspolitische Komponente. Dabei spielt vor allem Russland eine dominante Rolle. Etliche Staaten, darunter alle ehemaligen portugiesischen Kolonien sowie viele lange Zeit von Frankreich dominierte Staaten, haben in den vergangenen Jahren Militärabkommen mit Russland geschlossen. Im Westen wird das derzeit zähneknirschend zur Kenntnis genommen, dem Anlegen von stärkeren Daumenschrauben scheint aber die wirtschaftspolitische Alternative, die BRICS bietet, bereits im Wege zu stehen. Wie krisenfest das Bündnis tatsächlich ist, dürfte sich spätestens dann zeigen, wenn die USA die Androhung Donald Trumps umsetzen, Produkte aus BRICS-Staaten mit 100prozentigen Einfuhrzöllen zu belegen. Falls Washington sich das überhaupt traut: Denn der Schritt würde bei allen zu erwartenden kurzfristigen wirtschaftlichen Verwerfungen zweifelsohne der stärkeren Süd-Süd-Orientierung und somit auch der ökonomischen Emanzipation des Kontinents weiteren Vorschub leisten.
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