»Es fehlt einfach an allem«
Interview: Dieter Reinisch, WienSie sind vor kurzem von Ihrem vierten Einsatz als medizinische Helferin in Gaza nach Österreich zurückgekehrt. Die Bilder und Berichte, die aus dem Gazastreifen kommen, sind verheerend. Wie ist es dort zu arbeiten?
Ich kannte Gaza davor, es war eine wunderschöne Stadt. Die Situation ist sehr angespannt. Es ist anders als in der Vergangenheit. Während des Großen Rückkehrmarschs (30. März 2018 bis 27. Dezember 2019, jW) und anderen großen militärischen Interventionen hatte es eine eindeutige Frontlinie gegeben. Doch nun ist die Front überall. Der gesamte Gazastreifen ist die Kampfzone. Auch die »grüne Zone«, die humanitäre Zone, ist kein sicherer Bereich. Du kannst Ziel der militärischen Angriffe immer und überall werden. Ich selbst habe mehrere Kollegen verloren.
Wie ist unter diesen Umständen medizinische Arbeit überhaupt vorstellbar?
Ich arbeite seit langer Zeit bei MSF und hatte sehr viele Notfalleinsätze in unterschiedlichen Regionen. Aber ich habe niemals so viel Leid gesehen wie bei meinen letzten beiden Einsätzen in Gaza. Die tägliche Arbeit ist sehr schwierig. Verglichen mit anderen Notfallmissionen, sind wir derzeit in Gaza niemals sicher. Wir müssen unter enormen Druck arbeiten. Wir können jederzeit Opfer von Geschossen werden. Medizinische Güter sind kaum vorhanden. Die Grenzen sind geschlossen. Wir bringen in den Gazastreifen, was wir können, aber der Bedarf an medizinischen Produkten ist sehr viel höher. Wir können also nicht so arbeiten, wie es in anderen Krisensituationen üblich ist, und das macht für uns die Lage noch viel schwieriger.
Was waren Ihre ursprünglichen Beweggründe, mit Ärzte ohne Grenzen – Médecins Sans Frontières – an solchen Einsätzen teilzunehmen?
Ich bin Apothekerin. Schon bevor ich meine Ausbildung begonnen hatte, war es mein Traum, mich MSF anzuschließen. Ich wollte Menschen in Not helfen, ihnen helfen, in Würde leben zu können. Ich war daher sehr stolz und glücklich, als ich das erste Mal die Möglichkeit bekam, in den Gazastreifen zu gehen. Ich war bisher viermal bei Einsätzen dort, davon zweimal während des aktuellen Kriegs (nach dem 7. Oktober 2023, jW).
Mehrere Ihrer Kollegen wurden während der Einsätze getötet. Welche Auswirkungen hatte das auf Ihre Arbeit in Gaza?
Ich habe Angst, weitere zu verlieren. Die Menschen, mit denen ich arbeite, sind nicht mehr nur meine Kollegen. Du lebst mit ihnen, du arbeitest mit ihnen und so werden sie Teil deiner Familie. Ich habe Kollegen von mir auf eine Amputation ihrer Gliedmaßen vorbereiten müssen und manche habe ich sogar verloren. Das ist meine größte Furcht. Es geht nicht so sehr um mich selbst. Hätte ich Angst um mein eigenes Leben, wäre ich nicht in der Lage, diese Arbeit überhaupt zu machen. Aber das Gefühl, jemanden zu verlieren, und zu wissen, man kann überall und zu jederzeit jemanden, der dir nahesteht, verlieren, macht es sehr schwer.
Besonders schlimm war es zu Beginn des Kriegs, als das Essen ausging und der Hunger begann. Es gab nicht genug Milch, damit Mütter ihre Babys füttern konnten. Die Mütter kamen in das Medizinzelt und flehten uns auf Knien an, ihnen Heilnahrung für ihre Babys zu geben. Das war der schwierigste Moment für mich.
Die Lage dürfte sich seitdem weiter verschlechtert haben.
Die Menschen sind gewillt, mit sehr wenig zu überleben. Aber die grundlegenden Dinge sind nicht vorhanden: Es gibt nicht ausreichend Nahrungsmittel, im Grunde gibt es fast gar nichts zum Essen. Es gibt keinen Zugang zu sauberen Wasser. Es gibt nicht einmal irgendwelche ordentlichen Unterkünfte – und da rede ich gar nicht von einem vernünftigen Zelt. Es gibt nicht einmal mehr Plastikplanen. Es fehlt einfach an allem.
Was die Menschen jetzt brauchen, ist Aufmerksamkeit. Die Welt muss sehen, was dort geschieht. Es gibt so viele Dokumentationen über das Leid. Die Weltbevölkerung muss das endlich anerkennen und darauf reagieren.
Kader Karlıdağ lebt in Niederösterreich, ist Pharmazeutin und seit zehn Jahren humanitäre Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« (MSF)
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