Wien: Kickl darf ran
Von Dieter Reinisch, WienIn der österreichischen Bundeshauptstadt Wien überschlugen sich am Wochenende die innenpolitischen Ereignisse: Nachdem am Freitag vormittag die liberalen Neos ihre Teilnahme an den Verhandlungen für eine Dreierkoalition aufgrund »unüberbrückbarer Differenzen«, vor allem mit der sozialdemokratischen SPÖ, zurückzogen, krachten die Verhandlungen vollends am späten Samstag abend. Die konservative ÖVP brach die Gespräche mit der SPÖ ab.
Am Sonntag vormittag traf sich der ÖVP-Parteivorstand im Bundeskanzleramt, denn zuvor hatte der bisherige Parteichef und Kanzler Karl Nehammer seinen Rückzug angekündigt. Der innerparteiliche Druck auf ihn war zuletzt gestiegen. In diese Richtung äußerte sich in einem Pressegespräch am Samstag auch SPÖ-Chef Andreas Babler. Andere Kräfte in der ÖVP hätten die Verhandlungen nicht gewollt: »Jener Flügel hat sich durchgesetzt, der von Anfang an mit der FPÖ geliebäugelt hat.« Dazu wird es nun kommen.
Laut SPÖ-Informationen sollen die Neos eine Erhöhung des Pensionsalters, keine Anpassung bei Pensionen in den nächsten drei Jahren, Gehaltskürzungen bei Lehrern, Pflegern, Polizei und Bundesheer in den kommenden beiden Jahren und Einsparungen von 20 Prozent im Gesundheitswesen gefordert haben. »Eine Sanierung der Staatsfinanzen ist außer Zweifel«, sagte Babler, doch seien die Vorstellungen zu weit auseinander gelegen. Aus den Kreisen der anderen Parteien ist zu vernehmen, dass Babler nicht von einer Vermögenssteuer abrücken wollte.
Die ÖVP-Spitze beschloss schließlich, Christian Stocker als neuen Parteichef einzusetzen. Der scheidende Bundeskanzler Nehammer begab sich daraufhin über den Ballhausplatz zum Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen (Grüne). Nach einem kurzen Treffen trat Van der Bellen um 15 Uhr vor die Medien. Nehammer habe ihm versprochen, der Übergang werde geordnet ablaufen: »In der kommenden Woche wird ein neuer Kanzler der Übergangsregierung von mir betraut«, so Van der Bellen.
Im Herbst habe er dem Parteichef der stimmenstärksten Partei, Herbert Kickl von der rechtspopulistischen FPÖ, nicht den Auftrag zur Bildung einer Regierung gegeben, da er »leere Kilometer vermeiden wollte«. Denn damals hätten Babler und Nehammer deutlich gemacht, nicht mit der FPÖ koalieren zu wollen: »Seit gestern hat sich die Situation geändert. Karl Nehammer zog sich zurück und hat den Regierungsbildungsauftrag zurückgelegt.«
Nun seien die Stimmen in der ÖVP, die sich einer Koalition mit der FPÖ verweigern, »deutlich leiser«. Bisher hatte Van der Bellen immer betont, dass er Kickl weder als Bundeskanzler noch Minister angeloben würde. Dies dürfte sich nun geändert haben, wie aus dem Pressestatement von Sonntag nachmittag zu vernehmen ist. Nun seien Kompromisse notwendig, ergänzte der Bundespräsident.
Am heutigen Montag trifft sich Van der Bellen um 11 Uhr mit dem FPÖ-Chef zu einem Gespräch. Es wird erwartet, dass er ihm da den Auftrag zur Bildung einer Regierung geben wird.
Auch der neue ÖVP-Chef Stocker, der bisher als einer der Gegner einer Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen galt, will mittelfristig an der Parteispitze bleiben und dürfte somit Vizekanzler unter einer kommenden Koalition aus FPÖ und ÖVP werden. Aus dem Pressestatement von Stocker und einem ORF-Interview mit dem Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer nach der Rede von Van der Bellen war zu vernehmen, dass die ÖVP in Regierungsverhandlungen mit der FPÖ eintreten wird.
Von der Bundes-FPÖ gab es bis Redaktionsschluss keine Reaktionen. In einer Presseaussendung schrieb der Landesparteiobmann der FPÖ Oberösterreich und stellvertretende Landeshauptmann Manfred Haimbuchner am Sonntag, der Bundespräsident habe »durch seinen Regierungsbildungsauftrag an Nehammer, der von Beginn an zum Scheitern verurteilt war, unser Land an den Rand einer veritablen Staatskrise manövriert«. Er verlange, dass »der Wählerwille endlich akzeptiert und umgesetzt werde«.
Laut einer am Sonntag in der Kronen Zeitung veröffentlichten Umfrage liegt die FPÖ mittlerweile bei 37 Prozent – 16 Prozent vor der zweitplatzierten ÖVP.Siehe Kommentar Seite 8
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. Januar 2025 um 13:22 Uhr)Ein neues Gespenst geht um in Europas Demokratien – das Gespenst der Unregierbarkeit. Ende des Jahres brachen die Regierungen in Frankreich und Deutschland zusammen, die Regierungsbildung in den Niederlanden war äußerst kompliziert. Jetzt das Scheitern der Verhandlungen in Österreich. Es gibt einen Trend des stetigen Erstarkens der extremen Rechten. Sie profitiert von zahlreichen Krisen, von Schwierigkeiten bei der Integration von Einwanderern, vom Aufstieg sozialer Netzwerke auf Kosten traditioneller Medien und vom allgemeinen Pessimismus in Europa. Die Bildung von Koalitionen ohne die Beteiligung dieser Parteien wird – wie die aktuellen Entwicklungen in Österreich zeigen – immer schwieriger.
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