Opportunismus als Symptom
Von Ingar SoltyEduard Bernstein ist der Begründer des Revisionismus in der Arbeiterbewegung, der sich nach dem Tod von Friedrich Engels im Jahr 1895 gegen zentrale Grundgedanken des für sie bis dahin grundlegenden Marxismus wendet. Nach der auch organisatorischen Spaltung der Arbeiterbewegung in eine weltkommunistische und weltsozialdemokratische Parteitradition dient er der Sozialdemokratie als ideelle Rechtfertigung für Reformismus und Opportunismus gegenüber den ökonomisch und politisch Herrschenden. Zugleich überhöht es die theoretische Bedeutung Bernsteins, ihn als Urheber dieser Spaltung zu identifizieren. Vielmehr ist er als ein Symptom einer Spaltung zu begreifen, die in der politischen Praxis der Arbeiterbewegung längst angelegt war. Trotzdem oder gerade deswegen lohnt die Auseinandersetzung mit Bernstein, weil er als Theoretiker heute selbst für das Selbstverständnis der sozialdemokratischen Parteienfamilie keine Rolle mehr spielt, aber das Symptomatische an Bernstein bis heute fortlebt.
Eduard Bernstein wird 1850 im heutigen Berliner Ortsteil Schöneberg als Sohn eines Lokomotivführers geboren. Die Familie gehört dem Reformjudentum an, der Sohn ist jüdisch sozialisiert, wird jedoch später im Alter von 27 Jahren aus der Gemeinde austreten. Die Eltern, progressive Liberale, schicken den Sohn aufs Gymnasium, aber aufgrund von Geldproblemen muss Bernstein die Schule im Alter von 16 Jahren verlassen und eine Lehre zum Bankkaufmann absolvieren. Bis 1878 wird er als Bankangestellter tätig sein.¹
Anhänger der Eisenacher
Im Alter von 22 Jahren stößt er zur Arbeiterbewegung. Berlin wird in dieser Zeit noch von den Lassalleanern dominiert, die, so Bernstein in einer autobiographischen Schrift, »alles mögliche aufboten, die Partei Bebels und Liebknechts in Berlin nicht aufkommen zu lassen«². Trotzdem wird Bernstein ein Anhänger der »Eisenacher«, die im Geiste von Marx und Engels und unter der Führung der Reichstagsabgeordneten August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) gegründet haben. Bernstein ist von den Marxschen Ideen begeistert. Im Februar 1872 besucht er eine Veranstaltung der »Berliner Organisation der Internationalen Arbeiterassoziation«.³
Es ist das Jahr eins nach der Pariser Kommune und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs. Bebel hält im Reichstag eine skandalträchtige Rede, in der er die Kommune als Vorbild für den »Volksstaat« preist, der auf die kommunistische Revolution des Proletariats entstehen soll. Bernstein schreibt in dieser Zeit ein Dramolett über einen »Flüchtling der Kommune«, der in einem französischen Dorf »Landleuten die Bestrebungen, Kämpfe und Schicksale der Pariser Kommune« nahezubringen versucht. Das verlorengegangene Manuskript sei, erinnert sich Bernstein, in seiner »Darstellung von Anfang bis zu Ende der von Karl Marx verfaßten Ansprache des Generalrats der Internationale ›Der Bürgerkrieg in Frankreich‹« gefolgt, »die mich in höchstem Grade hingerissen hatte«.⁴ Bernstein sieht sich auch rückblickend in der Rolle des »werdende(n) Agitator(s)«, der die Marxschen Ideen im Volk verbreitet. Er hält Vortragsreisen im Berliner Umland – von Luckenwalde und Jüterbog bis Dahme und Bernau – und macht sich auch in Berlin einen Namen. Bald unterstützt er Bebel und Liebknecht bei den Vorbereitungen der Vereinigung der SDAP mit dem einst von Lassalle gegründeten und weiterhin dessen Ideen folgenden Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP).
1875 wird die Vereinigung in Gotha vollzogen. Das Gothaer Programm, das sich die neue Partei gibt, erzürnt Marx aufgrund der Kompromisse, die die »Eisenacher« mit den Lassalleanern eingehen. Mehrfach droht er mit seinem »Austritt« aus der Partei. Statt gemäß den innerparteilichen Kräfteverhältnissen inhaltliche Zugeständnisse gegenüber illusionären reformistischen Auffassungen und nationalen, opportunistischen Haltungen der Lassalleaner zu machen, sollten sie sich strategisch lieber auf die Arbeiter konzentrieren, die weder Lassalleaner noch Marxisten seien, aber der revolutionären Ideen bedürften und das Kräfteverhältnis zugunsten der Marxisten verschieben könnten. Der Streit ist symptomatisch und Vorbote einer Zukunft, in der Bernstein eine zentrale Rolle spielen wird – dann aber auf der Seite des Reformismus.
Verbot und Exil
Bernstein ist zu dieser Zeit noch kein Funktionär. Seine Parteiarbeit tätigt er nach getaner Arbeit im Bankgeschäft der Gebrüder Rothschild. 1878 tritt er jedoch als Sekretär in den Dienst von Karl Höchberg, der als »Sohn eines reichen jüdischen Bankiers« einen großen Teil seines Erbes der SAP zur Verfügung stellt und von Zürich aus das Organ Die Zukunft herausgibt.⁵ Im gleichen Jahr wird die Partei wegen staatsfeindlicher »Umtriebe« verboten und darf außerhalb des Reichstags nicht mehr öffentlich auftreten. Dies führt dazu, dass Bernstein, als er am 12. Oktober seine Reise in die Schweiz antritt, nicht ahnt, »daß sie mich zugleich auf über zwanzig Jahre von meinem Heimatland und meiner Vaterstadt Berlin trennen sollte«.⁶
In Zürich tritt Bernstein nun 1880, gerade einmal 30 Jahre alt und wohl auf Vorschlag von Karl Kautsky, dem Bernstein 1877 zum ersten Mal begegnet,⁷ in die Zürcher Redaktion der im Vorjahr gegründeten Zeitung Der Sozialdemokrat ein, deren Herausgeber er alsbald wird. Im selben Jahr, Ende November 1880, lernt Bernstein in London auch Marx und Engels kennen. Engels Schrift »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft« beeinflusst sein bis dahin immer noch rudimentäres Marxismusverständnis stark. Der Sozialdemokrat ist das praktisch-politische Gegenstück der Neuen Zeit, des Theorieorgans der Partei, das von Karl Kautsky im marxistischen Geist redigiert wird. Marx und Engels sind mit der Entwicklung der SAP weiterhin unzufrieden und die Umstände der Gründung des Sozialdemokraten »erbittert« sie besonders , wie Bernstein in seinen Memoiren schreibt. Der Zürcher Redaktionsgruppe um Bernstein gegenüber hätten sie besonders »großes Mißtrauen empfunden«.⁸ Bebel, der zu dieser Zeit noch als Parteifreund Bernstein begleitet, schildert diese Reise später als den »Kanossagang nach London«.
Trotzdem führt das Spannungsverhältnis zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer tagespolitischer Praxis unter den Bedingungen des Parteiverbots noch nicht zum offenen Streit. Bernstein selbst sieht sich noch als »Marxist« und noch nicht als »Revisionist«, wie er selbst die Phasen seiner Entwicklung kennzeichnet. Über den »Marxisten« Bernstein schreibt er: »Wenn etwas geeignet war, mich in meiner Überzeugung zu festigen, so die enge Freundschaft, die sich nun auf Grund der Ideengemeinschaft zwischen Kautsky und mir entwickelte. Wir ergänzten einander insbesondere darin, daß ich mehr als er mit der praktischen Bewegung verbunden, er aber in ganz anderem Grade als ich in der Wissenschaft zu Hause war.« Zugleich habe »für mich die Gefahr nahe(gelegen)«, »den Sinn für die tieferen Probleme der Bewegung zu verlieren und über der Beschäftigung mit Tagesfragen allmählich völlig zu verflachen«.
Für den Sozialdemokraten schreibt Bernstein nun unter dem Pseudonym »Leo« verschiedene programmatische Texte, über »Das Recht auf Arbeit« (1883), »Der Sozialismus und der Staat« (1884) und »Zur Naturgeschichte der Volkspartei« (1884). Überhaupt entfaltet Bernstein als sozialistischer Intellektueller eine breite Publizistik: In Der Sozialdemokrat, den Sozialistischen Monatsheften, der Neuen Zeit und Soziale Praxis erscheinen hunderte Artikel. Fast im Jahresrhythmus veröffentlicht er Monographien und agiert auch als Herausgeber.
Eine Rückkehr nach Deutschland schließt sich für Bernstein weiterhin aus. Wegen »Majestätsbeleidigungen« in einer Reihe von Artikeln droht ihm eine Haftstrafe von 15 bis 20 Jahren.⁹ Da Bernstein aber auch in der Schweiz nicht bleiben kann – der Staat Preußen veranlasst seine Ausweisung –, übersiedelt er 1888, ein Jahr nach seiner Eheschließung mit der geschiedenen Übersetzerin Regina Zadek (1849–1923), nach London. In der englischen Hauptstadt wird Bernstein bleiben, bis 1901 der in Deutschland gegen ihn vorliegende Haftbefehl aufgehoben wird und er nach Berlin zurückkehren kann.
Einfluss der Fabier
Die Zeit in England prägt Bernstein, da er hier Einflüsse des reformistischen »Fabianismus« aufnimmt. Er nimmt am Vortragszyklus der »Gesellschaft der Fabier«, einer Gruppe von Intellektuellen um George Bernard Shaw und Beatrice und Sidney Webb, teil, die vor dem Hintergrund der – wenigstens nach innen – vorherrschenden Liberalität und leidlichen Demokratisierung des British Empire eine evolutionistische Vorstellung vom Sozialismus entwickeln. Bernstein wird selbst zum »Fabier«.
Zugleich tritt Bernstein in London in noch engeren Austausch mit Engels, dessen Mitstreiter Marx 1883 gestorben ist. Engels hat drei Jahre vor Bernsteins Ankunft den zweiten Band von Marx’ unvollendet gebliebenem Hauptwerk »Das Kapital« (1867) aus dem Nachlass herausgegeben und ist nun damit befasst, den dritten Band aus Marx’ Notizen selbst zu erarbeiten, während er zugleich bemüht ist, die historisch-materialistische Denkbewegung auf weitere Gegenstände, Felder und geschichtliche Epochen anzuwenden und die marxistische Orientierung der immer noch verbotenen Partei zu fördern.
Als das Parteiverbot 1890 aufgehoben wird, ist die Partei programmatisch marxistischer denn je. Das »Erfurter Programm« vom Oktober 1891 atmet den Geist von Marx, verstärkt auch durch seine »Kritik des Gothaer Programms«, die Engels Anfang Januar posthum in der Neuen Zeit plaziert hat. Zugleich entfalten sich nach Aufhebung des Parteiverbots die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, zwischen Revolution und Reform.
Das Einfallstor für den Revisionismus ist die Agrarfrage. Bernstein selbst erkennt den Zusammenhang noch zu Lebzeiten, wenn er rückblickend schreibt, er habe bei einigen »Einwänden« gegen Marx das Gefühl gehabt, »daß sie ernsthaft nachgeprüft sein wollten«, weswegen er »lieber zunächst stillschweigend über sie hinweggegangen« sei, »als sie mit Hilfe dialektischer Künste für beweislos zu erklären«. So sehr aber er sich »innerlich dagegen« gewehrt habe, »zogen Zweifel bei mir ein an Sätzen, die ich bis dahin für unwiderleglich gehalten hatte, und die nächsten Jahre brachten mancherlei, was diese Zweifel noch bestärkte. Besonders zu erwähnen wären davon die mit dem Jahre 1894 einsetzenden Debatten in der deutschen Sozialdemokratie über die Agrarfrage.«
Die Agrarfrage
Die Agrarfragendebatte entzündet sich am Streit über die Konkurrenzfähigkeit des Kleinbetriebs, sowohl im Gewerbe als auch und vor allem in der Landwirtschaft. Bernstein widerspricht der Marxschen Annahme von der Polarisierung der Klassen, also der These, dass mit der kapitalistischen Entwicklung die Konzentration und Zentralisation von Kapital voranschreitet und die ökonomischen Zwischenklassen durch Proletarisierung verschwinden, zugunsten einer kleinen Bourgeoisie-Minderheit und einem großen Heer der Eigentumslosen, die keinen Zugang mehr zu Produktionsmitteln haben und darum vom Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware leben müssen. Die »eingehenden Erörterungen über die Lebensfähigkeit und Leistungskraft des kleinen Betriebs in der Landwirtschaft und damit der Klasse der Bauern« ließen, so Bernstein, »soviel erkennen (…), dass, wenn das Erfurter Programm die Bauern als eine der ›versinkenden Mittelschichten‹ aufführt, dies bestenfalls nur mit sehr großen Einschränkungen der Wirklichkeit entsprach; und die Ergebnisse der Betriebs- und Gewerbezählung von 1895 bestätigten diese Folgerung«.
Auch und gerade weil die von Otto Braun und anderen angestellten Bemühungen um die Organisation insbesondere der Landarbeiterklasse schleppend bis gar nicht vorankommen, vor allem in den ostelbischen Gebieten, wo noch die Gutsherrschaft dominiert, stellt sich um so stärker die Frage, welcher Weg zum Sozialismus führt. Mit dem wachsenden parlamentarischen Erfolg der Sozialdemokratie rückt auch Engels von der Vorstellung einer gewaltsamen Revolution einer größeren Minderheit ab. Die Weiterentwicklung der Wehrtechnik, die neue Städtebauweise usw. würden es der Bourgeoisie sehr erleichtern, einen solchen Aufstand militärisch niederzuschlagen. Der parlamentarische Siegeszug würde der Bourgeoisie darum sehr viel größere Angst bereiten.
Damit erscheint die fabianische Vorstellung vom »parlamentarischen« oder »republikanischen Sozialismus«, der durch wachsenden Erfolg bei betrieblichen Arbeitskonflikten und Wahlen allmählich – aber eben ohne Zusammenbruch und revolutionären Bruch – in den Sozialismus hinüberwächst, plausibel. Parlamentarischer Sozialismus aber setzt Mehrheiten voraus. Die Annahme, dass das kleine Eigentum sich hält und das Industrieproletariat dauerhaft eine Minderheit bleiben wird, gebiert aber die Frage, wie die Arbeiterbewegung zur Mehrheit werden kann, wenn nicht durch den Prozess der kapitalistischen Entwicklung selbst. Zusammen mit den aufgrund der bäuerlichen Struktur Bayerns tagespolitisch-pragmatischen süddeutschen Sozialdemokraten drängt Bernstein darauf, den (Klein-)Bauern, die vor allem hier, wo Grundherrschaft dominiert, unter Besitzteilungen, Kreditnot und anderen Formen des Kapitalismus leiden, ein Angebot zu machen. Die Frage ist schließlich: Wie adressiert man sie – als Proletarier in spe oder als ökonomische Zwischenklassen mit womöglich eigenem Interesse am Sozialismus?
Damit verknüpft ist die Frage, ob der Sozialismus also nicht die ausschließliche Weltanschauung der Arbeiterklasse und die sozialistische Partei nicht das (ausschließliche) Vehikel ihrer Selbstorganisation und Selbstbefreiung bildet, sondern auch andere Gesellschaftsklassen vom Sozialismus profitieren und für ihn gewonnen werden können. Außerdem stellt sich bei der Annahme, dauerhaft eine gesellschaftliche Minderheitenklasse zu repräsentieren, die Frage nach der Öffnung zugunsten der bürgerlichen Parteien der anderen Klasse. Die Frage steht erstmals im Raum: Könnte es nicht womöglich Koalitionsregierungen mit ihnen geben?
Dialektik als Metaphysik
Besonders selbstverständlich stellen sich diese Fragen angesichts der Tatsache, dass zunehmend neue Gesellschaftsklassen in die Sozialdemokratie strömen. Hierfür verantwortlich ist eine Mischung aus drei Faktoren: 1. die Aufhebung des Parteiverbots 1890, 2. der politische Erfolg der Partei – denn auch während der Zeit der Illegalität darf sie noch zu Wahlen antreten –, der ihren Positionen mehr Legitimität verschafft, und 3. die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit mit breiter Publizistik und einer neuen Zwischenklasse, der »Intelligenzija«, die sich aufgrund der ersten beiden Faktoren nun auch von der Partei angezogen fühlt.
Im Streit mit den sich hieraus rekrutierenden, verbal- und linksradikalen »Jungen«, die teilweise – wie der Schriftsteller Paul Ernst – später ganz, ganz rechts im Präfaschismus enden werden, ziehen Bernstein, dem die »Revolutionäre der Phrase« zuwider sind, Engels, Bebel, Liebknecht und Kautsky noch am selben Strang, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Die Angst, dem Klassenfeind kurz nach der Wiederzulassung der Partei Munition zu liefern, die Partei wieder zu verbieten, ist groß. Die Partei hat jetzt, da sie etwa ein Fünftel der Wähler hinter sich versammelt, viel zu verlieren. Aber was bei Engels, Bebel und auch bei Liebknecht eine veränderte Taktik für den Moment ist, ist bei Bernstein eine Haltung und grundsätzliche Strategieänderung in Richtung reformistischer Illusionen.
Sie geht damit einher, dass Bernstein den dialektischen und historischen Materialismus von Marx und Engels als Metaphysik verwirft und die Öffnung der Sozialdemokratie für das in dieser Zeit in der Intelligenzija populäre Denken des »Neukantianismus« fordert. Sein »ethischer Sozialismus« ist nun einer, der nicht mehr primär klassenbasiert ist, sondern das Proletariat als eine Gesellschaftsgruppe neben vielen für den Sozialismus gewinnen will. Dabei sagt er offen, dass ihn das »Endziel« nicht interessiere, sondern nur die Bewegung.
Engels allerdings verkennt lange, wie stark Bernstein von den »Fabians« beeinflusst ist, wenn er im Herbst 1892 im Austausch mit Bebel von »Edes komischem Respekt vor den Fabians« spricht. Bebel sieht, obschon weiter weg, das Problem schärfer, erkennt, dass es um Substantielleres geht, wenn er schreibt, dass es »doch wirklich lächerlich« sei, »daß Ede so auf die Fabians hält«. Später glaubt Engels, dass Bernsteins »Fabierschwärmerei«, wie er sie nennt, sich wieder legen werde, »wenn man nicht auf dem Thema herumreitet«. Es ist ein fataler Irrtum, den Bebel erkennt: »Ede schreibt heute wieder in seiner schwachmatigen Weise, die nicht Fisch noch Fleisch ist, im Vorw(ärts). Es wird ihm gar nichts schaden, wenn Ihr ihn ein wenig ins Gebet nehmt und ihm die Ohren steif macht.« Später, im Herbst 1894, klagt Bebel über Bernstein, dessen Bemühung um »Objektivität« er verspottet: »Ede wird in seinen Berichten immer lahmer und diplomatischer; man merkt, daß er ganz und gar der Fühlung mit den praktischen Verhältnissen und der Agitation beraubt ist; man könnte seine Korrespondenzen entbehren, ohne viel zu verlieren.«
1895 stirbt auch Engels, der mit seiner Kritik der althergebrachten Revolutionsvorstellung der Vorstellung von einem parlamentarischen Weg zum Sozialismus den Weg bereitet. Nach seinem Tod schreibt Bernstein zwischen 1896 und 1898 unter dem Titel »Probleme des Sozialismus« eine Reihe von Artikeln in Kautskys Die Neue Zeit, in denen sein Revisionismus zusammengefasst ist. 1899 erscheinen die Artikel in dem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«.
Bebel schlägt zurück
Der Konflikt ist jetzt unausweichlich. Schon als Bernstein Anfang 1898 einen Streik der englischen Maschinenbauer verurteilt, sieht sich Bebel bestätigt: »Was würde Engels sagen, sähe er heute, wie E(de) alles untergräbt, was er einst selbst hat helfen aufbauen.«¹⁰ Bebel bringt Bernsteins Haltung erstmals als »Opportunismus« auf den Begriff und sorgt sich um einen Mangel an Objektivität Bernsteins bei der Nachlassverwaltung von Marx und Engels, zu der dieser gemeinsam mit Bebel beauftragt ist. Schließlich sieht er Bernstein für ganz verloren an. Er sei »unverbesserlich«, der »Konflikt«, sofern er nicht in »eine total andere Umgebung« käme, unbedingt auszufechten. Das Ergebnis ist, dass Kautsky, der Bernstein noch zur Buchpublikation der Neue Zeit-Aufsätze ermutigt hatte, ihn jetzt – in Verteidigung des Marxschen Denkens – noch im selben Jahr einer harten »Antikritik« unterzieht: »Bernstein und das Sozialdemokratische Programm«. Zusammen mit der Parteiführung um Bebel und Liebknecht erwägt Kautsky auch den Parteiausschluss Bernsteins.
Die Aufhebung des Haftbefehls in Deutschland, die 1901 erfolgt, erlaubt es Bernstein, nun stärkeren Einfluss auf die ideologische und politisch-strategische Entwicklung der 1890 in SPD umbenannten Partei zu nehmen. Es ist müßige Spekulation, ob der Haftbefehl auch mit Blick auf Bernsteins entradikalisierende Wirkung auf die Sozialdemokratie aufgehoben wurde. Selbst wenn solche Überlegungen bestanden haben sollten, war Bernstein doch eben eher Symptom, aber nicht Ursache einer schleichenden Verstaatlichung und Nationalisierung der Vorkriegssozialdemokratie.
So oder so: Von Kautsky, Rosa Luxemburg und Lenin als Renegat und bürgerlicher Reformist attackiert, kehrt Bernstein nach Deutschland zurück. »Von der Heftigkeit der Reaktionen in der Partei auf seine kritischen Bestrebungen überrascht, bemühte er sich nun um eine rasche Rückkehr in die deutsche Partei, weil er seine Sache in ihren Reihen selbst vertreten wollte.«¹¹ Bernstein kandidiert für den Reichstag. Als Vertreter des rechten Parteiflügels zieht er schon 1902 ins Parlament ein.
Bebels Kampf gegen den »Revisionismus« scheint aber zu diesem Zeitpunkt gewonnen. Nachdem Bernstein für seinen Vortrag »Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« scharfer Kritik von allen Seiten ausgesetzt ist, frohlockt Bebel, dass es mit dem Opportunisten »rasch bergab geht und seine Person bald nur noch ein pathologisches Interesse erzeugt«.¹² 1903 gelingt es Bebel, dass der »Dresdner Parteitag mit großer Mehrheit eine Resolution gegen Bernsteins Bestrebungen« einer Anpassung an den Status quo beschließt.¹³
Bernstein gibt seinen Kampf im Grunde genommen auf. Aber die schleichende »negative Integration« der Vorkriegssozialdemokratie, die sich im Versagen der Arbeiterbewegung zeigen wird, den imperialistischen Weltkrieg, vor dem Engels schon seit 1887 gewarnt hat, durch einen internationalen Generalstreik zu verhindern, wirkt strukturell. Mit Unterbrechung zwischen 1907 und 1912 sowie 1919 gehört Bernstein dem Parlament noch bis 1928 an, das heißt bis ins hohe Alter von 78 Jahren. Wieder in Berlin verankert, veröffentlicht er zwischen 1907 und 1910 auch eine dreibändige »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung«. 1932 stirbt er schließlich im Alter von 82 Jahren, nur sechs Wochen vor der Machtübertragung an Hitler.
Säulenheiliger
Nach seinem Tod wird über Bernstein ausgiebig gestritten. Von der parteiförmigen Sozialdemokratie, die sich nach 1918 ganz zum Reformismus bekennt, den revolutionären Sozialismus als »Bolschewismus« bekämpft und mit dem »Godesberger Programm« von 1959 endgültig den Übergang von der Klassen- zur Volkspartei vollzieht, wird Bernstein lange zum Säulenheiligen erklärt und als Kronzeuge für den Opportunismus auserkoren. In den 1960er Jahren des wohlfahrtsstaatlich eingehegten Kapitalismus, als eine neoliberale Wende wenigstens Sozialdemokraten undenkbar scheint, proklamiert der SPD-Politiker Carlo Schmid, einer der Autoren des Grundgesetzes und des Godesberger Programms und späterer Minister im Kabinett des Exnazis Kurt Georg Kiesinger, »mit Bezug auf die ganze westeuropäische Arbeiterbewegung und ihre Entwicklung«: »Eduard Bernstein hat auf der ganzen Linie gesiegt!«
Mit der neoliberalen Wende wankt die Vorstellung von der graduellen Einhegung und Zivilisierung des Kapitalismus. Aber nicht diese Tatsache schwächt Bernsteins Bedeutung in der Sozialdemokratie, im Gegenteil. Nach dem Untergang des sich auf den Marxismus-Leninismus berufenden Realsozialismus verliert er in SPD und Arbeiterbewegung weitgehend seine Funktion als Kronzeuge gegen radikalere, antikapitalistische Haltungen. Dies gilt um so mehr, als sich »1989« auch zersetzend auf die Sozialdemokratie auswirkt, die sich in dieser Zeit zum Neoliberalismus häutet. In der SPD, die sich stolz auf ihre Geschichte beruft, aber ungern daran erinnert wird, weshalb sie sich auch keine Historische Kommission mehr leistet, gerät Bernstein nun weitgehend in Vergessenheit. Zuletzt hat sich Tom Strohschneider, ein Befürworter der gescheiterten »Rot-Rot-Grün«-Strategie bemüht, ihn für die Linkspartei zu reklamieren.
Anmerkungen:
1 Thomas Meyer: Eduard Bernstein (1850–1932). In: Walter Euchner: Klassiker des Sozialismus, Bd. 1: Von Babeuf bis Plechanow, München 1991, S. 205
2 Eduard Bernstein: Sozialdemokratische Lehrjahre. Entwicklungsgang eines Sozialisten, Berlin 1991, S. 15
3 Ebd., S. 9
4 Ebd., S. 17
5 Meyer (Anm. 1), S. 205
6 Eduard Bernstein: Aus den Jahren meines Exils, Berlin 1918, S. 11
7 Helmut Hirsch: Bebel, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 69
8 Aus den Jahren meines Exils (Anm. 6), S. 163
9 Vgl. Helmut Hirsch: Der »Fabier« Eduard Bernstein, Berlin/Bonn 1977, S. 125
10 Zit. n. Hirsch (Anm. 7), S. 81
11 Meyer (Anm. 1), S. 207
12 Zit. n. Hirsch (Anm. 7), S. 82
13 Meyer (Anm. 1), S. 207
Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. Dezember 2024 über Lucio Colletti: Schluss mit Hegel.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Klaus-Peter Häußer (8. Januar 2025 um 11:59 Uhr)Informativer Artikel, was Edurad Bernstein angeht, weil er mir beweist, dass das Gerede, Bernstein hätte seinen Revisionismus von Dühring geholt, ebenso opportun und inhaltlich verkehrt ist. Er saß allenfalls in einigen öffentlichen Vorträgen von Dühring, was dieser und dessen Leute bestätigt haben. Es gibt eine von Dühring aufgestellte Regel: Ein Bauer wird niemals Sozialist, es sei denn, er schließt sich mit anderen Bauern zusammen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (8. Januar 2025 um 11:14 Uhr)Ein Artikel über Revisionismus muss unvollständig bleiben, wenn er sich auf Bernstein beschränkt. Kautsky wird zwar achtmal erwähnt, aber nicht als Revisionist. »Als jedoch die Ära der Revolution anbrach, da kehrte Kautsky ihr den Rücken zu und stimmte ein Loblied auf die Herrlichkeiten der sterbenden bürgerlichen Demokratie an« (Lenin: »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«). Bernstein und Kautsky wurden noch rechtzeitig entlarvt. Die modernen Revisionisten von Chruschtschow bis Gorbatschow, die in der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung den meisten Schaden angerichtet haben, hätte man zumindest am Rande erwähnen müssen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (6. Januar 2025 um 18:13 Uhr)Dass Ingar Solty versucht, ohne klare Definitionen für Opportunismus und Revisionismus auszukommen, schadet seinem Artikel sehr. Die Auseinandersetzung mit beiden Abweichungen von der revolutionären Theorie und Praxis, wie sie von Marx in der Kritik des Gothaer Programms vorgenommen wurde, ist zu grundsätzlicher Natur für jegliche sozialistische oder kommunistische Bewegung, als dass man sie nur kurz am Rande benennen kann. Sowohl die Revision der Grundlagen der Marxschen Theorie als auch das Einknicken vor dem Kapital unter der Flagge der »Realpolitik« haben diese Bewegung bis ins Mark getroffen. Die Veränderung der Welt ohne Klarheit der Vorstellungen und mit gebundenen Händen angehen zu wollen, haben nur zu einem geführt: Dass die Massen sich mit Grausen von jenen abgewendet haben, die auch heute keine Vision von einer besseren Gesellschaft mehr haben und ihre Hauptaufgabe in der Mitverwaltung kapitalistischer Verhältnisse sehen.
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