Erobern oder erschöpfen?
Von Reinhard LauterbachEs liegt in der Natur der Sache, dass die Nachrichten aus dem ukrainischen Kriegsgebiet oft widersprüchlich sind. Jede Seite wird versuchen, das eigene Handeln als zumindest unter den gegebenen Umständen erfolgreich darzustellen. Wie oft ist von russischer Seite schon der angeblich unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch der ukrainischen Front beschworen worden. Tatsächlich beträgt der russische Vormarsch maximal einige Kilometer am Tag; die Eroberung von drei Dörfern wird als großer Erfolg dargestellt, und die gesamten Geländegewinne der russischen Armee im Jahre 2024 betrugen knapp 4.000 Quadratkilometer – diese Fläche ist wenig größer als die des Saarlandes.
Dazu tragen drei Faktoren bei: erstens der hartnäckige ukrainische Widerstand, den inzwischen auch russische Frontberichte eingestehen. Zweiter Faktor ist der Umstand, dass raumgreifende Angriffsoperationen wie im Zweiten Weltkrieg heute so nicht mehr zu wiederholen sind. Der Grund liegt in der militärischen Innovation in Gestalt der Drohnen. Für sie sind Panzerkolonnen ein relativ leichtes Ziel. Russland hat diese Lektion zu Beginn des Krieges am eigenen Leibe lernen müssen. Heute streifen russische Angriffsgruppen von zehn oder 15 Mann auf Geländemotorrädern, Quads und angeblich sogar Elektrorollern durch die Gegend und erkunden die Lücken in der ukrainischen Verteidigung. Anschließend schlägt die Stunde der Artillerie, dann die der Infanterie. Das bedeutet naturgemäß, dass das Tempo des Vormarsches zurückgeht.
Der wichtigste Grund für den schleppenden Verlauf der militärischen Operationen ist aber wohl, dass Eroberungen auch für Russland offenbar nicht – oder nicht mehr – das entscheidende militärische Ziel sind. Es scheint vielmehr darin zu liegen, die ukrainische Armee zu zermürben. Auf diesem Weg ist das russische Militär eine ganze Strecke weit vorangekommen. Die Ukraine hat eine dreieinhalbmal kleinere Bevölkerung als Russland, jeder tote oder verletzte Soldat auf ihrer Seite wiegt also militärisch dreieinhalbmal so schwer wie ein gefallener oder verwundeter Russe. Ihre Versuche, frische Soldaten zu rekrutieren, stoßen im Hinterland auf viel passiven Widerstand und bringen doch militärisch nicht viel.
Ein ukrainischer Bataillonskommandeur von der Pokrowsker Front zählte kürzlich auf, wer ihm mit dem letzten Ersatz geschickt worden sei: ein Drogenabhängiger, mehrere schwere Alkoholiker, ein Soldat mit Hepatitis, zwei mit Tuberkulose, einer mit HIV. Der Widerstand von Wolodimir Selenskij gegen die Forderung der westlichen Alliierten, das Einziehungsalter auf 18 Jahre zu senken, wird mit dem akuten demographischen Notstand begründet: Wer solle die Ukraine wieder aufbauen und der Nation Nachwuchs schenken, wenn ein Viertel der Bevölkerung ins Ausland geflohen ist und der Rest im Schützengraben draufzugehen droht? »Wanderer, kommst du nach Sparta … «
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Januar 2025 um 09:38 Uhr)Russland verfolgt klar eine Erschöpfungsstrategie. Der Kreml setzt auf minimale eigene Verluste, während die Ukraine durch lange Nachschubwege und begrenzte Ressourcen überfordert wird. Russische Angriffe treffen Ziele im ganzen Land, was die ukrainischen Logistikprobleme zusätzlich verschärft. Warum sollte Russland mehr investieren, wenn ukrainisches Material an der Front ohnehin kontinuierlich verschleißt? Ziel ist nicht die Eroberung, sondern die Zermürbung – ein Ansatz, der für die Ukraine mit ihrer kleineren Bevölkerung und den hohen Verlusten besonders schwer wiegt.
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