Tyrannei des Westens
Von Petra ErlerEs ist Krieg in der Ukraine, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Russland trägt die Schuld, zur Waffe gegriffen zu haben. Völkerrechtswidrig. Die Kriegsursachen allerdings schuf der kollektive Westen unter Führung der USA. Deren Bestreben, nach dem Ende des Kalten Krieges als einzige Supermacht die Welt zu beherrschen, ließ keinen Raum für eine Partnerschaft auf Augenhöhe oder gar für die Beachtung legitimer russischer Sicherheitsinteressen. Das brach und bricht sich mit dem Selbstverständnis der USA als »unverzichtbarer« Weltenlenker. Die Welt, so die Annahme, muss nach dem Bild und den Herrschaftsvorstellungen der USA gestaltet werden. Das ist die »regelbasierte Ordnung«. Darin hat die souveräne Gleichheit aller Staaten keinen Platz, ist Diplomatie immer nur die zweitbeste Lösung. Unter hegemonialer Fuchtel herrschen ein Freund-Feind-Bild, der Glaube an Auflagenpolitik und Bestrafung. Rigide Sanktionspolitiken, Regime-Change und militärische Lösungen für politische Konflikte sind der Markenkern der US-Politik seit den 1990er Jahren.
Sie ist extrem rückwärtsgerichtet, zerstörerisch für die USA und die Welt. Gleichzeitig ist sie das deutlichste Anzeichen dafür, dass der selbsternannte Hegemon längst die Blüte seiner Herrschaftsjahre hinter sich gelassen hat und sich gegen den Machtverfall stemmt.
Das ist allerdings nicht die Erzählung, die in den USA und in den Ländern dominiert, die sich mit dem Platz der USA am Kopf der Tafel arrangierten und in einer Mischung aus Dankbarkeit, Demut und Widerborstigkeit zumindest zur rechten und linken Seite des Herrschers plaziert sein wollen, wie eines Königs Narr.
Russland im Visier
Nach den friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa und dem Ende der Sowjetunion dominierte dieses Arrangement unter den Reformkräften. Umgekehrt betrachtete sich der gesamte Westen als Sieger der Geschichte, der nunmehr die verdiente Ernte einbrachte. Nur in Russland ging alles schief, was nur schiefgehen konnte.
Wer die Gründe dafür begreifen will, sollte ein langes Memorandum aus dem Jahr 1994 lesen. Verfasst hat es der damalige US-Botschaftsrat Wayne Merry in Moskau. Es kostete ihn die Karriere. Mehr als 30 Jahre wurden seine Einschätzungen in den Archiven begraben. Schließlich wurden sie freigeklagt.¹
Unter dem Titel »Wem gehört Russland überhaupt? Auf dem Weg zu einer Politik des wohlwollenden Respekts« sezierte Merry die russische Gesellschaft, russische politische Interessen und Zwänge sowie die Wirkungen einer US-Politik, die unbekümmert von den Realitäten ihrem Mantra folgte, so als wäre Russland das Land der US-Amerikaner. Dem Verfasser war wohl bewusst, dass er sich mit seinen Überlegungen und Einschätzungen gegen die vorherrschende außenpolitische US-Doktrin stellte, aber er sah es als seine Pflicht an, vor russischen Fehlentwicklungen und einer tiefen Zerrüttung der US-Russland-Beziehung zu warnen. Merry, der über eine große analytische Klarsicht verfügte, glaubte an die Veränderbarkeit eines Tyrannen durch Einsicht und menschliche Rührung. Seit Schillers »Bürgschaft« spukt die wundersame Bekehrung eines Despoten in unseren Köpfen herum, allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz.
Denn das erklärte US-Bestreben, als einzige Supermacht die Welt so lange wie möglich zu regieren, ist ohne Tyrannei nicht zu verwirklichen. Man mag sie in hehre Worte fassen, die Ordnung als »regelbasiert« deklarieren, von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten reden, aber die Probe aufs Exempel ist immer, was in der Realität angerichtet wird: Geht es den dominierten Völkern besser? Gibt es weniger Leiden und Ungerechtigkeit auf der Welt? Ist eines der großen Probleme, die die Menschheit heute heimsuchen, gelöst oder auch nur einer Lösung näher?
Hat China, wie der Papst 2024 meinte, ein größeres Potential für Verständnis und Dialog als etablierte Demokratien? Ist es nicht tatsächlich so, dass unter dem Banner eines globalen »Demokratiebringers« Tyrannei betrieben wird, die kein anderes Ziel kennt, als sich selbst zu erhalten? Koste es, was es wolle.
Russland, China und eine immer größere werdende Anzahl von Völkern widersetzen sich seit nunmehr Jahrzehnten dem hegemonialen Treiben der USA und ihrer Gefolgschaft. Das macht sie in unseren Augen zu Aggressoren, zu Gegnern, die geschwächt, wenn nicht gar vernichtet werden müssen. Auf die eine oder andere Art und Weise. Denn in der tyrannischen Logik wird ein Tyrann allenfalls von einem anderen Tyrannen ersetzt, der dann womöglich noch schlimmer agiert. Er erblickt immer nur sich selbst im Spiegel. Alternative Formen des gesellschaftlichen Miteinanders sind ihm völlig fremd.
Keine Verhandlungen
So betrachtet, ist der aktuelle Stellvertreterkrieg in der Ukraine ein Lehrstück sich entblößender Tyrannei. Zu keinem Zeitpunkt dieses Krieges spielte das tatsächliche Schicksal der Ukraine eine Rolle. Wäre dem so gewesen, hätte der völkerrechtlichen Verurteilung von Russland eine umgehende Friedensinitiative des Westens folgen müssen. Statt dessen wurden frühe russisch-ukrainische Verhandlungen um Frieden unterminiert, denn der Westen brauchte diesen Krieg, in der Annahme, daraus ein zweites Afghanistan für Russland machen zu können. Daher fehlt auch jedes Mitgefühl für die ukrainischen Opfer dieses Krieges. Zwar ringt man die Hände, aber befeuert gleichzeitig das Schlachten. Die Zahl der ukrainischen Opfer, die angeblich allenfalls in die Zehntausende gehen, wird wie eine geheime Kommandosache behandelt, während eine allein der Phantasie entsprungene Zahl russischer toter bzw. verwundeter Soldaten zum bejubelten Beleg dafür genommen wird, dass Russland sich dem eigenen Untergang entgegenkämpft.
Um Russland »zu ruinieren«, wurden und werden Sanktionen mit kriegsähnlicher Wirkung ausgetüftelt, die tatsächlich wie ein Bumerang auf die westlichen Wirtschaften zurückschlagen und das ganze globale Gefüge erschüttern.
Wie sich der Westen zu diesem Krieg stellt, demonstriert dem russischen Bären nur eines: Die Jagd auf ihn ist eröffnet.
Der Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa und gleichzeitig auch militärischer NATO-Befehlshaber, General Christopher G. Cavoli, war sich der Folgen dieser Politik im Sommer 2024 wohl bewusst, als er über die Zeit nach dem Ukraine-Krieg sprach: Er sprach nicht über die verheerte Ukraine. Er sprach über ein militärisch herangezüchtetes und nun auch kampferprobtes Russland, stärker denn je, vollends von der Feindschaft des Westens überzeugt, direkt an der NATO-Grenze gelegen und furchtbar wütend.
Wie soll unter solchen Umständen Dialog und Verständigung gelingen? Auf der Agenda der NATO hat das keinen Platz. Noch ist die Ukraine, deren Überleben finanziell und militärisch allein vom Westen noch halbwegs gesichert wird, nicht völlig ausgeblutet. Es gibt noch eine vom Krieg ausgesparte Generation, die der 18- bis 24jährigen. Es gibt noch kampftaugliche Männer, die in EU-Staaten Zuflucht suchten, also ein letztes Aufgebot. Denn noch immer muss um den Sieg gekämpft werden, der wie eine Fata Morgana am Horizont erscheint.
Umgekehrt spielt diese Strategie, die von Anfang an verfehlt war, Russland direkt in die Hände. Wer die militärische Entscheidung sucht, wird sie bekommen, warnte der russische Präsident im Sommer 2022.
Anderthalb Jahre später liegt recht klar auf der Hand, dass Russland in diesem Krieg militärisch überlegen ist. Was kann der Westen noch aufbieten, um die unvermeidliche Niederlage abzuwenden? Im konventionellen Bereich nicht mehr viel. Keine der westlichen »Wunderwaffen« führte zum Wunder, und der Stellvertreterkrieger, die Ukraine, ist am Verbluten.
Wer unter diesen Bedingungen auf die Stimme der Vernunft, der Verständigung und der Humanität wartet, wartet vergebens. Denn die NATO hat längst ihre Rückfallposition entwickelt: Fällt die Ukraine, was sie nicht soll, niemals wird, aber man weiß ja nie, lauert die russische Aggression auf die NATO. Schon in wenigen Jahren. Kriegstüchtigkeit ist der einzige Weg, eine russische Aggression entweder abzuschrecken, ihr zuvorzukommen oder sie erfolgreich abzuwehren.
Die Erfindung des wiederauflebenden russischen Imperialismus und das Dogma von der Aggressivität Russlands als naturhaftes Phänomen des Landes spiegeln letztlich nur den tyrannischen westlichen Traum, der über Jahrhunderte mit eisernen Besen über den Globus fegte. Bis die USA als einziges Imperium mit globalen Sicherheitsinteressen nach dem Zweiten Weltkrieg übrigblieben. Mit dem ganzen amerikanischen Kontinent als erklärtem »Hinterhof«, einem dauerhaften Fuß in Europa und weltweiter militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Präsenz.
Nächster Krieg gegen China
Wie schön würde es erst, wenn sich der US-geführte Westen nach Belieben auf der großen eurasischen Landmasse tummeln könnte. Man denke allein an die Rohstoffe, die dem russischen Bären natürlich und also ganz unverdient zufielen. Ist der Bär erst erledigt, ist auch die erzwungene Schonzeit für den Tiger vorbei. Die US-Armee bereite sich auf den Krieg mit China vor, titelte die New York Times am 29. Oktober 2024. Das muss geübt werden, zu Land, zu Wasser und in der Luft, denn es wäre nicht auszudenken, wenn China auf dem eigenen Kontinent dominant werden würde. Wäre das mit dem Fall Roms vergleichbar, fragte die New York Times. Die Antwort folgte auf dem Fuß. Das sei die richtige Sicht auf die Dinge.
In einer solchen Betrachtung der Welt gibt es aktuell niemanden von Bedeutung im Westen, geschweige denn in der EU, der für einen Dreierbund à la Schiller plädiert oder für ein Bündnis aller Völker und den Weg der Mäßigung oder Konfliktentschärfung für möglich oder gar wünschenswert hält. Aus tyrannischer Sicht ist eine solche Alternative regelrecht Ketzerei, die entweder großer Dummheit oder Heimtücke entspringt. Tyrannen lieben es allenfalls, wenn ihnen der eigens bei Hofe gehaltene Narr ab und an den Spiegel vorhält. Nicht, um sich darin zu erkennen, sondern um das Bewusstsein ihrer Macht zu genießen. Bis diese in Scherben fällt.
Die offene Frage heute lautet, ob sich das US-Imperium unblutig geschlagen geben wird, oder ob es die Welt lieber mit sich in den Untergang reißt. In dieser Hinsicht stellt sich an Deutschland und im weiteren Sinn an die EU die Frage, wie wir unsere Zukunft sehen wollen: als einen mühsamen Prozess des Aushandelns eines Modus vivendi, der den Frieden in sich trägt, oder als mutmaßliche Plattform und Drehscheiben eines Krieges, bei dem am Ende kein Stein mehr auf dem anderen bleibt?
Anmerkung:
Petra Erler ist Politikberaterin. Sie war parteilose Staatssekretärin beim Ministerpräsidenten der DDR in der Regierung de Maizière.
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