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Aus: Ausgabe vom 08.01.2025, Seite 15 / Antifaschismus
Niederlande im Zweiten Weltkrieg

Archiv der Kollaboration

Niederlande: Neu veröffentlichte Liste zeigt das Ausmaß der Zusammenarbeit mit den Nazibesatzern
Von Gerrit Hoekman
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Im Nationalarchiv in Den Haag lagern 3,8 Kilometer Akten mit 30 Millionen Seiten über mögliche Kollaborateure

Das niederländische Projekt »Oorlog voor de Rechter« (Krieg vor dem Richter) hat vergangene Woche zum ersten Mal eine Liste mit rund 425.000 Namen von Personen veröffentlicht, die nach dem Zweiten Weltkrieg wegen des Verdachts vor Gericht standen, zwischen 1940 und 1945 mit den deutschen Besatzern kollaboriert zu haben. Zum Beispiel, weil sie Mitglied der niederländischen Nationaal-Socialistischen Beweging (NSB) waren, in der SS-Einheit »Landstorm Nederland« dienten oder Widerstandskämpfer und Juden ans Messer lieferten.

Rund 3,8 Kilometer Akten zu der Kollaboration verdächtigten Personen lagern im Nationalarchiv. Davon wurden bereits mehrere Millionen Seiten digitalisiert. Die nun veröffentlichte Liste beinhaltet nur nachweislich verstorbene Personen. Die dazugehörigen Akten werden allerdings zunächst nicht wie geplant online zugänglich gemacht, weil die staatliche Datenschutzbehörde dagegen Bedenken hat. Die Dokumente könnten sensible Informationen über noch lebende Personen enthalten, selbst wenn sie nicht der Kollaboration verdächtig waren. Der zuständige Minister für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Eppo Bruins, erklärte, er arbeite an einer Gesetzesänderung. Wann und ob das gesamte Archiv ins Netz gestellt werden kann, ließ er offen.

Das Nationalarchiv weist ausdrücklich darauf hin, dass nicht jeder auf der Liste vom Gericht für schuldig befunden und verurteilt wurde. Manche seien am Ende nicht einmal angeklagt worden. Interessierte müssen deshalb aktuell einen Antrag stellen, um die Dokumente vor Ort im Lesesaal des Nationalarchivs in Den Haag einsehen zu dürfen. Kopien zu machen, ist verboten. Bereits am ersten Tag der Veröffentlichung der Liste beantragten trotzdem mehr als 1.600 Menschen Einsicht in die Akten. Die 61 Plätze im Lesesaal waren flugs bis Anfang Februar ausgebucht.

Die Digitalisierung bietet einige Vorteile. So können nun auch Angehörige von Opfern recherchieren, wer ihre Verwandten damals verraten hat. Bislang waren sie in den analogen Akten mehr oder weniger versteckt. Jetzt reicht es, den Namen des Opfers einzugeben, und alle Täter erscheinen sofort. Auch die Suche nach einer Adres­se oder einem bestimmten Ort ist möglich. Auf diese Weise werden persönliche Verbindungen deutlich. Das Archiv erleichtert ebenfalls die Arbeit von Forschenden und der ­Presse.

Als die deutschen Besatzer endlich aus den Niederlanden vertrieben waren, brach sich die Wut der Bevölkerung auf die Kollaborateure Bahn. Die Binnenlandse Strijdkrachten (deutsch etwa »Inlandsstreitkräfte«), ein im September 1944 gegründeter Zusammenschluss der wichtigsten, bis dahin überwiegend autonom agierenden Widerstandsgruppen, nahmen Zehntausende Mitglieder der faschistischen NSB fest. Auf ihrem Weg in die Gefängnisse und Internierungslager wurden sie von aufgebrachten Bürgern bespuckt, geschlagen und beschimpft. NSB-Führer Anton Mussert wurde am 7. Mai 1946 hingerichtet. Insgesamt wurden 154 Mitglieder zum Tode verurteilt, in 110 Fällen wurde die Todesstrafe in lebenslänglich umgewandelt.

Die allermeisten Mitglieder des NSB durften jedoch nach kurzer Zeit wieder in ihr altes Leben zurückkehren – falls Familie und Nachbarn das zuließen. Manche flohen auch vor Ankunft der Alliierten mit ihren Familien nach Deutschland. Sie wurden teilweise in Abwesenheit verurteilt, und die Niederlande machten keine Anstalten, ihrer habhaft zu werden, etwa über ein Auslieferungsersuchen an die deutsche Regierung. Wie viele niederländische Kriegsverbrecher des NSB und der SS-Einheit »Landstorm Nederland« bis zu ihrem Tod unentdeckt und unbehelligt in Deutschland lebten, ist unbekannt.

Zu den niederländischen Nazikollaborateuren zählten auch die 54 Männer, die als »Kolonne Henneicke« Jagd auf Juden machten. Für jede jüdische Person, die sie aufspürten und meldeten, bekamen sie von den deutschen Besatzern umgerechnet 37 Euro und 50 Cent. Der niederländische Journalist Ad van Liempt zeigte in seinem 2002 veröffentlichten Buch »Kopfgeld – Bezahlte Denunziation von Juden in den besetzten Niederlanden« auf, wie weit die Kollaboration verbreitet war: »Die Kolonne Henneicke verdankte einen großen Teil ihrer Effektivität anonymen Tips und Verrat. Amsterdam war 1943 im Griff von Verrätern und Denunzianten, und oft bedurfte es dazu gar keiner Prämien. Eigentlich durfte ein jüdischer Niederländer niemandem vertrauen. Er konnte von jedem verraten werden. Zum Beispiel von der eigenen ­Schwägerin.«

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