Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 10.01.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Ein ornithologischer Traum

In Bachtyar Alis Epos »Die Herrin der Vögel« ziehen drei Verliebte aus in die Welt, um Gesänge einzufangen
Von Dean Wetzel
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In Zeiten des Krieges braucht es Geschichten der Liebe: Bachtyar Ali

Liebe macht nicht nur blind, sondern auch toll. Tollwütigen gleich verlieren Verliebte die Kontrolle über ihren Willen. Sie sehen nur noch das Objekt der Begierde, und die Welt schrumpft ihnen auf einen Punkt zusammen. Alles andere verliert seinen Wert. Im angeblichen Namen der Liebe geschieht daher Fürchterliches. Sie legitimiert scheinbar alles. Man denke nur an die Sage der Belagerung Trojas. Zehn Jahre starben Menschen in einem blutigen Krieg, der sich an der Liebe zu einer einzelnen Frau entfachte. Und auch heute ziehen Menschen noch in ihrem Namen in den Krieg. In ihrem Schatten regiert der Schrecken. Sie ist »der« Stoff der Romane.

In Bachtyar Alis »Die Herrin der Vögel« verlieben sich der hitzköpfige Messerheld Kameran Selma, der in sich gekehrte Student Asrin Ibrahim und der hochnäsige Boutiquebesitzer Khalid Amun in die geheimnisvolle Sausan Fikrat. Die bevorstehende Fehde ist angelegt, und als die Männer voneinander erfahren, kommt es zum Unglück. Kameran sticht voller Hass seinen Konkurrenten Asrin nieder, der mit Glück dem Tod entgeht. Seine Geschichte verbreitet sich in der Stadt, und überall erklingt das Lied des Verliebten, der den Tod nicht scheut.

Daraufhin halten die drei Männer um ihre Hand an. Die Umworbene denkt jedoch nicht daran, einem der Männer bedingungslos ihr Wort zu geben. Sie möchte niemanden heiraten, der nicht den Geruch der Welt an sich trägt. Niemand, der nicht über die Grenzen der Stadt und der Gewalt hinausdenken kann. Sie möchte jemanden heiraten, der ihr Geschichten aus der Welt erzählt, die sie wegen ihrer schwachen Gesundheit selbst nicht bereisen kann. Von der Welt, von der sie selbst nur aus der Bibliothek ihres Vaters weiß. Und so stößt sie ihre Verehrer vor den Kopf: Statt umgarnt zu werden, wünscht sie, dass die Männer ihre Heimat verlassen, um in die Welt zu ziehen. Sie schickt sie für acht Jahre auf eine Reise, von der sie mit 100 exotischen Vögeln zurückkehren sollen. Vögel, deren Gesang die stummen Geschichten ihrer Bücher beleben möge.

Während die drei im Früh-jahr 1987 in die Welt, auf ihre mysteriöse Suche aufbrechen, bleiben wir mit der Erzählinstanz, dem kurdischen Volk selbst – das sich auf dem Bazar oder in den Teehäusern die Geschichten Sausans und ihrer drei Reisenden erzählt –, zurück in der namenlosen Stadt im nordirakischen Kurdistan. Der 1966 in Sulaimanija geborene Ali greift damit formal die erzählerische Tradition der kurdischen Nationalepen auf, die von ihrer mündlichen Überlieferung leben. Es sind die Geschichten der unglücklich Verliebten. Die Geschichten des kurdischen Landes und seines Volkes. Obwohl Ali seit den 1990er Jahren in Deutschland lebt, schreibt er seine Romane in seiner kurdischen Muttersprache Sorani (deutsche Übersetzung von Ute Cantera-Lang und Raweh Salim).

Wir erleben das Ende des Iran-Irak-Kriegs, die blutige Rache Saddam Husseins an den Kurden, die sich am Krieg gegen den Iran nicht beteiligen wollten, und den Ausbruch des zweiten Golfkriegs. Wir sehen eine Epoche in einem Massaker enden und warten sehnlich auf Nachrichten der Reisenden. Auf gute Nachrichten aus der Welt, während Kurdistan in äußeren und inneren Konflikten zerrieben wird. Die politischen Umbrüche und Kriege und die Gewalt zeichnen Alis Roman. Doch dann ist da noch das leise Lied der Liebe. Ein Lied, dessen Klang, solange es auch nur einer singt, niemals verhallt.

Was Liebe aber abseits ihrer unzähligen Zuschreibungen sein kann, ist, wie Ali zeigt, nicht zu begreifen, sondern nur zu erleben. Denn nur im Leben ist sie bei sich selbst, indem sie bei einem anderen weilt. Sie ist das, was aus dem Fremden zurückkehrt und sich doch nie festhalten lässt. Einem Vogel gleich, erzählt sie von den Weiten der Welt. Denn die Geschichten der Liebe kommen aus einer Welt, die den Horizont unserer Erde überschreitet und ihr damit ermöglicht, sich über sich selbst zu erheben. Alis märchenhafte Prosa erzählt vom flüchtigen Sein der Liebe, das sich seiner selbst nie gewiss sein kann. Sie ist nicht der Boden des Hasses, sondern die Macht, die ihn durchbricht.

In Zeiten des Krieges braucht es daher Geschichten der Liebe. Doch nicht mehr, um ihn zu legitimieren, sondern um uns vor ihm zu bewahren. Um uns den Weg in ein Leben jenseits der Kriege zu weisen. Denn das Leben beginnt, wie Ali zeigt, erst im vergänglichen Spiel der Liebe, für das es keine vorgeschriebenen Regeln oder Garantien gibt. Bestand hat sie allein im geteilten Vertrauen und in den Geschichten, die wir uns von ihr erzählen.

Bachtyar Ali: Die Herrin der Vögel. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag, Zürich 2024, 336 Seiten, 26 Euro

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