Thersites zum Gruß
Das kritisch-verächtliche Verhältnis zu dem Staat, dessen Bürger er ist und der, also der Staat, vorgeblich ein ganz anderer zu sein behauptet, ist mit so einem Satz unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: »Das ›Horst-Wessel-Lied‹ (ist) die für mich selbstverständliche vierte Strophe des Deutschlandliedes.« Bekannt hat Otto Köhler diese spöttische Haltung in einem Interview mit dieser Zeitung vor zehn Jahren. Schwer vorstellbar, dass sich daran in der Zwischenzeit irgend etwas geändert hat.
Leute, die kurz nach den zwölf Jahren des »Tausendjährigen Reiches« die NSDAP-Hymne schmetterten, erlebte Otto Köhler Mitte der 1950er Jahre in der damals noch jungen Bundesrepublik, in Wahrheit das gründlich restaurierte alte Deutschland, an seiner Universität in Würzburg: Es waren »kaum ehemalige« Wehrmachtssoldaten, darunter notorische Kriegsverbrecher, die sich zu einem Fallschirmjägertreffen eingefunden hatten. Köhler schrieb damals über diese Zusammenkunft für die linkssozialistische Andere Zeitung seine erste Reportage.
Sein Sujet sollte ihm erhalten bleiben, oder anders gesagt: Es ging ihm niemals aus. Sein Sujet, das ist die Bundesrepublik mit ihrem bald schauderhaften, bald lächerlichen Personal, ihren alten und neuen Nazis, die diesen Staat aufbauten beziehungsweise sich dort erneut einnisten, ihren Medien und Gelehrten, die sich Geschichten und Geschichte so zurechtlegen und -lügen, dass diese Nation in warmes Lichte rückt und die Welt wieder mit militärischen Expeditionen erfreuen darf.
Die offiziöse Mär von den gründlich geläuterten Deutschen, deren langer Weg nach Westen am Ende zur Beglückung aller, vor allem der restlichen Welt geführt habe, hat Otto Köhler keine Sekunde geglaubt. Und dagegen angeschrieben. Gegen die Verklärung des Adenauer-Staates, der ihm viel eher ein Globke- und ein Gehlen-Staat war, gegen die Militarisierung und die Kriegsprofiteure gestern wie heute – und in jüngerer Zeit immer wieder gegen die Wiederauferstehung der Hohenzollernherrlichkeit, repräsentiert durch fabrikneuen Barock auf der Spreeinsel, dessen Ostseite mit Schießschartenarchitektur der Bevölkerung droht.
Vor fünf Jahren, als er 85 wurde, stand in dieser Zeitung, was zu wiederholen schicklich ist, weil es stimmt: Otto Köhler ist der niemals offizielle Chronist der Bundesrepublik. Damals sprach er den Wunsch aus, er wolle älter werden als Jünger, also Ernst, der Kriegsverherrlicher, der völkische Beobachter, der, wieder so eine Kontinuität, »Staatsdichter der Kohlrepublik«. Und das, lieber Otto Köhler, wünschen wir Ihnen auch: älter zu werden als das käfersammelnde Scheusal. So lange ist’s gar nicht mehr hin.
(Daniel Bratanovic, Chefredaktion der jungen Welt)
Augstein vom Thron gestoßen
Weit über die Hälfte seines Lebens hat sich Otto Köhler an Rudolf Augstein abgearbeitet. Als der damals 31jährige im Jahr 1966 in die Spiegel-Redaktion eintrat, konnte er nicht ahnen, dass ihn seine Tätigkeit für das damalige Nachrichtenmagazin und dessen so selbstbewussten wie einflussreichen Chef bis ins hohe Alter verfolgen und beschäftigen würde. Während der Spiegel heute beispielhaft für Desinformation und Propaganda steht, gegen Russland und seinen angeblich so aggressiven wie unberechenbaren Präsidenten Wladimir Putin hetzt oder Kritiker der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines als Verschwörungstheoretiker diffamiert, galt das Blatt seinerzeit auch bei investigativen Journalisten wie Köhler als kritische und seriöse Zeitschrift.
Köhler wurde in seiner rund sechsjährigen Tätigkeit für Augstein unter anderem als Spiegel-Medienkolumnist eines Besseren belehrt. Die Verleihung des von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main gestifteten Ludwig-Börne-Preises an Augstein im Jahr 2001 (auf Anregung des damaligen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher) gab den Anstoß für Köhlers im Jahr darauf erschienene Augstein-Biographie, mit der er das erklärte Ziel verfolgte, Augstein vom Thron zu stoßen.
Köhlers Biographie war das Erscheinen der vom Autor dieser Zeilen verfassten Dokumentation »Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird« (zusammen mit Wilfried Kugel, Berlin 2001) sowie ein dreiseitiger offener Brief der Autoren vorausgegangen, betitelt »Herr Augstein, die Vergangenheit holt Sie ein …«. Darin konfrontierten die Autoren Augstein mit den in ihrem Buch ausführlich dokumentierten und belegten Vorwürfen gegen den Spiegel: die Beschäftigung ehemaliger SS-Führer in der Redaktion sowie die vehemente Parteinahme des Spiegels für die These von der Unschuld der Nazis am Reichstagsbrand.
Bis in die 1960er Jahre hinein hatte Augstein in der Spiegel-Redaktion hohe Führer von SS und SD, darunter Kriegsverbrecher, beschäftigt und sich für die Wiederverwendung alter Nazikriminalbeamter im Polizeiapparat der Bundesrepublik eingesetzt. Den Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin am 27. Februar 1933 wollte das Nachrichtenmagazin als bösen Zufall gedeutet wissen und nicht als Teil des perfiden Plans der Naziführung zur Machteroberung. In einer mehrteiligen Serie, an welcher der ehemalige Pressechef von Ribbentrop und SS-Verbrecher Paul Karl Schmidt als Mitautor beteiligt war, hatte der Spiegel bereits 1959/60 unter Verdrehung bzw. Unterschlagung wichtiger historischer Fakten die Naziführung von jeder Verantwortung für dieses folgenreiche politische Verbrechen freigesprochen und den am Brandort festgenommenen, stark sehbehinderten niederländischen Rätekommunisten Marinus van der Lubbe kurzerhand zum Alleintäter erklärt. Eine offenkundige Geschichtsfälschung, die auch Otto Köhler immer wieder angeprangert hat.
Der offene Brief, der noch vor der offiziellen Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche erschien, endete mit dem dringenden Rat an Augstein: »Bitte verzichten Sie freiwillig auf den Ludwig-Börne-Preis, denn Sie haben ihn nicht verdient!« Der Spiegel-Chef hat diesen Rat bekanntlich nicht befolgt.
(Alexander Bahar, Historiker und Publizist)
Ein Aufarbeiter
Otto Köhler ist für mich einer der herausragenden Journalisten und kritischen Chronisten hierzulande. Was er in Jahrzehnten an zeitgeschichtlicher Aufarbeitung geleistet hat, hat in der Bundesrepublik nicht seinesgleichen. Besonders wichtig sind mir seine Beiträge über die ungesühnte Nazivergangenheit, seine Texte zum Reichstagsbrand, aber auch zur Rolle westdeutscher Politiker wie Richard von Weizsäcker während des deutschen Faschismus. Als publizistischer Chefankläger räumt er gründlich mit den Gründungsmythen der Bundesrepublik auf. Ottos akribische Recherchen, seine bitter-ironischen, von Sarkasmus durchzogenen, stets persönliche Schuld ins Zentrum rückenden Artikel haben mich immer wieder in den Bann gezogen.
Vor zehn Jahren feierten wir Otto Köhlers 80. Geburtstag auf der XX. Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin; sie stand unter dem Motto »Frieden statt NATO«. Ich hatte die Ehre und das Vergnügen, Ottos Auftritt zu moderieren. In seiner Eingangsrede rief er uns zu: »Ja, ich bin es, Thersites – Schmäher aller Kriege, ihrer Feldherren, ihrer Propagandisten und ihrer Professoren.« Für die Weltlage fand er klare Worte, rechnete mit Kriegstreibern der herrschenden Klasse und ihrem politischen Hilfspersonal in Gestalt der Grünen ab, brachte schließlich den antimilitaristischen Geist der Konferenz auf den Punkt: »Mit uns könnt ihr nicht rechnen!«
Zehn Jahre ist das nun her – und so aktuell wie nie zuvor. An Weihnachten besuchte ich wieder einmal Otto und Monika Köhler in ihrem Haus in den Harburger Bergen. Es war zu kalt, um den schönen verwilderten Garten zu genießen. Auch fehlten die Amseln und Rotkehlchen, sonst ihre ständigen Begleiter, zu denen sie ein liebevoll-inniges Verhältnis pflegen. Die gefiederten Hausgäste reagieren auf Gesten der beiden und fressen ihnen buchstäblich aus der Hand – anrührend und immer wieder ein Vergnügen, das zu sehen.
Im warmen Wohnzimmer diskutierten wir zwischen indonesischen Gottheiten und Drachenskulpturen über die Grausamkeiten unserer Zeit. Über die doppelte Moral der Herrschenden, wenn es um Verletzung des Völkerrechts geht, und die Rolle der NATO als aggressives Kriegsbündnis. »Ein großer Krieg ist wohl kaum mehr zu verhindern, aber die Auflösung der NATO muss unser Ziel bleiben«, so Otto. »Was kann und muss die Friedensbewegung tun?« fragte ich ihn. »Den Schlamassel im Nahen Osten haben wir auch den Deutschen zu verdanken. Sie haben den Faschismus in seiner Tragweite nie aufgearbeitet. Das bleibt unsere Aufgabe.« Dem Ruf nach Kriegstüchtigkeit müsse mit einer Kampagne zur »Kriegsenttüchtigung« begegnet werden. Wenn das kein Auftrag ist. In diesem Sinne: Noch viele Jahre im gemeinsamen Kampf, lieber Otto!
(Ulla Jelpke, von 2002 bis 2005 Leiterin des Ressorts Innenpolitik der jungen Welt, anschließend bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags, zunächst für die PDS, später für die Partei Die Linke)
Am Opfertisch
»Sechzehnhundertzehn, zehnter Januar: / Galileo Galilei sah, dass kein Himmel war.« Brechts Zeilen passen hervorragend zum Geburtstag dieses unermüdlichen und unerbittlichen Aufklärers, des pointierten, gern auch, im guten Sinne: aggressiv zuspitzenden Denkers und Autors. Mein großer Bruder nennt Otto Köhler als Vorbild in Sachen Journalismus – was allein schon ausreichen könnte, um mich zu beeindrucken. In vielen Jahresversammlungen des deutschen PEN hat Otto uns herausgefordert – und ja, zugegeben, manchmal auch genervt –, auf jeden Fall aber einen Nerv getroffen mit Vorschlägen für Resolutionen, die zu angeregten, auch erregten und bisweilen vehementen Diskussionen führten. Oft stimmten wir ihm im Grundsätzlichen zu, konnten uns aber mit einzelnen Formulierungen nicht anfreunden, so dass seine Anträge am Ende keine Mehrheit fanden. Um so besser freilich für den Verfasser, der die Ablehnung im Nachgang zur Tagung für einen weiteren zugespitzten Artikel etwa in der jungen Welt nutzte. Manchmal habe ich mich gefragt, ob Otto seine Statements nicht von vornherein dahingehend konzipierte, um der Versammlung auf diese Weise einen Spiegel vorzuhalten. Wir Jüngeren konnten viel von ihm lernen.
Besonders ins Herz geschlossen habe ich ihn als Mann der Schriftstellerin Monika Köhler, mit der er seit gut sechzig Jahren gemeinsam durchs Leben geht. Unvergessen der PEN-Clubabend in Magdeburg 2015, als die beiden vergnügt das Tanzbein schwangen (während andere Mitglieder sich über die zu laute Musik beschwerten). Unvergessen auch Ottos Geburtstagsansprache für Monika – die schönste Rede, die ich je von einem Mann auf seine Frau gehört habe, ab und an von ihr unterbrochen, um etwa eine Jahreszahl zu korrigieren. Auch sie hat ihm in dem von mir herausgegebenen Lesebuch »Warum heiraten?« eine wunderbare Liebeserklärung gemacht, wenn sie seinen Schreibtisch als »Opfertisch« beschreibt, dem allerlei dargebracht werde, Zeitungsausschnitte, Bücher, Papiere, Kassetten, das Telefon … (»Seine Maus ist angebunden, Gott sei Dank.«)
Lieber Otto, Dir und Monika noch gute Jahre – und uns im PEN hoffentlich noch lange Deine so dringend gebrauchte kritische Stimme!
(Regula Venske, Schriftstellerin, von 2013 bis 2017 Generalsekretärin und von 2017 bis 2021 Präsidentin des deutschen PEN)
Großer Seher, großer Spötter
Otto Köhler ist ein bissiger, also genauer Autor und Redner. Bissigkeit und Spott erfordern besondere Präzision. Die befähigt zum Sehen im doppelten Sinn des Wortes. Weil er vieles von der Zukunft ahnt, die hierzulande vorgesehen ist, kalauert er nichts kabarettistisch-versöhnlich weg, sondern spießt auf, dass es den Herren, die auch weiblich sein können, weh tut. Eine kleine Übersicht über seine Aktivitäten der vergangenen rund zehn Jahre zeigt: Ihm gelingt das großartig. Wo er auftritt, jubelt das Publikum. Beispiel Rosa-Luxemburg-Konferenz 2015: Der unentwegt für den Krieg predigende Joachim Gauck ist Bundespräsident, und Otto Köhler schlägt vor, eine undurchdringliche Dornenhecke ums Schloss Bellevue zu pflanzen, hinter der sich »der alles bedrohende« Gauck auf Lebenszeit als Bundespräsident einrichten kann – »ohne Post, ohne Internet, ausgeliefert nur der ARD«. Sein Nachsatz, leider habe »niemand die Absicht, eine Dornenhecke hochzuziehen«, geht im Applaus fast unter, der »alles Bedrohende« hat leider weitermachen können.
Gut drei Monate zuvor: Otto Köhler zeigt, wie das ernste Fach zu meistern ist. Die jW und die Marx-Engels-Stiftung Wuppertal veranstalten in der jW-Galerie eine gemeinsame Konferenz zum Thema »Schnäppchen DDR. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas«. Köhler, der 1994 ein Buch zur Treuhand unter dem Titel »Die große Enteignung« veröffentlicht hatte, skizziert die Erarbeitung des Konzepts der Währungsunion im Bonner Finanzministerium an der Jahreswende 1989/90 durch den damaligen Staatssekretär Horst Köhler und dessen Fachreferenten Thilo Sarrazin. Mit ihm sollte nach eigenem Bekunden der beiden Koryphäen der in der DDR zu diesem Zeitpunkt angestrebten sozialen Marktwirtschaft ein schnelles Ende mit Schrecken bereitet werden. Helmut Kohl habe das begierig aufgegriffen: Die rasche »Einheit« sicherte seine Wiederwahl, die CDU-West half entsprechend nach. Otto Köhler illustriert die »Hilfe« mit jenem Foto, auf dem das Transparent »Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr« zu sehen ist. Seine Träger hatten es an Bambusstöcken befestigt, »die in der DDR noch seltener als Bananen waren«.
Oder Ende Januar 2015: Otto Köhler beantwortet auf einer Konferenz unter dem Titel »Befreiung 1945« der Marx-Engels-Stiftung die Frage, wer die »soziale Marktwirtschaft« denn erfunden habe. Antwort: ein hoher SS-Offizier im Gespräch mit Ludwig Erhard am 12. Januar 1945 in Berlin. Der Mann aus dem Reichssicherheitshauptamt und der im Arisierungsgewerbe tätige Ökonom unterhielten sich damals über ein Papier zur wirtschaftlichen Nachkriegsordnung. Der Führungsoffizier schlug »demokratische« oder »soziale Marktwirtschaft« als Terminus für Erhards Konzept vor, der war sofort für das zweite Attribut und bat, darauf anzustoßen. Hauptpunkt seiner Denkschrift waren: große Vermögen nicht antasten, Kleinsparer für die Kriegskosten aufkommen lassen. Hierzulande wird Erhards Ausarbeitung in der Regel in der Rubrik »Widerstand« geführt. Köhler zitiert den heute zum Glück bereits vergessenen ZDF-Historiker Guido Knopp: Erhard sei »zuversichtlich selbst im Bombenhagel« gewesen. Da können sich die heutigen deutschen Kriegs- und Zuversichtsparteien noch einige Scheiben von abschneiden.
Politische Doppelstandards sind Otto Köhler aber nicht nur bei Wertegemeinschaftträgern ein Greuel, auch bei der Linken. Am 14. Januar 2017 erreicht die Teilnehmer der Rosa-Luxemburg-Konferenz die Nachricht, dass der in einer Koalition mit der Partei Die Linke amtierende Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), nach wochenlangem Mediengeheul über eine angebliche »Stasi«-Vergangenheit des parteilosen Baustaatssekretärs Andrej Holm dessen Entlassung angekündigt hat. Der Landesverband der Linkspartei, der Holm nominiert hatte, tut überrascht und wagt leise Kritik: So sei das nicht vereinbart worden. Für Holm setzt sich die Landesspitze aber nicht ein, sondern schwenkt die weiße Fahne. Otto Köhler formuliert auf der Konferenz spontan eine Entschließung, die mit großem Beifall angenommen wird: »Wir, die Teilnehmer der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die auch über die Regierungsbeteiligung der Partei Die Linke diskutiert, danken dem Regierenden Bürgermeister für seine klare und eindeutige Entscheidung gegen uns und alle Linken. Wir fordern die Partei Die Linke auf, sich mit Andrej Holm aus diesem Senat zurückzuziehen.«
Das geschah nicht, öffnete aber die Augen. Partielles Scheitern kann zum Sehen bringen.
(Arnold Schölzel, Chefredaktion der jungen Welt)
Es reicht! Nie wieder Sozialdemokrat
Wer hat uns verraten? Ich, reformsüchtig bis in die alten Knochen, ich sag’s nicht gern: Sie, Frau Saskia Esken, Sozialdemokratin. Und Sie, Herr Norbert Walter-Borjans, Sozialdemokrat. Sie haben am 10. August (2020) Olaf Scholz zum SPD-Kanzlerkandidaten ausgerufen. Zwei Tage zuvor hatten Sie, Frau Esken, ein rotgrünrotes Regierungsbündnis angekündigt. Dass man das mit Scholz nicht haben kann, hat er Ihnen sofort gesagt. Und in der NATO wird auch geblieben.
Sie machen das mit. Mir reicht’s. Endgültig.
Das erste Mal war ich Sozialdemokrat mit 17, im Jahr 1952. Sie, Frau Esken waren noch nicht geboren, und Sie, Herr Walter-Borjans, sind da erst fünf. Es gab manchen Streit in der SPD, aber das war charakterbildend. Mit 27 schleuderte ich mein Mitgliedsbuch von mir, mitten in die Ortsversammlung der Dahlemer Sozialdemokraten: Willy Brandt hatte sich nicht gegen den Stalinisten Herbert Wehner durchgesetzt, der Professoren, die den Sozialistischen Deutschen Studentenbund unterstützten, rausschmiss.
Die folgenden 56 Jahre musste ich ohne jede Partei überleben: Brandts Berufsverbot, Schmidts Nachrüstung, Schröders Krieg. Aber dann. Kevin Kühnert, mein gefühlter Urenkel, war die Freude meines hohen Alters. Er hat die deutsche Sozialdemokratie zur schönsten Verführung gemacht, die es je zwischen Rhein und Oder gab. Sein Kampfruf »Tritt ein, sag nein« war unwiderstehlich. Nein zur Groko. Ich tat im Januar 2018, was ich seit 1962 nie wieder tun wollte, ich wurde erneut Mitglied der SPD. Aber Kühnert trat und fiel vorigen Dienstag bei »Markus Lanz« im ZDF voll in die Scheiße: Ja, er könne nicht ausschließen, dass nächstes Jahr die Groko wieder erstehe.
Die Stationen meines erneuerten Lebens in der SPD konnten jW-Leser – hoffentlich mitleidvoll – erleben. Zuletzt mit einem offenen Brief (jW vom 4.4.2019) an die damalige Vorsitzende Andrea Nahles, die den Berliner Landesparteitag schurigelte, weil er militärischen Organisationen untersagen wollte, »an Berliner Schulen für den Dienst und die Arbeit im militärischen Bereich zu werben«.
Ich warnte sie, sie solle besser auf ihre achtjährige Tochter aufpassen, damit sie nicht vom Militär geworben werde. Und ich erklärte meinen Austritt aus einer Partei, die nicht antimilitaristisch sein darf. Acht Wochen später trat Nahles selbst zurück und kümmerte sich um ihre Tochter.
Doch mein Austritt wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen. Bis heute erreichen Mails der Parteigrößen den »lieben Otto«, und der Mitgliedsbeitrag wird weiterhin vom Konto abgebucht. Aber es regte sich etwas in der Partei, Sie, Frau Esken, und Sie, Herr Walter-Borjans, wurden gegen Scholz zu Vorsitzenden gewählt. Ich begann zaghaft, wieder zu hoffen und erinnerte nicht an meinen Austritt.
Damit ist es jetzt wegen der Konterrevolution zugunsten von Olaf Scholz vorbei. Dieser Mann, der als Schröders Generalsekretär Hartz IV zur Erzeugung von mehr Armut durchpeitschte, hat seit 2015 ein Trauma. Damals hatten die Hamburger Bürger sich in einer Volksabstimmung gegen die Olympischen Sommerspiele 2024 in der Hansestadt entschieden, und Bürger-Meister Olaf Scholz hatte das einfach akzeptiert. Auf der »Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns« putzte ihn der Handelskammerpräsident vor über tausend Pfeffersäcken herunter, weil er den Volkswillen einfach so hingenommen hatte: Das sei »ein schwerer Schlag ins Kontor«.
Dann bewährte er sich als Bürgerkriegsmeister: G20 – er ließ jedes Zeichen von Widerstand niederknüppeln. Und wenn ab Montag der Finanzausschuss des Bundestags tagt, dann erwarten ihn während des gesamten Wahlkampfs penible Untersuchungen seiner Beihilfe im Wirecard- und auch beim »Cum-ex«-Skandal.
(…)
Empfangen Sie bitte, sehr geehrte Frau Esken, sehr geehrter Herr Walter-Borjans, den Rest meiner Hochachtung. Und behandeln Sie unseren lieben Kevin nicht zu streng, er lernt und lernt: alles.
(Otto Köhler, jW v. 29.8.2020)
links & bündig gegen rechte Bünde
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