Vom Kapitalismus überrollt
Von Carmela NegreteIst der Westen der neue Osten? Das fragten am Donnerstag abend die Linke-Abgeordnete Gesine Lötzsch, die Autorin und Regisseurin Grit Lemke sowie Stefanie Hürtgen, Professorin am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Sie nahmen an der Diskussion teil, die der Berliner Verein »Helle Panke« und die Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstaltet haben. »Was im Osten los ist, das läuft nicht in der ARD«, erklärte Grit Lemke, die in Hoyerswerda ausgewachsen ist und mit »Die Kinder von Hoy« ein Buch über das Leben in ihrer Heimatstadt geschrieben hat.
»Die Dampfwalze des Kapitalismus ist über den Osten gerollt«, sagte Lemke. »Ich kenne keine einzige Familie, die nicht betroffen wäre.« Der Unterschied zu Regionen im Westen, wo es ebenfalls Betriebsschließungen gegeben hat, ist für sie eindeutig: »Es fehlt eine ganze Schicht.« Auch im Westen stünden Ortschaften leer, doch in Ostdeutschland seien die Orte noch stärker überaltert.
Lötzsch erinnerte daran, dass nach dem Anschluss der DDR fünf Millionen Menschen Ostdeutschland verlassen hatten. Sie wies auf die Notwendigkeit solcher Veranstaltungen hin, bei denen man auch 35 Jahre nach der »Wiedervereinigung« immer noch über Ost und West spricht. Die Zerschlagung der Kombinate habe damals »nichts mit Demokratie zu tun« gehabt.
Erfreut zeigte sich die Politikerin allerdings darüber, »dass wieder über Kapitalismus und nicht über Postkapitalismus geredet wird«, denn das sei angesichts der angekündigten Vorhaben der herrschenden Klasse notwendig. Es bestehe wieder die Gefahr, einmal erreichte Errungenschaften zu verlieren, etwa die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Stadtplanung und Wohnen würden ebenfalls immer wichtiger: »Stadtplanungspolitik ist Klassenkampf von oben«, sagte Lötzsch.
Was die ostdeutsche Identität angeht, betonte Professorin Hürtgen: Die sogenannte Rassismusdebatte halte sie für »völlig falsch«. Zugleich hob sie hervor, dass auch in Ostdeutschland Migrantinnen und Migranten in besonders prekären Jobs arbeiten, und dass die schlechtere Lage vieler Ostdeutscher im Vergleich zu Westdeutschen eng mit kapitalistischen Prozessen zusammenhänge. »Heute geht es darum, nicht einfach dem Westen hinterherzulaufen, sondern eigene Modelle für Entwicklung zu schaffen«, sagte Hürtgen. Es brauche einen »eigenständigen ostdeutschen Entwicklungsweg« auf sozialer, ökologischer und ökonomischer Ebene. Um das Trauma der »Wiedervereinigung« zu überwinden, müsse man jungen Menschen vermitteln, »dass ihre Heimat Zukunftsperspektiven bietet«. Reindustrialisierung allein sei dabei keine Lösung. Frankreich und Ungarn würden in hohem Maße in die Batterieproduktion investieren, doch die dadurch entstehenden Jobs hätten prekäre Arbeitsbedingungen.
Auf die Frage, ob Ostdeutschland nach dem Anschluss kolonisiert wurde, antwortete Hürtgen, dass »Revolution und Rebellion« am Ende der DDR Unzufriedenheit, Mut und »neue ökologische Vorstellungen« mit sich gebracht hätten. Offensichtlich bestand hier kein Konsens, eine Diskussion blieb jedoch aus. In einem Punkt waren sich jedoch alle weitgehend einig: Der Aufstieg der AfD im Osten habe zweifellos mit den materiellen Bedingungen zu tun. »It’s the economy, stupid«, kommentierte Lötzsch. »Uns fehlen die Jüngeren in Ostdeutschland, die dann im Westen die Wahlergebnisse aufhübschen«, ergänzte Lemke.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Mehr aus: Inland
-
Über die Kanonen reden
vom 11.01.2025 -
Bildstrecke (4): 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz
vom 11.01.2025 -
Solidarische Grüße
vom 11.01.2025 -
Stück gegen Krieg und Untertanengeist
vom 11.01.2025 -
Bildstrecke (2): 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz
vom 11.01.2025 -
Die junge Welt in eigener Sache
vom 11.01.2025 -
Bildstrecke (1): 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz
vom 11.01.2025 -
Auf Agenda-Kurs
vom 11.01.2025 -
Alt und ausgegrenzt
vom 11.01.2025 -
»Niemand weiß, was 2030 ist«
vom 11.01.2025 -
»Statt Forschung gibt es noch mehr Polizeipräsenz«
vom 11.01.2025