»Wie in einer Frittenbude, das ist absurd«
Interview: Gitta DüperthalWährend Kassenpatienten auf einen Termin beim Facharzt teilweise sechs Wochen warten, erhielten Privatversicherte direkt am nächsten Tag einen, kritisierte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung, GKV, zuletzt und forderte Gleichbehandlung. Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, KBV, warnt dagegen vor einer »Neiddebatte«. Wie groß ist die Ungleichheit in den Wartezimmern?
Etwa 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind gesetzlich krankenversichert. Der Rest ist privat versichert und spült bekanntermaßen mehr Geld in die Kassen der Arztpraxen. Deshalb werden diese Patientinnen und Patienten in der Regel bei der Terminvergabe bevorzugt. Das ist Zweiklassenmedizin.
Praxen müssen sich ökonomisch rechnen, Ärzte ihre Kosten durch Einnahmen aus den Kassen bestreiten. Ist es nachvollziehbar, dass die Praxen Privatversicherte vorziehen?
So zu handeln, ist betriebswirtschaftlich sinnvoll. Genau das ist der Kern des Problems. Wir reden dabei weniger über allgemeinärztliche Praxen, sondern hauptsächlich über die Fachärztinnen und -ärzte. Diese Praxen als Klein- und Einzelunternehmen müssten von der Last der betriebswirtschaftlichen Überlegungen befreit werden.
Weil die große Mehrheit der Bevölkerung gesetzlich krankenversichert ist, könne die Minderheit der Privatpatienten kaum Termine blockieren, meint Gassen. Er schlägt vor, Patienten mit akuten Fällen über die Telefonnummer 116117 zu steuern und will dafür mehr Geld.
Dass die KBV mehr Geld will, ist das Grundrauschen, mit dem die Vereinigung vorgeht. Neben dem erwähnten Problem der Eigentumsverhältnisse an den Praxen fragt sich: Warum kommt es insbesondere bei Facharztpraxen zum verstopften Zugang zur Behandlung? Jede und jeder – gleichgültig, ob gesetzlich oder privat versichert – kann dort einen Termin vereinbaren. In Deutschland gibt es seitens der Allgemeinpraxen keinen Vorbehalt für die Fachärzte. Ein solcher Überweisungsvorbehalt wäre bedarfsgerechter, würde die Terminproblematik deutlich entschärfen.
Unter anderem forderte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, SPD, eine Gleichbehandlung. Wie sah es mit der Umsetzung aus?
SPD und Grüne hatten im Wahlprogramm die Bürgerversicherung stehen. So hätte die Ungleichbehandlung von der Wurzel her beendet werden können: Alle Menschen, unabhängig ihres Berufsstatus und der Höhe ihres Einkommens, zahlen in die gesetzliche Krankenversicherung ein und sind darüber pflichtversichert. Damit wäre die Terminvergabe nach Dringlichkeit möglich, unabhängig von finanziellen Erwartungen für die Praxis. So ist es in vielen Ländern geregelt. Dieses Vorhaben verhandelte aber die FDP mit wenig Getöse aus den Koalitionsverhandlungen der nun gescheiterten Ampelregierung heraus.
Volle Wartezimmer dürfte es auch ohne Privatkassen noch geben, wenn die Versorgung sich weiter verschlechtert. Gibt es nicht zu wenige Praxen, auch in urbanen Gegenden?
Das ist ein strukturelles Problem. Wir brauchen mehr primärmedizinische Versorgung, nicht immer mehr aufgesplitterte Facharztbehandlung. Seit Jahren verschiebt sich aber das Verhältnis in umgekehrte Richtung. Das mit dem Bruch der Regierung hinfällige Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz enthielt kleine Keime hin zur Allgemeinversorgung mit Kommunen als Akteuren. Geblieben wäre dennoch die Zweiklassenmedizin mit privat und gesetzlich Versicherten, sowie die medizinische Behandlung mit betriebswirtschaftlich in Kleinstunternehmen tätigen Kolleginnen und Kollegen.
Ärztliche Untersuchung und Behandlung privatwirtschaftlich zu organisieren, wie in einer Frittenbude, ist absurd: Dinge, die mehr Geld bringen und wenig Aufwand machen, gewinnbringend verkaufen zu müssen; alles andere sein zu lassen. Wir brauchen kommunal und gemeinnützig geführte, bedarfsgerechte Primärversorgungszentren. Das freie Unternehmertum muss zurückgedrängt werden: Was die kassenärztlichen Vereinigungen hart bekämpfen.
Michael Janßen ist im Vorstand des »Vereins demokratischer Ärzt*innen und Allgemeinmediziner« in Berlin
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