Aus Leserbriefen an die Redaktion
»Gibt es nicht mehr«
Zu jW vom 9.1.: »Mehr als drei Prozent«
Muss ich das auch noch erleben? Als erstes Kind nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Familie geboren zu werden, in der es nur (!) meinen Vater als männlichen Vorfahren gab, hatte der Frieden immer Priorität in meinem Denken und Handeln. Mein großes Maul für die Demokratie brachte mir in meiner Kindheit und Jugend Probleme ein; ich lebte in einem Land, in dem der Frieden an erster Stelle stand. Das Land, in dem ich lebte, gibt es nicht mehr; ich kann heute das Maul aufreißen für die Demokratie, ohne Konsequenzen, aber das können Demokratiefeinde scheinbar besser als ich. Wir Linken arbeiten uns heute an den Repräsentanten der Macht ab, ohne die Ursachen von Armut, Krieg und Unterdrückung beim Namen zu nennen. Wir bekamen 1990 neben der »deutschen Einheit« den Kapitalismus zurück.
Wer redet heute noch vom demokratischen Sozialismus? Wenige, und das oft auch nur hinter vorgehaltener Hand. Die linke Kraft in Deutschland und der Welt zersplittert im Sektierertum, und der Nationalismus steigt wie ein Phönix aus der Asche. Es tut gut, dass es die jW gibt, die ich in meiner Jugend selten las. Sicher eine Unterlassungssünde, heute lese ich sie täglich, das Soliabo macht es möglich.
Die Welt hat sich daran gewöhnt, die Begriffe Demokratie und Kapitalismus als Synonyme zu betrachten und Kapitalismus und Freiheit gleichzusetzen. Nur wie will man einem Menschen, der nach 1990 geboren wurde, beweisen, dass es in der DDR keine Obdachlosigkeit gab? Die Bilder, die man in der DDR machte, sind 35 Jahre alt, dass die Bausubstanz in Ost- und Westberlin identisch war, wer weiß das noch? Hunger, Armut, Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit gab es in der DDR nicht, aber wer glaubt mir das, wenn er es nicht selbst bewusst erlebt hat? Und jetzt muss ich zum x-ten Mal akzeptieren, an einem Krieg beteiligt zu sein, wenn auch nur indirekt. Damit habe ich im Kalten Krieg schon Erfahrung gesammelt und den heißen verhindert, ich will ihn nicht erleben. Muss ich? Ich bin skeptisch.
Ronald Prang, Berlin
»Wo zündeln sie nicht?«
Zu jW vom 7.1.: »Trump fordert von NATO-Mitgliedern erheblich höhere Rüstungsausgaben«
In den 249 Jahren ihrer Existenz führten die USA 251 Kriege, ein Ende ist nicht abzusehen. Wo zündeln sie nicht? In Syrien, im Libanon, in Gaza. Wenn nicht mit Truppen, dann mit Rüstung. Sie sabotieren Friedensangebote. Jetzt verlangt Trump, obwohl er noch nicht im Amt ist, die NATO-Mitglieder sollen fünf Prozent des BIP für Militärausgaben aufbringen. Für Deutschland sind das mehr als 200 Milliarden Euro. Das bedeutet erhebliche Einbußen beim Sozialstaat. Trump will noch viel mehr: Grönland, Kanada und den Panamakanal. Einfach: America First. Das erfordert von Deutschland, aus der NATO auszutreten, keine nuklearen Waffen auf deutschem Boden, die Unterstützung für Kriege beenden und normale, friedliche Beziehungen zu allen Staaten, besonders zu Russland, herzustellen. Ohne Russland gibt es keinen Frieden in Europa.
Wilfried Schubert, Güstrow
»Auf den Begriff gebracht«
Zu jW vom 7.1.: »Moralisieren vs. Moral«
Bezugnehmend auf den Leserbrief von Bernd Vogel zur Themaseite von Ulrich Ruschig. Aus den ersten beiden Sätzen dieses Leserbriefs ist zu entnehmen, dass Herr Vogel durch den Artikel »Moralisieren vs. Moral« das hohe intellektuelle Niveau zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft und die »intellektuellen Höhen von Kant« würdigt. Der Verlust dieser Fähigkeit durch das »heutige bürgerliche Personal in seinen verschiedenen Ausprägungen« sieht und bedauert er. Was ist aus dieser historisch gewordenen Differenz von Anspruch und Wirklichkeit zu lernen, oder enger gefasst: Was brächte heute eine – zugegebenermaßen mühevolle und aufwendige – Beschäftigung mit Kant? Zumal »eine moralisierende Kritik zuwenig für eine Zeitung (ist), die den Anspruch hat, eine marxistische Tageszeitung zu sein«. Antwort: den eminenten Unterschied von »moralisieren« und Moral zu verstehen. Der kategorische Imperativ von Kant gestattet eben keine Ausnahme durch empirische Gründe. Der Zwang zum wirtschaftlichen Wachstum, wie auch immer gemessen, ist eben kein Grund, gegen diesen zu verstoßen, aufzurüsten und dem jeweiligen Gegner mit kindlicher Geste, aber potentiell tödlichem Ausgang, vorzuwerfen, angefangen zu haben. Kant ist der Philosoph, der am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft diese auf den Begriff brachte und auf den heute noch vielfach fundamentale Bezüge festgeschrieben sind. Ich verweise auf den Artikel von Ulrich Ruschig »Durch den Scholzomaten gedreht«, in dem Scholz Putin die Berechtigung, sich auf Kants »Zum ewigen Frieden« zu beziehen, abspricht, in dem Ruschig nachweist, dass Scholz selbst mit seiner nur ihm gestatteten Kant-Affirmation dreist lügt, indem er Kant vollkommen verdreht. »Dem bürgerlichen Personal«, dazu zählen auch die Universitätsprofessoren, die diesem ungeheuerlichen Guazzabuglio von Scholz unwidersprochen gelauscht haben, zu widersprechen ist Pflicht für jedes vernunftbegabte Lebewesen, um dem endgültigen Absturz in die Barbarei entgegenzuwirken.
Dieter Kaufmann, Heidelberg
»Opportun und verkehrt«
Zu jW vom 6.1.: »Opportunismus als Symptom«
Ein informativer Artikel, was Eduard Bernstein angeht, weil er mir beweist, dass das Gerede, Bernstein hätte seinen Revisionismus von Dühring geholt, ebenso opportun und inhaltlich verkehrt ist. Er saß allenfalls in einigen öffentlichen Vorträgen von Dühring, was dieser und dessen Leute bestätigt haben. Es gibt eine von Dühring aufgestellte Regel: Ein Bauer wird niemals Sozialist, es sei denn, er schließt sich mit anderen Bauern zusammen.
Klaus-Peter Häußer, per E-Mail
Das Land, in dem ich lebte, gibt es nicht mehr; ich kann heute das Maul aufreißen für die Demokratie, ohne Konsequenzen, aber das können Demokratiefeinde scheinbar besser als ich.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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