»Korruption war ein entscheidender Faktor«
Interview: Sinah RadovanovićAm 1. November 2024 stürzte in der nordserbischen Stadt Novi Sad das Vordach eines neu renovierten Bahnhofs ein. 15 Menschen kamen dabei ums Leben. Seitdem gibt es große, vor allem von Studenten initiierte Demonstrationen, auf denen die Aufklärung des Vorfalls gefordert und gegen Korruption im Staatsapparat protestiert wird. Erst am vergangenen Wochenende kam es wieder zu Massenprotesten, Universitäten wurden blockiert und bestreikt. Was wollen die Studenten erreichen?
Der unmittelbare Anlass der Proteste war der Angriff auf Studenten der Akademie für darstellende Kunst in Belgrad, die von unbekannten Tätern attackiert wurden, während sie der Opfer des Unfalls in Novi Sad gedachten. Der Einsturz des Vordachs mobilisierte eine große Zahl Bürger und Studenten, da allen einleuchtete, dass Korruption ein entscheidender Faktor für dieses Ereignis war. Die Forderungen der Demonstranten sind klar: politische und strafrechtliche Verantwortung aller Beteiligten in der Verantwortungskette sowie die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für den Angriff auf die Studenten.
Welchen sozialen Hintergrund haben die Demonstranten?
Die Struktur der Protestierenden ist sehr heterogen, so dass wir nicht von einem einheitlichen sozialen Hintergrund sprechen können. Die Studenten kommen aus verschiedenen Fakultäten und Städten, wir alle teilen jedoch das Bewusstsein, dass der Zustand in Serbien untragbar ist und sich etwas ändern muss.
Welche Parteien und politischen Kräfte nehmen aktiv an den Demonstrationen teil oder unterstützen sie?
Fast alle Oppositionsparteien unterstützen die Demonstrationen, auch wenn sie nicht aktiv daran teilnehmen. Sie sind nicht an der Organisation beteiligt und treffen keine Entscheidungen. Viele Parteien schicken Essen an die Fakultäten, und bei den Protesten sieht man durchaus Menschen, die politischen Parteien angehören. Obwohl die Proteste nicht parteigebunden sind und sich die Studenten von politischen Parteien distanzieren, sind die Forderungen dennoch politisch und die Proteste öffentlich. Es wäre daher unmöglich und meiner Meinung nach unnötig, zu kontrollieren, wer daran teilnimmt.
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić warnt vor einer prowestlichen »Farbenrevolution«. Sehen Sie die Gefahr, dass hier ausländische Kräfte mitmischen, die nicht aus demokratischem Interesse, sondern aus geopolitischen Erwägungen einen als prorussisch wahrgenommenen Präsidenten stürzen wollen?
Nein. Die Welt befindet sich in einer zu großen Krise, und es gibt Kriege an vielen Fronten. Deutschland selbst erlebt eine bisher nicht dagewesene politische Krise. Ich bezweifle, dass irgend jemand die Zeit oder den Willen hat, sich mit Serbien zu beschäftigen. Die ausländischen Mächte haben von Serbien bereits bekommen, was sie wollten, nämlich ein unabhängiges Kosovo, und es scheint, dass sie keinen Grund mehr haben, sich einzumischen. Der serbische Präsident mag in den ausländischen Medien als prorussisch wahrgenommen werden, pflegt aber gleichzeitig hervorragende Beziehungen zu einigen westlichen Führern, so dass er in dieser Hinsicht sicher scheint. Sein Beharren darauf, dass es sich um eine »Farbenrevolution« handelt, ist eigentlich nur ein propagandistisches Manöver, mit dem er versucht, die Sympathien der Bürger für die Studenten zu minimieren. Aber das gelingt ihm nicht besonders gut.
Dejan Bagarić ist Student der serbischen Literatur an der philosophischen Fakultät in Novi Sad und seit April 2024 Mitglied der Gruppe STAV, die zusammen mit der Gruppe Sviće und mit logistischer Unterstützung der liberalen, prowestlichen Partei Pokret slobodnih građana (Bewegung der freien Bürger) Proteste organisiert.
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