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Aus: Ausgabe vom 16.01.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Europäischer Grichtshof

Skandinavisches Nein

Dänemark und Schweden stören sich an unverbindlicher EU-Mindestlohnrichtlinie. EuGH-Gutachter empfiehlt nun, Gesetz für nichtig zu erklären
Von Sebastian Edinger
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Zurechtgestutzt: EU-Mindestlohnrichtlinie war zu unverbindlich und könnte bald nichtig sein

Erfolg für die Gegner der 2022 beschlossenen EU-Mindestlohnrichtlinie: Am Dienstag hat der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), Nicholas Emiliou, in seinem Rechtsgutachten gefordert, den Rechtsakt für nichtig zu erklären. Die EU überschreite ihre Kompetenzen, Lohnpolitik sei Sache der Mitgliedstaaten. Die Richter am EuGH müssen der Empfehlung nicht folgen, tun dies jedoch in der Regel. Laut einer Untersuchung von 2017 entsprechen die EuGH-Urteile in 86 Prozent der Fälle im wesentlichen den Schlussanträgen der Generalanwälte.

Dabei ist die Richtlinie ohnehin kein großes Problem für das Kapital, enthält sie doch keinerlei verbindliche und strafbewehrte Vorgaben: Die Mitgliedstaaten sollen transparente Kriterien für die Bestimmung der Mindestlohnhöhe festlegen, heißt es. Als Referenz wird unter anderem der Wert von 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens vorgeschlagen – und gleichzeitig festgehalten, die Mitgliedstaaten entscheiden selbst »zwischen international üblichen Indikatoren und/oder den auf nationaler Ebene verwendeten Indikatoren«. Die Bundesregierung – scharf kritisiert für die jüngsten Minianpassungen des deutschen Mindestlohns – argumentiert gerne, die Richtlinie gebe keinen konkreten Maßstab vor.

Vor dem EuGH zählt die BRD zu den sieben EU-Staaten, die gemeinsam mit der Kommission als Streithelfer des EU-Rechts auftreten. Die Klage auf Nichtigkeit wurde von Dänemark eingereicht und wird von Schweden unterstützt. Beide Regierungen hatten sich von Anfang an gegen die Richtlinie gestellt, leidenschaftlich unterstützt von den dortigen Gewerkschaften. Im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) hatte das zum wohl heftigsten Streit seiner Geschichte geführt. Der schwedische Verband Landsorganisationen i Sverige (LO) boykottierte zeitweise sogar die EGB-Sitzungen und stellte die Beitragszahlungen ein. Man könne niemanden bezahlen, »der uns tötet«, verlautbarte Generalsekretär Torbjörn Johansson.

In Dänemark und Schweden gibt es keine Mindestlöhne, allerdings eine sehr hohe Tarifdeckung von 82 beziehungsweise 90 Prozent sowie ausgehandelte Löhne, die in aller Regel sehr deutlich über den von der EU-Richtlinie nahegelegten Werten liegen. Anpassungsbedarf ergibt sich für die klagenden Staaten durch das Gesetz also nicht. Gleich im ersten Artikel wird zudem unmissverständlich festgehalten, »die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen sowie die Entscheidung der Mitgliedstaaten, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen« werde nicht berührt. Entsprechend groß war das Unverständnis und die Verärgerung über die radikale Haltung der Dänen und Schweden.

Doch die Nordländer haben schlechte Erfahrungen mit angeblich unverbindlichen EU-Regeln gemacht: Ein staatliches Arbeitsrecht gibt es in diesen Ländern nur im Ansatz, Gewerkschaften und Kapitalverbände bestehen gleichermaßen darauf, dass das so bleibt. Denn das weitgehende Fehlen individuell einklagbarer Arbeitsrechte ermöglicht sehr umfassende, selbstregulierende Vereinbarungen der Tarifparteien. Schon beim Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise der Zustimmung zum Maastricht-Vertrag ließen sich die Skandinavier deshalb Zusicherungen geben, ihr auf Tarifverträgen basierendes Sozialmodell beibehalten zu können.

Trotzdem wurde die EU in den 1990ern verstärkt im Individualarbeitsrecht aktiv, verabschiedete diverse Richtlinien, etwa zu Arbeitszeit oder Elternurlaub und übte Druck auf Dänemark und Schweden aus, diese per Gesetz umzusetzen. Es folgten diverse EuGH-Entscheidungen, die die Spielräume skandinavischer Tarifverhandlungen weiter begrenzten. Entsprechend groß sind heute das Misstrauen und die Ablehnung der Mindestlohnrichtlinie, von der befürchtet wird, sie könne irgendwann auch in verbindlichen Vorgaben münden.

In den meisten anderen EU-Staaten hingegen würde die Anwendung der in der Richtlinie genannten Maßstäbe substantielle Verbesserungen für Geringverdiener bedeuten. Ihr Aus wäre daher ein herber Rückschlag im Kampf um anständige Arbeitsbedingungen. Zu verantworten wäre der jedoch weniger von angeblich unsolidarischen Skandinaviern als vielmehr von übergriffigen EU-Bürokraten, die zahlreiche Versprechen gebrochen haben, um ihre Macht zu erweitern, und nun kein Vertrauen mehr genießen. Die Entscheidung des EuGH wird im Sommer, spätestens Herbst dieses Jahres erwartet.

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