Der Antistar
Von Sören Bär
Er war der stärkste deutsche Schachspieler nach dem Zweiten Weltkrieg: Robert Hübner erlag am 5. Januar 2025 im Alter von 76 Jahren einer Magenkrebserkrankung. 1981 hatte er das WM-Kandidatenfinale erreicht und von 1971 bis 1988 ununterbrochen zu den besten zehn Spielern der Welt gehört.
Robert Hübner wurde am 6. November 1948 in Köln-Porz geboren und erlernte das Schachspiel als Fünfjähriger von seinem Vater Hans. Sein Talent zeigte sich frühzeitig, als er 1961 am achten Brett des Eisenbahnschachvereins Turm Köln spielte und bei der BRD-Mannschaftsmeisterschaft die Bronzemedaille errang. 1963 dominierte er als Vierzehnjähriger die BRD-Jugendmeisterschaft U 18 in Bad Schwalbach mit grandiosen vier Punkten Vorsprung. Mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Wolfgang verfügte er über einen guten Trainingspartner. Gemeinsam gewannen sie 1967 mit der SG Porz die BRD-Mannschaftsmeisterschaft. Im gleichen Jahr wurde Hübner erstmals BRD-Einzelmeister. Erst 1999 sollte er diesen Triumph in Altenkirchen wiederholen. Internationale Beachtung fand sein Sieg in Büsum 1968 – der offenbar auch für Hübner prägend war, denn er veröffentlichte 2018 – ein halbes Jahrhundert danach – ein Turnierbuch darüber. Mit einem geteilten zweiten Platz beim Zonenturnier 1969 in Athen qualifizierte er sich für das Interzonenturnier 1970 in Palma de Mallorca, wo er 3,5 Punkte hinter dem überragenden späteren Weltmeister Robert James Fischer mit 15 Zählern aus 23 Partien die Ränge zwei bis vier teilte. Wie der sechstplazierte DDR-Großmeister Wolfgang Uhlmann qualifizierte er sich für die Kandidatenmatches.
Beim WM-Kandidatenviertelfinale 1971 in Sevilla gegen den Exweltmeister Tigran Petrosjan befand sich der Spielsaal unterhalb des Bürgersteiges. Der während der Partien durch Passanten erzeugte Lärm störte Hübner, wohingegen der schwerhörige Petrosjan einfach sein Hörgerät abschaltete. Hübner bat darum, die Partien in einem anderen Raum auszutragen, doch Petrosjan verweigerte sich dem Vorschlag. Nach sechs Remisen unterlag Hübner in der siebenten Partie durch einen Zeitnotfehler und gab das auf zehn Partien ausgelegte Match aus Protest auf. Er rächte sich bei der Schacholympiade 1972 in Skopje, als er mit dem phänomenalen Resultat von zwölf Siegen und sechs Remisen die Goldmedaille am Spitzenbrett gewann und auch Petrosjan die einzige Niederlage beibrachte, die dieser bei all seinen Olympiateilnahmen erlitt. Bei der Schacholympiade 1990 in Novi Sad wiederholte Hübner diese Glanzleistung, als er erneut die goldene Plakette des besten Spielers an Brett eins eroberte.
Erst beim Interzonenturnier 1979 gelangte Hübner mit einem geteilten ersten Platz erneut in die WM-Kandidatenmatches. In Meran 1980 drang er nach Siegen gegen die Ungarn András Adorján und Lajos Portisch bis in das WM-Kandidatenfinale gegen Viktor Kortschnoi (Schweiz) vor. Das auf 16 Partien angesetzte Match gegen den sowjetischen Dissidenten begann mit einer 3,5:2,5-Führung für Hübner verheißungsvoll, endete jedoch tragisch. Hübner lief in der siebenten Partie in einem ausgeglichenen Endspiel in eine Springergabel und büßte einen Turm ein. Davon geschockt, verlor er auch die achte Begegnung und gab das Match auf – ein trauriges Déjà-vu. Die Hängepartien neun und zehn wurden nach Hübners Demission für Kortschnoi gewertet. Auch beim WM-Kandidatenviertelfinale 1983 im Casino Velden wandte sich das Schicksal gegen ihn. Beim Stand von 7:7 entschied eine Roulettekugel für den sowjetischen Exweltmeister Wassili Smyslow. Eine heute undenkbare Entscheidungsfindung. 1990 beim Interzonenturnier in Manila avancierte Hübner erneut zum WM-Kandidaten, doch gegen Jan Timman (Niederlande) war schon im Achtelfinale Endstation.
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Auch danach blieb Hübner Weltklasse. Frappierend waren seine Auftritte in den Blindsimultanmatches gegen die Zweitligisten Kölner Schachfreunde 1997 und SC Kreuzberg 1999, die Hübner jeweils ohne Verlust mit 5,5:0,5 und 6,5:1,5 gewann. Hübner war ein Perfektionist. Jan Timman, selbst 1982 die Nummer zwei der Welt, beschwerte sich einmal darüber, dass Robert Hübners Rezension eines seiner Werke länger ausgefallen sei als das Buch selbst. In seiner eigenen bahnbrechenden Publikation »Twenty-five Annotated Games« seziert Hübner auf 416 Seiten 25 Partien aus seiner Laufbahn, wendete also fast 17 Seiten pro Partie auf. Seine Analysen fertigte er dabei ohne Computer an.
Die Medien fanden Hübner unzugänglich, während er im persönlichen Kontakt als freundlich, witzig und umgänglich beschrieben wird. Der Leipziger Großmeister Lothar Vogt empfand die Begegnungen mit Hübner als angenehm: »Er war ein Riesentalent. Ich habe mich oft mit ihm in der Schweiz unterhalten und toll verstanden.« Exweltmeister Viswanathan Anand würdigte ihn in einem Nachruf auf Facebook: »Er war ein Riese aus einer anderen Ära des Schachs und aus einer anderen Ära der Schachspieler.«
Hübner, 1976 an der Universität Köln promoviert, sah sich selbst nie als Schachprofi. Größeres Vergnügen bereiteten ihm die Altphilologie und die Papyrologie. Seinem Wesen nach verkörperte er den wissenschaftlichen Typus. Wohl dem Vater, der als Studienrat am Köln-Mülheimer Hölderlin-Gymnasium Deutsch, Latein und Griechisch unterrichtete, ist zu danken, dass Hübner eine Vielzahl von Sprachen beherrschte, darunter auch Finnisch, wozu ihn sein früherer Mannschaftskollege Heikki Westerinen inspirierte. 1992 besiegte Hübner in einer spektakulären Partie bei den 20. Dortmunder Schachtagen Weltmeister Garri Kasparow, womit er Revanche für eine 1,5:4,5-Matchniederlage in Hamburg 1985 nehmen konnte.
Robert Hübner–Garri Kasparow, 20. Dortmunder Schachtage, Runde 6, 23.4.1992 Der Kulminationspunkt: Dr. Robert Hübner biegt mit 34.Sc6! auf die Siegerstraße ein
1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.g3 Lg7 4.Lg2 O-O 5.Sc3 d6 6.Sf3 Sbd7 7.O-O e5 8.e4 c6 9.h3 Db6 (Im klassischen g3-Königsinder wählte Kasparow immer diesen Zug, mit dem Schwarz Druck auf d4 und b2 ausübt.) 10.c5!? (In den 90er Jahren löste dieser unternehmungslustige Vorstoß 10.Te1, 10.d5 und 10.dxe5 in der Beliebtheitsskala ab.) 10…dxc5 11.dxe5 Se8 12.Sa4 (Mit dem chancenreichen Bauernopfer 12.e6! wurde Kasparow erst ein Jahr später in Linares 1993 von Alexei Schirow konfrontiert. Nach 12…fxe6 13.Sg5 Se5 14.f4 Sf7 15.Sxf7 Ld4+ 16.Kh2 Txf7 17.e5 Sc7 18.Se4 Sd5 19.a4 a5 20.Ta3 endete die spannende Begegnung im 46. Zug remis. Heute gilt 19.h4! Dd8 20.h5! als besser für Weiß.) 12…Da6 13.Lg5 (Hübner folgt einer Empfehlung von Artur Jussupow, der 1990 in Linares gegen Kasparow mit 13.Lf4?! nach 13…Sc7 14. Dc2 Sc6 15.Tfd1 Te8 16.Td6?! Da5 17.Tad1 Sb6! 18.Sxb6 axb6 19.a3 Da4 20.De2 b5 21.De3?! b4 -/+ Schiffbruch erlitten hatte.) 13…b5 14.Sc3 Sc7 15.Le7 Te8 16.Ld6 Se6 17.a4 b4 18.Se2 Da5 19.Sd2 La6 (Vermeidet 19…Sxe5 20.f4 Sd7 21.Sc4 Da6 22.Tc1 wegen 22…Sd4?! 23.e5 +/=, doch 22…Sb6! 23.b3 Sxc4 24.Txc4 Db6 =/+ war möglich.) 20.f4 c4 21.Kh2 Tad8 =/+ 22.Dc2 Sb6 23.Tfd1 Lf8? (23…Sc5! 24.Sf3 Sb3 25.Tab1 Dxa4 26.Sed4 Sxd4 27.Sxd4 Dxc2 28.Sxc2 b3 29.Sd4 Lb5 =/+) 24.Nf3! c3 25.Sed4 Sxd4?! (25…cxb2 26.Dxb2 Sc4 27.Da2 +/=) 26.Sxd4 cxb2 27.Dxb2 +/= (Nach Kasparows Ungenauigkeiten verfügt nun Hübner über die besseren Chancen.) 27…Sc4 28.Db3 (28.Da2!) 28…Db6 29.a5 Db7 30.Lxf8 Kxf8 31.e6! c5 32.e5! Dc7 33.exf7 Dxf7 34.Sc6! Txd1 (34…Sxe5 35.Dxf7+ Sxf7 36.Sxd8 Txd8 37.Txd8+ Sxd8 38.Tc1 c4 39.Lf1 b3 40.Lxc4 b2 41.Td1 b1D 42.Txb1 Lxc4 43.Tb8 +/=) 35.Txd1 Sxe5 36.Ld5! Lc4! 37.Dc2 Sg4+? (Kasparow vergibt in Zeitnot seine letzten Remischancen 37…Sxc6! 38.Dxc4 Dc7 39.Dxc5+ De7 40.Dc1 +/= oder 37…b3 38.Dc1 Df5! 39.Sxe5 Dc2+! 40.Lg2! Dxc1 41.Txc1 Txe5! 42.fxe5 Ld3! 43.Txc5 b2 44.Tc8+ Ke7 45.Tb8 b1D 46.Txb1 Lxb1 47.Ld5 +/- .) 38.hxg4 +- Te2+ 39.Dxe2 Lxe2 40.Lxf7 Lxd1 41.Lc4 b3 42.Sxa7 b2 43.La2 Le2 (43…La4) 44.Kg2 Ld3 45.Kf3 Ke7 46.Ke3 b1D 47.Lxb1 Lxb1 48.Sb5 Kd7 49.a6 Kc6 50.f5! (Kasparow ließ sich die schöne Pointe 50…gxf5 51.gxf5 Lxf5 52.Sd6! Kxd6 53.a7 +- nicht mehr zeigen.) 1:0
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