Notstand bei Jugendhilfe
Von Yaro Allisat
Es ist eine Odyssee: Sandra Müller (Name geändert) wird seit ihrem dreizehnten Lebensjahr von einer Unterbringung zur nächsten geschickt. Zehn Wohngruppen (WG) und Heime hat sie in den vergangenen Jahren durch. Mehr als ein Jahr verbrachte sie außerdem im Jugendnotdienst, einer Wohngruppe, die nur für den kurzfristigen Aufenthalt gedacht ist, wenn Jugendliche weder nach Hause können, sich aber keine andere Unterbringung findet. Teils suchte Sandra selbst nach möglichen Wohngruppen, schrieb E-Mails, telefonierte, um Besichtigungstermine zu vereinbaren, da ihre Sachbearbeiterin im Jugendamt nicht die Zeit hatte, eine Einrichtung herauszusuchen.
Für Müller ist dieses dauerhafte Umziehen eine starke Belastung. Nie kommt sie irgendwo an, nie findet sie dauerhaft Freunde. Ihr Lebensweg zerstückelt. Mehr noch, in einer WG kam sie mit den Betreuern nicht klar. In der nächsten warfen Einrichtungsbetreiber sie nach einem Suizidversuch raus. Für das Jugendamt ist die stationäre Unterbringung, auch im Jugendnotdienst, teuer. Kapazitäten, sich um Alternativen zu bemühen oder mit Sandras Familie sozialarbeiterisch zu arbeiten, fehlen.
Eine jüngst vorgestellte Recherche des WDR zeigt, was Jugendliche, Sozialarbeiter, Vereine und Fachpolitiker bereits wissen: Die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD), auch Jugendämter genannt, sind überlastet, und der Kinderschutz ist dadurch gefährdet. Laut der Recherche sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis das System zusammenbreche. Der WDR hatte Befragungen von 580 ASD deutschlandweit ausgewertet. Fakt ist: Der Kinderschutz hierzulande ist in der Krise. 50 bis 60 Fälle müssen die Mitarbeiter oft gleichzeitig bearbeiten, knapp das Doppelte von dem, was Gewerkschaften fordern. »Ich habe regelmäßig Angst, dass ein Kind umkommen könnte, so wie ich arbeite«, wurde eine Sozialarbeiterin vom WDR zitiert. Öffentlich wird davon fast nichts. Wegen des Datenschutzes oder der Zurückhaltung und der Angst der ASD-Beschäftigten vor Jobverlust oder Anzeigen durch die Betreiber.
Die Probleme betreffen nicht nur die ASD, gleichfalls die Jugendnotdienste samt Kollegen. Das bundesdeutsche Jugendhilfesystem steht insgesamt auf der Kippe. Bei den Notdiensten etwa landen alle, für die man gerade nichts anderes findet. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Jugendnotdienstes Leipzig, die anonym bleiben möchte, berichtet gegenüber jW von völliger Überforderung der Beschäftigten. Der Notdienst ist dafür eingerichtet, dass Jugendliche nur wenige Wochen dort verbringen. In der Realität hängen sie oft monatelang fest, da der ASD keine Kapazitäten hat, sich um neue Unterbringungen zu kümmern. Oft kommen bei den untergebrachten Jugendlichen »multiple Störungen« zusammen. Drogen, Traumata, psychische und chronische Erkrankungen. Nicht zuletzt gehörten körperliche Konflikte unter den Jugendlichen und mit Betreuern zum Alltag.
NRW-Landespolitiker zeigten sich in einem Folgebericht des WDR entsetzt. Die SPD-Abgeordnete Nina Andrieshen, auch Vorsitzende der Kinderschutzkommission im Landtag, sprach von einem »absoluten Alarmsignal«. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi verlangte eine Fallobergrenze von 28 pro Vollzeitstelle in den ASD. Die FDP forderte mehr staatliche Aufsicht über die Jugendämter, »um klare Standards und Unterstützung zu gewährleisten«. Überraschen kann Fachpolitiker die prekäre Situation der ASD nicht; sie ist hinlänglich bekannt.
Ob die finanziell klammen Kommunen, die den Großteil der Jugendhilfestrukturen tragen, seitens des Landes besser ausgestattet werden, ist offen. Immerhin, ein Hoffnungsschimmer: »Solche Orte wie den Notdienst wird es immer geben«, heißt es vertraulich von einer Jugendbürgermeisterin einer westdeutschen Stadt gegenüber jW. Nur: Bessere Job- und Unterbringungsbedingungen bedeutet das noch nicht.
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