Herrscher über Leben und Tod
Von Sabine LuekenIn der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) wurde 2017 in einem Safe in Berlin ein bemerkenswerter Fund gemacht: Eine prall mit Originaldokumenten gefüllte Lederaktentasche aus den 1930er Jahren, die wahrscheinlich von Justitiaren der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD), der Vorgängerorganisation der KBV, verwendet wurde. Sie gab den Anstoß, ihre Nazivergangenheit aufklären zu lassen. Historiker des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung erschlossen das Altarchiv der KBV in Köln und erarbeiteten eine Ausstellung, die bis Ende Januar im Gebäude der KBV am Herbert-Lewin-Platz in Berlin-Tiergarten und danach bei den Kassenärztlichen Vereinigungen in 18 weiteren Städten bundesweit zu sehen ist.
Herbert Lewin (1899–1982) war 1935 Chefarzt der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung des Berliner Jüdischen Krankenhauses. Im Oktober 1941 wurde er mit seiner Frau ins Ghetto in Łódź und im August 1944 nach Auschwitz deportiert, seine Frau überlebte nicht. Als er 1950 Chefarzt an der Städtischen Frauenklinik in Offenbach werden sollte, kam es zu einem Skandal. Ärzte im Offenbacher Gemeinderat, Ärzte und Krankenschwestern der Klinik und der CDU-Bürgermeister der Stadt lehnten seine Berufung mit der Begründung ab, keine Frau könne sich dem Rachegefühl eines »KZlers« als Patientin anver-trauen. Erst als die vorgesetzten Behörden intervenierten und öffentlicher Protest einsetzte, kam es zur Anstellung Lewins.
Mithilfe dieser und anderer Fall-, Lebens-, Beziehungs- und Konfliktgeschichten möchte die Ausstellung das »Dreieck zwischen Patient, Arzt und ärztlicher Ständeorganisation« chronologisch von der Weimarer Republik bis zu späten Kontinuitäten in der Gegenwart anschaulich machen.
Die KVD, im August 1933 gegründet, war ein Zusammenschluss der regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen, die das Verhältnis der Ärzte zu den Krankenkassen und die Sicherstellung der ambulanten Versorgung der Bevölkerung im Deutschen Reich regelten. Schon vor dieser Gründung begann die Selbstentmachtung. Der bis dorthin mächtigste Ärztefunktionär des Reichs, Alfons Stauder, gab die Parole von der »absolut notwendigen Gleichschaltung der ärztlichen Standesorganisationen« aus und trat von all seinen Ämtern zurück. Mithilfe des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (April 1933) wurden jüdische und politisch oppositionellen Ärztinnen und Ärzte an den staatlichen und städtischen Krankenhäusern, Universitätskliniken und Gesundheitsämtern entlassen, zwei Wochen später wurde missliebigen niedergelassenen Ärzten die Kassenzulassung entzogen, z. B. dem praktischen Arzt Werner Schmidt aus Reichenbach »wegen kommunistischer Betätigung«. In einem Schreiben der Bezirksstelle Plauen der KVD wird er als ein »derartig gefährlicher Schädling« bezeichnet, dass man ihm »die Behandlung jeglicher Kassenmitglieder« untersagen müsse.
Den jüdischen Ärzten wurde nach der Kassenzulassung auch die Approbation entzogen, sie durften als »Krankenbehandler« ausschließlich jüdische Patienten behandeln. Für die anderen wurde die sukzessive Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht wichtig. Ab 1935 war sie aufgehoben, wenn das »gesunde Volksempfinden« dies nahelegte. Das betraf zunächst vor allem Wehrmachtsangehörige und Musterungspflichtige: »Die (…) Interessen des Volkes haben dem Interesse der einzelnen Kranken (…) vorauszugehen.« Auf diese Grundüberzeugung und auf die Aufgabe, als Elite im NS-Staat »Erb- und Rassenpflege«, die »Auslöschung« aller schlechten Gene durchzusetzen, wurden Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern auch in der 1935 eingerichteten »Führerschule der deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse in Mecklenburg eingeschworen.
Im Krieg weitete sich ihr Betätigungsfeld. Als Lagerärzte hatten sie über Arbeitseinsatz, damit über Leben und Tod von Häftlingen und Kriegsgefangenen zu entscheiden, in Konzentrationslagern konnten sie Menschenversuche machen. Als sich die ärztliche Versorgung an der »Heimatfront« verschlechterte, wurden in der später nach Hitlers »Begleitarzt« Karl Brandt benannten Aktion Patienten von Heil- und Pflegeanstalten verlegt oder ermordet, um Lazarettbetten zu schaffen. Eine der Ärztinnen, die für den Stab »Krankenhaus-Sonderanlagen« von Brandt arbeitete, war Erika Flocken. 1944 wurde sie leitende Ärztin bei der Organisation Todt, zuständig für Außenlager des KZ Dachau, wo sie Häftlinge für die Gaskammer selektierte. Ein amerikanisches Militärgericht verurteilte sie 1947 zum Tod, die Strafe wurde später umgewandelt und 1958 zur Bewährung ausgesetzt. Damit gehörte sie zu den ganz wenigen, die bestraft wurden. Auch bei der KVD habe es sich »nicht um eine nationalsozialistische Organisation gehandelt«, bescheinigte das Bundesministerium für Arbeit 1953. Die Rechtsnachfolge trat die KVB trotzdem nicht an, befürchtete man doch die umfangreichen Regressansprüche der ausgeschlossenen jüdischen Ärzte.
»(…) Ob eine Unfruchtbarmachung Erbkranker noch möglich ist (…)«, diese Frage stellte die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern und der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen des Bundesgebietes in einem Rundschreiben noch 1950. Ein weiteres Beispiel für Kontinuität ist der Fall Werner Scheu, ein nachweislicher Nazitäter, der nach dem Krieg auf der Nordseeinsel Borkum ein privates Kinderkurheim betrieb. Im »Mövennest« kam es regelmäßig zu Kindesmisshandlungen.
Was fehlt? Ärzte, vor allem Psychiater, haben bereits seit dem Ersten Weltkrieg darüber debattiert, ob jedes Leben erhaltenswert sei. Sie wurden nicht von den Nazis missbraucht, sondern sie brauchten die Nazis, wie Ernst Klee festgestellt hat. Das Büchlein des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche (»Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«) stammt von 1920. Ärzte als Verführte der »Nationalsozialisten«, das wirft eine bizarre Sicht auf die ungeheuren Verbrechen, die gerade von Ärzten verübt wurden. Robert Jay Lifton, der US-amerikanische Psychiater, schrieb ein Buch darüber und stellte in Interviews fest, dass die Ärzte sich häufig als mystische Heiler betrachtet hätten, mit besonderen moralischen Rechten und Vorrechten, als Herrscher über Leben und Tod. Diese Haltung war für totalitäre Regimes äußerst nützlich.
Wanderausstellung: »Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus«, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin, Foyer im Gebäudeteil I, bis 28.1.2025
Nächste Station 3.2.–28.2.2025, Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg, Albstadtweg 11, 70567 Stuttgart
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