Bündnis mit Widersprüchen
Von Sebastian Friedrich und Ingar SoltyGroßer Jubel brandete beim Bundesparteitag des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auf, als gegen Ende endlich die Gründerin, Vorsitzende und Namensgeberin der Partei die Bühne betrat. Ein Großteil der 600 Anwesenden erhob sich von den Stühlen, klatschte und jubelte. »Mann, ist die Stimmung gut«, sagte sie. Die, die meinen, die Stimmung sei schlecht, müssen sich im Raum geirrt haben, so Wagenknecht.
Ein Jahr nach der offiziellen Gründung kämpft das BSW darum, den Einzug in den nächsten Bundestag zu schaffen. Aktuelle Umfragen sehen die Partei bei etwa vier bis sechs Prozent – ein kritischer Bereich, der über Erfolg oder Scheitern entscheidet. Es ist die erste ernsthafte Krise der jungen Partei, nachdem sie mit einem beeindruckenden Start für Aufsehen gesorgt hatte: Bei den Europawahlen im Juni holte das BSW aus dem Stand 6,2 Prozent der Stimmen, und bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen erzielte es sogar zweistellige Ergebnisse. Doch die aktuelle Krise kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist das Resultat von fünf zentralen Widersprüchen, die das BSW seit seiner Gründung begleiten.
Kapital vs. Arbeit
Auf der Bundespressekonferenz im Herbst 2023, bei der die Gründung angekündigt wurde, und beim Gründungsparteitag am 27. Januar 2024 stellte die junge Formation vier zentrale Themen in den Mittelpunkt: wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, Frieden bzw. Entspannungspolitik sowie die Forderung nach Meinungsfreiheit. Bereits in diesen Kernthemen offenbaren sich Widersprüche. Besonders deutlich zeigt sich dies im Spannungsverhältnis zwischen der eher linken lohn- und arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung und dem Konzept der »wirtschaftlichen Vernunft«. Letzteres orientiert sich primär an den Interessen des kriselnden Mittelstands sowie kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) und verspricht, Steuererhöhungen zu vermeiden. Zugleich propagiert die Partei soziale Gerechtigkeit, etwa durch höhere Mindestlöhne und ein höheres Rentenniveau, was jedoch im Widerspruch zu ihrer mittelstandsfreundlichen Ausrichtung steht.
Dieser Widerspruch wird im BSW nicht gelöst, sondern durch Priorisierung überlagert. Seit der Gründung stand »wirtschaftliche Vernunft« stets an erster Stelle, noch vor Themen wie »soziale Gerechtigkeit« oder Arbeit. Dies spiegelt sich auch im Bundestagswahlprogramm wider, das mit einem »Comeback für die deutsche Wirtschaft« beginnt, bevor es im zweiten Kapitel um soziale Gerechtigkeit geht. Diese Reihenfolge lässt sich als strategische Entscheidung einer neuen Partei interpretieren, die sich abgrenzen möchte – insbesondere von der kriselnden Linken – und programmatisch bewusst vage bleibt, um möglichst viele Stimmen aus unterschiedlichen politischen Lagern zu gewinnen. Die Selbstbeschreibung als Vertreterin eines »linken Konservatismus«, wie sie von Wagenknecht formuliert wurde, verstärkt den Charakter einer »Catch-all«-Partei.
Dabei spiegelt die wirtschaftspolitische Programmatik des BSW auch den ideologischen Wandel der Parteigründerin wider. Wagenknecht hat sich in ihren Veröffentlichungen von ihren sozialistischen Anfängen in der Kommunistischen Plattform der PDS und den marxistischen Überzeugungen, die etwa ihr Buch »Kapitalismus im Koma« (2003) sowie Arbeiten über die Marxsche Arbeitswerttheorie prägten, hin zu ordoliberalen Ansätzen entwickelt. Dies zeigt sich deutlich in ihren späteren Büchern wie »Freiheit statt Kapitalismus« (2011) und »Reichtum ohne Gier« (2016). Diese ideologische Transformation prägt auch die wirtschaftspolitische Grundausrichtung des BSW, die sich klar von der klassenpolitischen und linkssozialdemokratischen Programmatik der Linken unterscheidet.
Gleichwohl zeichnet sich eine gewisse Entwicklung innerhalb des BSW ab. Während in der Anfangsphase rhetorisch noch stark auf den Mittelstand eingegangen wurde, sind die konkreten Forderungen im Bundestagswahlprogramm inzwischen stärker auf die Interessen von Lohnabhängigen ausgerichtet. Den KMU bietet die Partei überraschend wenig. Einerseits verspricht sie Bürokratieabbau. Das dockt an der durchaus realen Erfahrung kleiner Unternehmen an, dass von Deregulierung die großen Konzerne profitieren, für sie selbst aber der Neoliberalismus durchaus mit immer mehr Vorschriften einhergegangen ist. Andererseits ist da das Versprechen der möglichen makroökonomischen Folgen einer stärkeren binnenwirtschaftlichen Konjunkturpolitik. Der vorgeschlagene Weg aus der Wirtschaftskrise – das sogenannte Comeback der deutschen Wirtschaft – basiert auf einer Mischung aus Zukunftsinvestitionen und einer gesteigerten aggregierten Nachfrage.
Der grundlegende Widerspruch zwischen der wirtschaftspolitischen Ausrichtung und dem Fokus auf die Arbeiterklasse bleibt jedoch bestehen. Will das BSW eine ordoliberale Partei im Interesse des Mittelstands sein, wodurch es in Konkurrenz zur FDP und AfD treten würde? Oder möchte es eine Partei der Arbeiterklasse sein? Diese Frage ist zentral für die strategische Ausrichtung und die künftige Entwicklung des BSW. Sie bleibt bislang unbeantwortet.
Das BSW versucht, den Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit zu bearbeiten, indem es auf den offensichtlichen Zusammenhang zwischen der aktuellen Wirtschaftskrise und den Folgen des Umgangs der Bundesregierung mit dem Krieg in der Ukraine verweist. Ein zentrales Anliegen ist es, die Energiekosten für Industrie und Privathaushalte zu senken. Dafür schlägt das BSW vor, nach einem diplomatischen Friedensschluss in der Ukraine Verhandlungen mit Russland aufzunehmen, um den noch funktionsfähigen Teil der Nord-Stream-Pipeline wieder für Gaslieferungen aus Russland zu nutzen. Ziel ist es, die Abhängigkeit von teurem Frackinggas aus den USA zu reduzieren, das die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und die Lebenshaltungskosten der Privathaushalte belastet.
Auch andere Maßnahmen der aktuellen Regierung, wie das Heizungsgesetz und die CO2-Bepreisung, die laut BSW die Kosten des Klimaschutzes ungleich auf die Individuen abwälzen, sollen zurückgenommen werden. Dennoch erkennt die Partei die Notwendigkeit des Klimaschutzes an und fordert Investitionen in Zukunftstechnologien. In der Steuerpolitik plädiert das BSW für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Reform der Schuldenbremse, ähnlich wie Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Teile der Union – allerdings nicht, um die Rüstungsausgaben zu erhöhen, sondern zur Finanzierung sozialer und wirtschaftlicher Projekte.
Wirtschaftliches Wachstum verspricht sich das BSW vor allem durch die Stärkung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage. Die Partei fordert unter anderem einen höheren Mindestlohn von 15 Euro, eine Steigerung der Tarifbindung und eine stärkere betriebliche Mitbestimmung, was sie mit Positionen von SPD und Linke verbindet. Der Sozialstaat soll ausgebaut werden: Geplant ist eine Rentenreform hin zu einer Bürgerversicherung, in die auch Beamte einzahlen. In der Gesundheitspolitik soll eine gesetzliche Krankenkasse ebenfalls als Bürgerversicherung eingeführt werden, die zusätzliche Leistungen wie Zahnersatz und Brillen abdeckt. Zudem fordert das BSW ein Pflegesystem, in dem die Kosten von der öffentlichen Hand übernommen werden.
Auffällig ist, dass das BSW die Idee der Leistungsgesellschaft inzwischen weniger stark gegen Bürgergeldempfänger richtet, sondern gegen die Bezieher leistungsloser Einkommen aus Aktien- oder Immobilienkapital. Ziel sei ein Land, »in dem die Fleißigen belohnt werden und nicht die Erben«.
Arbeitsmarkt- und sozialpolitisch positioniert sich das BSW damit links von der SPD, insbesondere im Vergleich zu deren Regierungspraxis. Die Programmatik erscheint in weiten Teilen klassisch sozialdemokratisch und reformistisch und stößt in die von der SPD hinterlassene Lücke. Zugleich wirkt das Programm in weiten Teilen wie eine abgeschwächte Version des früheren Partei- und aktuellen Wahlprogramms der Linkspartei minus einer umfassenden Systematik. Denn Die Linke, die sich von unten langsam wieder der Fünfprozentmarke annähert und auf den durchaus realistischen Einzug in den Bundestag durch wenigstens drei Direktmandate setzt, bietet nach wie vor durchdachtere Konzepte, auch wenn es in einigen Punkten immer noch (oder wieder) größere programmatische Überschneidungen gibt.
Der Widerspruch der Orientierung auf KMU einerseits und die Arbeiterklasse andererseits wird sich für das BSW in den nächsten Jahren zuspitzen, denn diese werden voraussichtlich von harten Klassenauseinandersetzungen geprägt sein, insbesondere von einem verstärkten Klassenkampf von oben. Der Versuch des BSW, sowohl KMU als auch Lohnabhängige anzusprechen, wird im Kontext der vom mutmaßlich neuen Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) angekündigten »Agenda 2030« auf eine harte Probe gestellt werden. Diese Pläne umfassen Maßnahmen wie Steuersenkungen für Konzerne und Wohlhabende, Sozialabbau, eine »freiwillige« Rente mit 70, Kämpfe um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und eine Ausweitung der Normalarbeitszeit auf 42 Stunden pro Woche.
Illusionäre Vorstellungen
In dieser Situation erweist sich das vom BSW propagierte »Deutschland-Modell des späten 20. Jahrhunderts«, in dem Klassenharmonie herrscht und das Kapital vom Sozialstaat profitiert, als gefährliche Illusion. Die aktuelle Krise des deutschen Exportmodells – bedingt durch die verschlafene Umstellung auf Elektromobilität, die zunehmende Konkurrenz aus dem Ausland und die energiepreisbedingte Inflation durch den US-Wirtschaftskrieg gegen China und den Ukraine-Krieg – lässt diese Vorstellung unrealistisch erscheinen.
Entscheidend wird sein, welche Frontlinien und Antagonismen das BSW in der öffentlichen Debatte aufmacht. Wagenknecht hat ihre Kritik an der Ampelregierung und den Folgen von Krieg und Krise häufig aus einer Mittelstandsperspektive formuliert. Dabei wird der Hauptwiderspruch zwischen Deutschland und den USA gesehen, weniger aber der zwischen den Klassen. Dies ist problematisch, da KMU häufig als vehementeste Gegner von Gewerkschaften, Betriebsräten, Flächentarifverträgen, Mindestlöhnen, Steuern und Umverteilung auftreten. Ihre strukturelle Abhängigkeit vom Großkapital und ihre Position im Konkurrenzkampf machen sie zu einer wenig verlässlichen Basis für eine Partei, die auch Arbeiterinteressen vertreten möchte.
Manche Beobachter sehen in der Betonung vager nationaler Interessen, wie sie auch im zentralen BSW-Slogan »Unser Land verdient mehr« zum Ausdruck kommt, weder eine populistische Rhetorik noch eine dauerhafte Strategie, sondern ein temporäres Bündnis zwischen nichtmonopolistischem Kapital und Beschäftigten. Auch vor einem solchen Hintergrund ließe sich die Perspektive der Lohnabhängigen deutlicher vertreten. Genau das unterlässt Wagenknecht jedoch oft, wie der frühere Sozialdemokrat, spätere Linke-Politiker und mittlerweile aus dem BSW ausgetretene Torsten Teichert kritisiert hat.
In der notwendigen Kritik an dem engen Schulterschluss der Bundesregierung mit den USA kommt es auf präzise Formulierungen an, um nicht in nationalistische Diskurse zu verfallen, die den Klassenantagonismus im Innern verschleiern und politische Illusionen über einen neuen Klassenkompromiss in einer Krisenlage schüren.
Top-down vs. Aktionsfähigkeit
Auch der zweite Widerspruch beschäftigt das BSW seit seiner Gründung: Er besteht zwischen der gewählten Parteiform und den Erfordernissen einer aktionsfähigen politischen Kraft. Die Parteigründer entschieden sich für eine straffe, top-down organisierte Struktur. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Rückkehr zum Avantgarde- oder Kadermodell des Marxismus-Leninismus. Vielmehr ist der autoritäre und hierarchische Charakter der Partei nicht ideologisch motiviert, sondern das Ergebnis einer pragmatischen Notwendigkeit.
Sie ergibt sich aus den besonderen Bedingungen, die die Entstehung des BSW überhaupt ermöglicht haben. Die Partei hätte es vermutlich nicht gegeben, wären wir nicht in einem Populismus begünstigenden Moment, das sich durch das Zusammentreffen dreier Entwicklungen auszeichnet: einer ökonomischen Krise, einer politischen Krise und einem wachsenden Misstrauen signifikanter Teile der Bevölkerung gegenüber den etablierten Parteien. Immer mehr Menschen lösen sich von den traditionellen Parteien und suchen nach Alternativen – wie dem BSW.
Doch eine solche Ausgangslage bringt auch spezifische Herausforderungen für populistische Parteien mit sich. Unter den zahlreichen Suchenden, die einer neuen politischen Kraft wie dem BSW als Projektionsfläche dienen, befinden sich häufig Menschen, die erst im Zeitraffer der Krise politisiert wurden. Diese sind oft politisch unerfahren und weltanschaulich nicht gefestigt. Besonders durch den gesellschaftlichen Umgang mit der Coronapandemie – das BSW fordert hier einen Untersuchungsausschuss, der die Pandemiepolitik der Regierung aufarbeitet, Entschädigungen für Impfgeschädigte usw. – wurden viele politisiert, und viele von ihnen konnten keine kohärenten politischen Überzeugungen entwickeln. Zusätzlich sieht sich das BSW – wie jede neue Partei – mit Abenteurern, Glücksrittern und Unruhestiftern konfrontiert, die ein erhebliches Disruptionspotential für das Parteiprojekt darstellen.
Um solchen Herausforderungen zu begegnen, hat das BSW strikte Regeln für die Zusammensetzung seiner Mitgliedschaft eingeführt. Mitgliedsanträge müssen vom Vorstand genehmigt werden und können ohne Begründung abgelehnt werden. Zudem wurde eine einjährige Einspruchsfrist gegen Mitgliedschaften eingeführt, um nachträglich gegen unliebsame Mitglieder vorgehen zu können. Diese strikte Kontrolle hat zur Folge, dass die Mitgliederzahl der Partei sehr gering ist. Nach eigenen Angaben zählt das BSW 25.000 Unterstützer, jedoch nur etwa 1.100 Mitglieder.
Auch die Zusammensetzung des inneren Kerns der Partei ist Ausdruck dieses Kontrollbedürfnisses. Sahra Wagenknecht, geprägt von den erbitterten innerparteilichen Konflikten in der Linkspartei, hat ein Umfeld aus Gefolgsleuten geschaffen, das sich primär durch Loyalität und weniger durch weltanschauliche Übereinstimmungen auszeichnet.
Dieser Ansatz bringt jedoch Herausforderungen mit sich. Einerseits will das BSW jene aus der Partei fernhalten, die das Projekt gefährden könnten. Andererseits muss es Begeisterung und aktivistisches Engagement aufrechterhalten – eine Aufgabe, die ohne eine breitere Basis kaum zu bewältigen ist. Flyer verteilen sich nicht von allein, Infostände müssen aufgebaut und betrieben, Wahlplakate angebracht werden. Auch das BSW, das von einigen sehr hohen Einzelspenden profitiert, kann langfristig nicht auf bezahlte Kräfte setzen. Nach den vergangenen Wahlkämpfen und der Organisation von zwei Parteitagen könnten die Millionenspenden weitgehend aufgebraucht sein.
Dieser Widerspruch hat bereits negative Folgen. Der Unmut wächst, selbst bei prominenten Parteimitgliedern. So kritisierte der BSW-Europaabgeordnete Friedrich Pürner in einem Spiegel-Interview die restriktive Mitgliederaufnahme als »katastrophal«: »Man soll für die Partei arbeiten und zahlen, aber Mitglied darf man nicht sein.« Auch die internen Querelen um verschiedene BSW-Verbände in Hamburg sind Ausdruck dieses Konflikts. Es scheint der Partei momentan schwer zu fallen, ihre Basis und Anhängerschaft zu mobilisieren. Für den Wahlkampf wurden bislang nur wenige Veranstaltungen angemeldet, und Massenmobilisierungen – etwa gegen die Ukraine-Politik der Bundesregierung – gab es schon länger nicht mehr. Das BSW versucht, diesen Widerspruch zu entschärfen, indem die strikten Regeln zur Mitgliederaufnahme gelockert werden. Auf dem Parteitag in Bonn kündigte Oskar Lafontaine an, die Partei stärker für Unterstützer zu öffnen.
Anti-Establishment vs. Mitregieren
Der dritte Widerspruch liegt in der gleichzeitigen Selbstpräsentation des BSW als Anti-Establishment-Partei und dem formulierten Anliegen, Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen. Insbesondere bei der Aufarbeitung der Coronamaßnahmen, beim Krieg in der Ukraine und bei der Kritik an den Kriegsverbrechen der israelischen Regierung und deren Unterstützung durch die Bundesregierung kann sich das BSW als tatsächliche Alternative zu den etablierten Parteien positionieren. In diesen Bereichen wirkt die Partei rebellisch und unangepasst. Vor allem in der Friedensfrage erscheint das BSW für viele ehemalige Linke-Funktionäre und Wähler als die konsequentere Friedenspartei, frei von der »Ja, aber«-Oppositionshaltung der Quellorganisation. Ein Beleg dafür war für viele frühere Linke-Wähler, die bei der Europawahl im vergangenen Jahr erstmals das BSW unterstützten, das Verhalten der ehemaligen Linke-Spitzenpolitiker: Während die parteilose Spitzenkandidatin Carola Rackete für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine stimmte, enthielt sich der Exparteivorsitzende Martin Schirdewan – ein Vorgang, der als Abkehr von konsequenter Friedenspolitik wahrgenommen wurde.
Doch betonte das BSW insbesondere während der Landtagswahlkämpfe in Sachsen, Thüringen und Brandenburg seine Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung. Diese zunächst vielleicht nur rhetorisch vorgetragene Bereitschaft wurde rasch Realität: In Thüringen und Brandenburg übernahm das BSW tatsächlich Regierungsverantwortung. Dies dürfte weniger auf die Begeisterung potentieller Koalitionspartner für das neue Projekt zurückzuführen sein als vielmehr auf die Tatsache, dass angesichts des starken Abschneidens der AfD bei allen drei Wahlen Mehrheiten jenseits von Bündnissen mit den Rechtsradikalen kaum möglich gewesen wären. Dass das BSW nun in Regierungsverantwortung steht, dürfte auch mit der Unterstützung der eigenen Anhängerschaft zusammenhängen. Laut einer Erhebung des ARD-Deutschlandtrends kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen befürworteten 99 Prozent der bundesweiten BSW-Anhänger eine Beteiligung an Landesregierungen. Zugleich brachte sich Wagenknecht selbst um die eigene Verhandlungsposition, als sie am Wahlabend die Möglichkeit der Tolerierung einer Minderheitenregierung selbst und ohne Not vom Tisch nahm, indem sie im Fernsehen sagte, die ostdeutschen Bundesländer bräuchten eine stabile Regierung.
Die doppelte Rolle des BSW als Regierungspartei und glaubwürdige populistische Anti-Establishment-Alternative birgt jedoch einen unauflösbaren Widerspruch. Das BSW erbt damit gewissermaßen einen Widerspruch seiner alten Mutterpartei Die Linke, deren Widerstand gegen die Ampelparteien vor der Wahl durch illusionäre Hoffnungen auf eine »rot-rot-grüne« Bundesregierung und danach durch die Stärke der Landesverbände gehemmt wurde, in denen Die Linke gemeinsam mit SPD und Grünen regiert oder regierte. Für das BSW könnte der Establishmentwiderspruch auch eine Ursache für das derzeitige Umfragetief sein. Seit den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern im September, bei denen das BSW bundesweit noch bei etwa neun Prozent lag, sind die Werte fast linear gesunken. Die Zuspitzung dieses inneren Konflikts scheint die Partei nachhaltig zu belasten.
Sozioökonomie vs. Kulturkampf
Die vor allem anfänglich häufig zu vernehmende Selbstbezeichnung des BSW als linkskonservative Kraft beruht auf der Annahme, dass es in Deutschland eine Repräsentationslücke gibt: eine Gruppe von Menschen, die in gesellschaftspolitischen Fragen eher konservativ, in sozioökonomischen Fragen jedoch links eingestellt ist. Diese in der Politikwissenschaft lange diskutierte These war eine der zentralen Grundvoraussetzungen für die Gründung. Unabhängig davon, wie fundiert diese Annahme ist und ob die tatsächliche Größe dieser Repräsentationslücke mit den Erwartungen der Politikwissenschaft übereinstimmt, birgt der Fokus auf gesellschaftspolitisch konservative und sozioökonomisch (links-)sozialdemokratische Positionen das Risiko eines weiteren Widerspruchs.
Ein besonders heikles Thema ist dabei die Migrationspolitik. Anfangs spielte diese innerhalb des BSW eine untergeordnete Rolle, entwickelte sich jedoch ab Sommer 2024 zu einem Schwerpunkt. Neben den Themen Ukraine-Krieg, Wirtschaft und Soziales wurde die Migrationspolitik insbesondere von Wagenknecht immer wieder aktiv aufgegriffen. Im Juli 2024 verschärfte sie ihre Rhetorik, als sie mit Blick auf schwerkriminelle Asylsuchende von »tickenden Zeitbomben« sprach. Auch programmatisch vertritt das BSW hier Positionen, die eher im rechten Spektrum einzuordnen sind: So fordert die Partei, dass Asylverfahren möglichst außerhalb der EU stattfinden und schwerkriminelle Zuwanderer ausgewiesen und nötigenfalls abgeschoben werden sollen. Drittstaatlern soll kein Aufenthaltsrecht gewährt werden, und es wird betont, dass Deutschland »eine Atempause« von unkontrollierter Einwanderung benötige.
Durch die zunehmende Konzentration auf migrationspolitische Themen begibt sich das BSW in die politische Arena der AfD und übernimmt deren Diskursfelder. Dieser Kurs führt auch parteiintern zu Spannungen. Einerseits setzen insbesondere die gewerkschaftsnahen und linkeren Vertreter des BSW auf die Politisierung von Auseinandersetzungen, also auf Klassenkonflikte zwischen »oben« und »unten«. Andererseits gibt es die Tendenz, die soziale Frage mit der Migrationsfrage zu verknüpfen. So stellte Wagenknecht beispielsweise die monatlichen Kosten für Geflüchtete – etwa für Geldleistungen, Unterkunft und Infrastruktur – in Relation zur Rente einer Frau, »die ihr Leben lang hart gearbeitet hat und zwei Kinder großgezogen hat«.
Jenseits von links und rechts?
Der fünfte Widerspruch besteht schließlich in der Selbstbeschreibung der Partei als eine, die sich jenseits der als überholt angesehenen Kategorien von links und rechts positioniert, und dem Problem einer Unklarheit darüber, wofür die Partei eigentlich steht. Gerade beim Thema »links und rechts« herrscht auch parteiintern erhebliche Uneinigkeit. Links meint heute oft alles und nichts, auch Gegensätzliches. Aber auch »sozialistisch« will das BSW nicht sein. Christian Leye, Generalsekretär des BSW, bezeichnete das BSW in einem Interview mit ND – Der Tag als eine im klassischen Sinne linke Partei. Eine solche Einordnung steht jedoch im Widerspruch zu der Selbsteinordnung, die die ehemalige Linke-Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann im sächsischen Landtagswahlkampf vornahm, als sie – sich damit im Establishment einmauernd – erklärte, man stehe »rechts von der SPD und links von der CDU«.
Diese politische Orientierungslosigkeit zeigt sich auch im widersprüchlichen Umgang mit der AfD. Zu Beginn positionierte sich das BSW als »seriöse Alternative« zur Partei von Alice Weidel und Björn Höcke. Insbesondere Wagenknecht betonte den Unterschied zwischen jenen in der AfD, die sie – wie explizit Höcke – als Faschisten scharf kritisiert, und jenen, die ihrer Ansicht nach nicht rechtsradikal seien. Wagenknecht sagte im Februar 2024 über Alice Weidel: Die AfD-Kovorsitzende »vertritt keine rechtsextremen Positionen, sondern konservativ-wirtschaftsliberale«. Zwar halte Weidel aggressive Reden, doch eine völkische Ideologie könne sie bei ihr nicht erkennen.
Während Wagenknecht und ihre Mitstreiter in der Gründungsphase darauf setzten, sich nicht an der AfD abzuarbeiten, sondern sich als dezidierter Gegenentwurf zu den Grünen zu präsentieren, scheint die AfD nun in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs zum strategischen Hauptgegner des BSW auserkoren worden zu sein. Jedenfalls wurde die AfD auch beim Bundesparteitag in Bonn hart angegangen.
Dieser Kurswechsel könnte auf die aktuellen Umfragewerte zurückzuführen sein: Während das BSW seit September kontinuierlich an Zustimmung verliert, verzeichnet die AfD steigende Werte. Mit derzeit 21 Prozent hat sie keine Sorgen, in den Bundestag einzuziehen – ganz im Gegensatz zum BSW, das um seine Existenz bangen muss.
Sebastian Friedrich ist Sozialwissenschaftler und Journalist. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. Juni 2020 gemeinsam mit Nina Scholz über die Lage der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen während der Coronakrise: Mal wieder streiken.
Ingar Solty ist Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. Januar 2025 über die Zusammensetzung der neuen Trump-Regierung: Trumps Triumph.
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Ergänzend hierzu bewegen mich folgende Gedanken:
Herausragend und als höchste Priorität für diese nunmehr als Neugründung zu betrachtende Partei in der politischen Landschaft des bürgerlichen Parlamentarismus gilt die Frage von Krieg und Frieden. Sie hat die Chance trotz aller unverkennbaren Widersprüche, Illusionen und Uneindeutigkeiten auf anderen Politikfeldern in der für alle Menschen entscheidenden Frage von Leben, Überleben oder Untergang die richtigen Forderungen erhoben zu haben: Keine Waffenexporte (geschweige denn noch in kriegerische Konflikte wie in der Ukraine oder in Gaza /Palästina), Kompromiss suchende Verhandlungen durch Diplomatie; keine Raketenstationierungen der USA, Entmilitarisierung der Gesellschaft und der Regierungspolitik im Sinne strikter internationaler Abrüstungserfordernisse zu Gunsten der globalen Klimabewahrung und Armutsbekämpfung. All dies wäre zu Nutz und Frommen für die Lösung der übergroßen sozialen Nöte nicht nur in Deutschland.
Zugleich bewegt mich – wie die Geschichte der Arbeiterbewegung und ebenso der unter dem Begriff linker bzw. sozialistisch-kommunistischer Parteien – die immer wieder dokumentierte Unfähigkeit, den »politischen Laden« gegenüber Streitigkeiten theoretischer oder sogar praktischer Rechthaberei, aber auch persönlicher Machtambitionen, zusammenzuhalten. Mir scheint z. B. auch, dass die Gründungskalamitäten der Partei in Hamburg mit dem aus der Ferne nicht zu verstehenden Personalknatsch Fragen nach dem »kaderpolitischen« Verständnis des BSW aufkommen lassen. Auch wäre es allmählich an der Zeit (vielleicht nach den Bundestagswahlen), sich nunmehr von dem nach Personenkult duftenden Namen BSW zu Gunsten einer anderen, die Ziele der Partei treffenderen Bezeichnung zu verabschieden.
Noch ein Letztes: Wer sich bei den links Gesinnten keine Illusionen über das Wesen des Parlamentarismus im bürgerlichen Staat macht, weiß, dass die Wahlen zum Bundestag keinen anderen Sinn haben, als sich um die (zweifellos gut bezahlten) Mandate in der Fassade der kapitalistischen Gesellschaft zu streiten, damit die Herrschafts- und Besitzverhältnisse hinter der Fassade unangetastet bleiben. Richtig ist, dass das Parlament als Tribüne für die linken oder friedenspolitischen Ziele genutzt werden muss. Aber es bleibt, solange keine mehrheitlichen Kräfteverhältnisse zu Gunsten wirklich linker Kräfte erreicht worden sind, ein Nebenschauplatz für die Interessen der Friedensbewegten und großen Mehrheit der in vielfältiger Form von Monopol und Finanzoligarchie Ausgebeuteten.
Daher staune ich, mit welcher Verve die Repräsentanten des BSW sich letztlich erfolgreich um Regierungsbeteiligung und entsprechende Ämter in Thüringen und Brandenburg bemüht haben. Ob sie in der Tat davon überzeugt sein können, dass ihre zum Teil weichgespülten friedenspolitischen Forderungen in den Präambeln der Koalitionsvereinbarungen mit CDU und SPD Wirkung zeigen, lässt mich zweifeln. Trotzdem, die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wir haben in Deutschland ca. 1,5 Millionen Selbständige und über drei Millionen Mittelständler. In Brandenburg kann man die Unternehmen mit über 500 Mitarbeiten an zwei Händen abzählen. Dort herrscht eine große Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik.
Das sind nicht die, die auf Maximalprofit gieren, sondern Stammbelegschaften pflegen.
Klar ist man in Konkurrenz mit FDP und CDU. Aber genau das ist der Wettbewerb um die Lebensinhalte, -ziele und -wünsche. Wo ist die Arbeiterklasse bei der zunehmenden Zersplitterung der Arbeitsverhältnisse? Ja, die Widersprüche zwischen nichttarifgebundenem Mittelstand und Gewerkschaften sind zu diskutieren,
aber lösbar. Nach Corona hoben viele Mittelständler, ich habe seit 1990 ca. 50 beraten, die Mindestlöhne bei sich an, deutlich über den der Bundesregierung, und senkten auch die Wochenarbeitszeiten. Um Fachkräfte zu halten, wenn nebenan der Daimler arbeite mit knapp 30 Euro brutto Stundenlohn, muss man sich was einfallen lassen.
Da wollen viele nur Frieden, ein sicheres Umfeld und planbare Auftragslage,
was die bisherige Bundesregierung nicht brachte und auch von März nicht zu erwarten ist. Und pragmatisch muss man sagen: Die Flüchtlinge und deren Kosten sind einfach nicht mehr zu vermitteln. Wer da keine echte Bremse einwirft, will, dass die AfD regiert. Deswegen BSW, auch wenn manchmal ein Spagat nötig ist, der weh tut.
Die Autoren zählen darin zentrale Widersprüche auf, die das BSW »seit seiner Gründung begleiten«: den Widerspruch zwischen marktpolitischer Ausrichtung und
wirtschaftlicher Vernunft, und als Hauptwiderspruch die Anti-Establishment-Haltung und die Absicht, Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Ich erinnere mich an ein erstes Kennenlernen der damals in der Öffentlichkeit noch wenig bekannten Sahra Wagenknecht bei ihrem Auftritt auf einem Pressefest der UZ. Auf meine Frage nach ihrer Stellungnahme zum Klassenstandpunkt und den Eigentumsverhältnissen, war ihre Antwort eindeutig marxistisch. Seit der Gründung des BSW hat sie die Systemfrage hinter sich gelassen. Das führt zwangsläufig zu einer Zersplitterung der wichtigsten Fragen der Gesellschaft. Kriegsbeteiligung, soziale Krise und Migration hängen unmittelbar zusammen und sind inhaltlich nicht zu trennen.
Seit Anfang der Gründung des BSW fehlt mir eine diesbezügliche persönliche Stellungnahme. Die muss sie als Namensgeberin ihrer Partei beantworten.
Denn darauf beruhen die Widersprüche, die dem BSW zu Recht vorgeworfen werden.
»Vernunft und Gerechtigkeit« sind Worte, aber kein Programm.
Wenn diese neue Partei in der kapitalistischen Gegenwart Regierungsverantwortung übernehmen will, muss sie sich fragen lassen, wie sie in einer Koalition mit konservativen Parteien soziale (oder gar sozialistische?) Ziele durchsetzen will, ohne – wie z. B. in Thüringen, eigene Ziele aufzugeben.
Solange ein politisch eindeutiger Standpunkt fehlt, ist diese Partei für mich nicht wählbar.