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Aus: Ausgabe vom 18.01.2025, Seite 15 / Geschichte
Russische Revolution

Crashkurs in Staatsfeindschaft

Vor 120 Jahren machte der »Petersburger Blutsonntag« aus einer zarentreuen eine revolutionäre Arbeiterbewegung
Von Reinhard Lauterbach
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Anfangs noch mit Zarenbild. Marsch zum Winterpalast (St. Petersburg, 22.1.1905)

Am Übergang zum 20. Jahrhundert steckte Russland mitten in der ursprünglichen Akkumulation. Mit allen Widerlichkeiten: endlose Arbeitstage, Hungerlöhne, Wohnungselend, Landarmut, eine entstehende Arbeiterklasse, die gewohnheitsmäßig wie leibeigene Bauernschaft behandelt wurde (auch wenn Leibeigenschaft seit 40 Jahren abgeschafft war). Illegale Streiks in den Industriegebieten waren mit polizeilichen Mitteln allein nicht niederzuhalten.

In dieser Situation kam der Moskauer Chef des Inlandsgeheimdienstes (Ochrana), Sergej Subatow, auf die Idee, der entstehenden sozialistischen Bewegung mit einer staatstreuen und vom Geheimdienst gesponserten Pseudoarbeiterbewegung das Wasser abzugraben. 1903 gründete er die »Versammlung der russischen Fabrikarbeiter von Sankt Petersburg«, die legal wirken konnte und im Krisenwinter 1904/05 Stützpunkte in allen Petersburger Bezirken hatte. Einer der Agitatoren dieser Bewegung: der orthodoxe Geistliche Georgi Gapon. Er sollte eine Schlüsselrolle bei den Ereignissen vom Januar 1905 spielen.

Die Arbeiterklasse war nicht die einzige unzufriedene Schicht. Das aufsteigende Bürgertum und die aus ihm rekrutierte Intelligenz nahmen den für Russland erfolglos verlaufenen Krieg gegen Japan (1904 bis 1905) zum Anlass, eine konstitutionelle Monarchie zu fordern. In ihren Augen konnte die Regierung weder den Krieg im Fernen Osten gewinnen noch die Lage im Innern verbessern. Eine zyklische Rezession trieb Arbeitslosigkeit und Lebensmittelpreise hoch, sie trug dazu bei, die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse zu steigern.

Ungewollter Streik

Ende Dezember 1904 kam es im Petersburger Maschinenbau- und Rüstungskonzern Putilow zu einem für sich genommen wenig bedeutenden Vorfall. Ein Meister demütigte einige Arbeiter und veranlasste ihre Entlassung. Gapon versuchte zunächst, gestützt auf seinen geistlichen Stand und den legalen Charakter der »Versammlung«, zu vermitteln. Sein Antichambrieren bei der Betriebsleitung wie auch beim Petersburger Bürgermeister blieb erfolglos. Am 3. Januar 1905, eine Woche vor den als »Blutsonntag« bekanntgewordenen Ereignissen, begann bei Putilow ein Streik, in dem die Entlassung des fabrikweit verhassten Meisters und die Wiedereinstellung der gemaßregelten Arbeiter verlangt wurden, zudem Lohnerhöhungen, ein Achtstundentag und die Beteiligung von Arbeitern an der Festlegung der Arbeitsnormen. Am 5. Januar trug Gapon diese Forderungen dem Finanzminister Wladimir Kokowzow vor. Der lehnte ab. Kokowzows Begründung lief auf das Pseudoargument »Wo kämen wir denn da hin?« hinaus. Unter diesem Narrativ verfasste er am Abend desselben Tages einen Vermerk für den Zaren: Wenn die Arbeiter selbst über ihre Löhne bestimmen können, wo bleiben dann die Eigentumsrechte der Fabrikbesitzer? Das geltende Recht lässt Arbeitszeiten von bis zu 11,5 Stunden täglich zu, die Einführung eines Achtstundentags könne nur den Eindruck wecken, dass Streiken sich lohne.

Kokowzow versäumte nicht, den Innenminister dafür zu kritisieren, dass er Gapons »Versammlung« überhaupt zugelassen habe. Gapon war über die Zurückweisung seiner Anliegen offenbar verärgert. Plötzlich sprach er davon, dass eine Massendemonstration Petersburger Arbeiter dem Zaren eine Petition mit deren sozialen Beschwerden überreichen solle. Ob er wirklich glaubte, den Zaren mit einer unterwürfigen Präambel von Forderungen zu überzeugen, die inhaltlich auf die Einführung einer konstitutionellen Monarchie hinausliefen, ist in der Forschung umstritten. Lenin jedenfalls hielt ihn für einen »aufrichtigen christlichen Sozialisten«. Später, unter Stalin, wurde Gapon im »Kurzen Lehrgang« der Parteigeschichte als Provokateur der Ochrana bezeichnet, der die Petersburger Arbeiter in den Tod geführt habe.

Gapons Vorschlag jedenfalls, dem Zaren eine Petition zu überreichen, fand in den Fabriken großen Anklang. In den Tagen zwischen dem 6. und dem 8. Januar zog er durch die Fabriken, stellte den Text vor und rief die Arbeiter auf, am darauffolgenden Sonntag, dem 9. Januar, mit ihren Frauen und Kindern auf den großen halbrunden Platz vor dem Winterpalast zu kommen und den Zaren aufzufordern, mit seinem Volk zu sprechen. Bloß, der dachte gar nicht daran. Nikolai II. war unter dem Eindruck der Streikbewegung nervös. Als am 6. Januar bei einer religiösen Zeremonie auf der Newa eine zum Salutschießen vorbereitete Kanone irrtümlich eine echte Granate in Richtung seines auf der Eisdecke aufgebauten Zeltes abfeuerte – und nicht traf –, flüchtete er aus der Stadt nach Zarskoje Selo (heute: Puschkin) in seinen Sommerpalast. Am Abend des 8. Januar tagte eine größere Ministerrunde, um zu beraten, wie mit der geplanten Großdemonstration umzugehen sei. Finanzminister Kokowzow war einer der Scharfmacher. Man beschloss: aufhalten, notfalls mit Waffengewalt.

Feuer eröffnet

So geschah es in den Vormittagsstunden des 9. Januar (nach gregorianischem Kalender: 22. Januar). Etwa 140.000 Arbeiter machten sich aus verschiedenen Richtungen sternmarschartig auf den Weg zum Winterpalast, sie wurden schon weit außerhalb von militärischen Truppen aufgehalten, die rasch das Feuer eröffneten. In einer Kolonne erschoss man einen Mann, der als Zeichen der Loyalität ein Zarenporträt trug. Am Abend lagen etwa 100 Arbeiter tot im Petersburger Schnee, Hunderte waren verletzt worden. Höhere Zahlen, die später von sowjetischen Quellen angegeben wurden, sind offenbar nachträglich übertrieben.

In seiner direkten Wirkung war der Militäreinsatz gegen die friedlich demonstrierenden Arbeiter »erfolgreich«. Langfristig löschte er die Reste von Loyalität unter den Arbeitern zum »guten Zaren«, den man von »schlechten Beratern« umgeben wähnte. Der »Blutsonntag« leitete die Massenstreiks der ersten Russischen Revolution ein. Zwar konnte sich der zaristische Staatsapparat 1905 bis 1906 noch einmal behaupten. Doch die Lehren aus den Ereignissen von 1905 sind in der revolutionären Bewegung intensiv rezipiert worden. Und eine der wichtigsten Neuerungen der 1905er Revolution kehrte zwölf Jahre später wieder: die Räte.

»Allerhöchst bestätigt«

»Die vorstehenden Forderungen erscheinen ungesetzlich und für die Unternehmen zum Teil unerfüllbar. Arbeiter können nicht fordern, den Arbeitstag auf acht Stunden zu Verkürzen, weil das Gesetz dem Unternehmer das Recht einräumt, Arbeiter für die Dauer von bis zu 11,5 Stunden tagsüber und zehn Stunden in der Nacht zu beschäftigen. Diese Normen wurden mit ernsthaftesten ökonomischen Erwägungen begründet und am 2. Juni 1897 allerhöchst bestätigt. (…) Für das Putilow-Werk kommt hinzu, dass es dringende und verantwortungsvolle Aufträge für die Bedürfnisse der in der Mandschurei kämpfenden Armee abarbeitet. Hier wäre die Einführung des Achtstundentages schon aus technischen Gründen kaum zulässig. Es scheint auch klar, dass die Arbeiter unter keinerlei Umständen das Recht bekommen dürfen, in eigener Sache die Höhe des Arbeitslohnes zu bestimmen oder über die Rechtmäßigkeit von Entlassungen zu entscheiden. Denn im anderen Fall würden die Arbeiter zu faktischen Eigentümern des Betriebs, und die Eigentümer der Fabriken, die das ganze Risiko auf ihren Schultern tragen, würden ihr gesetzliches Recht auf die Verfügung über ihr Vermögen verlieren. Schließlich ist es auch nicht möglich, den Arbeitern die Bezahlung der Streiktage zuzugestehen, (…) weil dies die Arbeiter nur zu weiteren Streiks ermutigen würde.

Ich halte es für erforderlich, für morgen, den 6. Januar, die Petersburger Industriellen zu versammeln, um ihnen (…) Anweisungen zu geben, wie sie die Forderungen der Arbeiter leidenschaftslos behandeln sollten. (…) Weiter halte ich es für erforderlich, die Aufmerksamkeit des Innenministeriums, das seinerzeit ohne Rücksprache mit dem Finanzministerium die Bewegung des Priesters (Georgi) Gapon genehmigt hat, auf die Gefahren und den Charakter dieser Bewegung hinzuweisen.«

Entnommen dem Bericht des Finanzministers Wladimir Kokowzow an den Zaren vom 5. Januar 1905 (Übersetzung: Reinhard Lauterbach)

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