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Aus: Ausgabe vom 20.01.2025, Seite 8 / Abgeschrieben

Fabio De Masi zum Fall Gelbhaar: »Parabel über die Fallstricke öffentlicher Pranger«

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Auftakt des FLINTA*-Marsches am Sonntag vor dem Brandenburger Tor in Berlin

Der EU-Abgeordnete Fabio De Masi (BSW) kommentierte am Sonntag auf X den Fall des möglicherweise fälschlich der sexuellen Belästigung beschuldigten Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, Stefan Gelbhaar:

Die Posse um den Fall Gelbhaar ist nicht nur äußerst unangenehm, sondern eine moderne Parabel über die Fallstricke öffentlicher Pranger – (es ist daher m. E. auch kein Zufall, dass die Intrige bei den Grünen spielt). Vorab: Selbstverständlich ist sexuelle Belästigung gerade in Machtbereichen wie der Politik kein seltenes Phänomen! Die entscheidende Frage lautet doch aber, warum die betreffende Person die Vorwürfe erfunden hat. War das wirklich ein einzelnes Mitglied, das ohne Netzwerk und Eigeninteressen Gelbhaar abschießen wollte, weil dieser einem anderen Flügel angehörte? Oder steckt da doch noch mehr hinter der Geschichte?

1) Verlierer sind die sicher nicht wenigen Opfer sexueller Belästigung durch Politiker, die nun noch härter darum kämpfen müssen, dass ihnen geglaubt wird. Und zwar laut Tagesspiegel wegen einer Bezirkspolitikerin, die Sprecherin der LAG Feminismus der Grünen Berlin war.

2) Begriffe wie Unschuldsvermutung, rechtsstaatliche Verfahren etc. sind »Selbstermächtigung« über öffentliche Pranger etc. gewichen. Das ist düsteres Mittelalter, wird aber zuweilen aktivistisch als modern beklatscht! Dabei zeigt die Debatte über die Macht von Elon Musk und Co. in sozialen Netzwerken ja, dass der »Internetmob« eher ein rechtes Konzept ist.

3) Die verantwortliche Bezirkspolitikerin, die für einen früheren Campact-Campaigner aus dem Abgeordnetenhaus arbeitete, hat genau verstanden, wie man in ihrer Partei Macht organisiert – indem man einen Vorwurf erhebt, der nicht angezweifelt werden darf. Dass so jemand soviel Macht entfalten konnte, ist das eigentlich Problem. Das hat etwas mit Mechanismen zu tun, die von den politischen und medialen Eliten selbst kultiviert wurden.

4) Die Parteispitzen der Grünen in Bund, Land und Bezirk haben das mitgemacht, ohne zunächst den Sachverhalt auch nur minimal zu überprüfen, und nicht einmal die Verschiebung der Nominierung im Wahlkreis erwogen.

5) Das einzig Gute daran: Die Grünen haben hierüber unfreiwillig die Probleme mit einer Politik offenbart, die vermeintliche Moral über Aufklärung setzt, und warum viele Leute auf diese intrigante Art von Politik keinen Bock mehr haben! (…)

Die Organisatorinnen einer feministischen Großdemonstration von Frauen, Lesben, inter, nichtbinären, trans- und agender Personen (­FLINTA*) in Berlin zogen am Sonntag positive Bilanz:

Heute, am 19. Januar, gingen 15.000 beim FLINTA* March in Berlin für die Rechte von FLINTA* Personen auf die Straße. (…) Die Teilnehmenden der Demonstration forderten eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, eine Strategie gegen geschlechtsspezifische Gewalt und den Schutz und die Stärkung von Rechten von trans* Personen. (…) »Gerade jetzt, mitten im Wahlkampf und so kurz vor der Bundestagswahl, ist es essentiell, dass Feminismus und Gleichberechtigung nicht vergessen werden. Wir dürfen die über das letzte Jahrhundert hart erstrittenen Rechte nicht als selbstverständlich wahrnehmen – gerade aktuell werden sie immer wieder angegriffen (…)«, ergänzt Carolin Moser vom FLINTA* March.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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