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Aus: Ausgabe vom 20.01.2025, Seite 11 / Feuilleton
Befreiungstheologie

So einfach wie das Evangelium

Zum 100. Geburtstag des Priesters, Revolutionärs und Poeten Ernesto Cardenal
Von Christian Stappenbeck
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Ernesto Cardenal (20.1.1925 bis 1.3.2020)

Er war das Gesicht der Befreiungstheologie in Lateinamerika, er war der Sprecher der sandinistischen Front, die Nicaragua befreite: Ernesto Cardenal, mit silbernem Vollbart und schwarzer Baskenmütze, mit feinem Lächeln und leuchtenden Augen. Dabei war er auch als Minister gänzlich uneitel. Seine Bescheidenheit erlebte ich vor 40 Jahren bei seiner Ehrenpromotion. Dazu später.

Cardenal wurde am 20. Januar 1925 im Reichenviertel von Granada geboren. In frühen Jahren deutete nichts auf eine spätere revolutionäre Arbeit hin. Ein Studium der Philosophie, Literatur und Theologie führte ihn unter anderem nach Mexiko und New York, zudem schrieb er elegische Liebesgedichte. Im Alter von 32 Jahren wurde er Klosternovize, mit 40 empfing er die Priesterweihe. Ein neuer Lebensabschnitt begann.

Der Dichter-Priester Cardenal wurde weithin bekannt, nachdem er auf einer abgeschiedenen Inselgruppe im Großen Nicaraguasee 1965 die klosterähnliche Kommune von Solentiname gegründet hatte. Der Archipel Solentiname beherbergte etwa 90 bäuerliche Familien in strohgedeckten Hütten. Mehrere beteiligten sich an einem künstlerischen Sozialprojekt und fanden ihre eigene Stilrichtung: eine naiv-farbenfreudige Malerei mit tradierten Motiven. Sonntags konnten sie (viele waren noch Analphabeten) bei Cardenal auf der Hauptinsel einen Bibelabschnitt hören und mit ihm diskutieren. So naiv wie ihre Bilder war die Bibelauslegung der Bauern und Fischer.

Sie bezogen die Kritik an den Reichen, Zöllnern und Hohepriestern sowie die Texte vom Jüngsten Gericht und vom Reich Gottes geradewegs auf ihre Lage – sahen da, von Cardenal ermutigt, ein Gleichnis, einen Hinweis auf die notwendige »Revolution«, den Umsturz der ungerechten Verhältnisse. »Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr sollt satt werden« (Lk. 6,21). Der Bauer Julio sagt dazu: »Wenn in einem Land die Revolution gesiegt hat, brauchen die Armen keinen Hunger mehr zu leiden.« Dem studierten Normaltheologen scheinen solche Auslegungen treuherzig und einfältig, aber Cardenal wusste: Die Sätze sind so einfach wie das Evangelium selbst – und »selig sind, die geistlich arm sind, denn ihnen öffnet sich die Tür ins Reich Gottes« (Mt. 5,3).

Hoffnung – Glaube – Liebe

1970 lud ihn der kubanische Schriftstellerverband zu einem mehrmonatigen Aufenthalt ein. Cardenals Reisebericht »En Cuba« beschreibt liebevoll-kritisch Licht und Schatten der Revolution. Er spricht mit einem Sträfling aus dem Arbeitslager, mit jungen Lyrikern, die über Repression berichten, besucht eine psychiatrische Klinik. Er hält in einer Kirche Kubas eine Messe und notiert: »(…) das Gefühl, die obskuren Riten einer Sekte zu zelebrieren. Denn das wahre Christentum ist draußen.« Draußen in Gesprächen mit atheistischen Fidelistas trifft er solche, die zwar »nicht ›Herr, Herr!‹ sagen, aber den Willen Gottes tun«. Über die Staaten Osteuropas hört er den Satz: Diese Länder »sind nicht kommunistisch. Die Revolution dort ging nicht vom Volk aus wie in Kuba, das System fiel ihnen von oben über die Köpfe – wie ein Zirkuszelt.«

Die kleine Inselgenossenschaft bestand bis 1977 und wurde durch das Buch »Evangelium der Bauern von Solentiname« weithin bekannt. Am Ende, nachdem die Nationalgarde des Diktators Anastasio Somoza die Siedlung zerstört und Cardenal ins Exil getrieben hatte, erklärte er: Unsere Gemeinde bekam einen politischen Inhalt, die Bibelauslegung führte uns zur Revolution. »Und so muss es (nach der Botschaft Jesu) sein. Wenn nicht, wäre sie falsch gewesen.«

Cardenal schloss sich dem bewaffneten Kampf der Befreiungsfront FSLN an, wurde ihr Auslandssprecher und nach dem Sieg über Somoza 1979 Kulturminister von Nicaragua. Er veranlasste eine der größten Alphabetisierungskampagnen der Geschichte. Der ihm feindlich gesinnte Vatikan suspendierte Cardenal wegen seiner politischen Tätigkeit 1985 vom Priesteramt. Zwei Jahre zuvor hatte ihn Papst Johannes Paul II. bereits bei einem Besuch in Managua symbolträchtig gedemütigt.

Im Jahr seiner Suspendierung kam Cardenal nach Berlin (DDR), um die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu empfangen. Bei seiner abendlichen Kanzelrede nach dem Festakt am 22. Oktober kam es zu einem Missgeschick. Sein Thema war der bekannte Bibeltext über Glaube – Hoffnung – Liebe, im Spanischen: fe – esperanza – caridad. »Aber die Liebe ist die größte unter ihnen«, so endet die Passage (1. Kor 13,13). Hinter Cardenal stand als Dolmetscherin eine junge Romanistin, der der biblische Wortschatz und somit caridad (Karitas) fremd war. Sie verstand jedesmal, wenn die Nächstenliebe gemeint war: calidad. Also hörte das Publikum »Glaube, Hoffnung, Qualität (…), aber die Qualität ist die größte unter ihnen« – was zu Heiterkeit und zunehmender Unruhe führte. Dem sprachgewandten Professor Dill wurde es peinlich, er stürzte auf die Kanzel hinauf, schickte die arme Assistentin ungnädig davon und übersetzte nun selbst mit Feuer und steigender Leidenschaft – den Prediger dabei zentimeterweise an die Seite drängend. Als Dill vorn in der Kanzelmitte angelangt war, stand Cardenal, der weltbekannte Dichter und Minister, ganz höflich und bescheiden schräg hinter ihm. Erneute Heiterkeit unten.

Ein Zeugnis dieser Reise Cardenals existiert bis heute. Auf seinen Vorschlag hin ließ der Magistrat Berlins den naiven Maler García Moia aus Nicaragua ein Giebelwandgemälde ausführen. Titel: Nicaraguanisches Dorf. Es ist noch heute in der Skandinavischen Straße 26 zu sehen, als Cardenalsches Erbe gewissermaßen. Im selben Jahr wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Künste der DDR berufen.

Moralischer Kompass

Nachdem die Sandinisten 1990 die Wahl verloren hatten, nahmen die Flügelkämpfe in der Partei FSLN zu. Die Fragmentierung linker Bewegungen – eine häufige Erscheinung. Das Gebaren von Daniel Ortega (»autoritärer Führungsstil«), von Rosario Murillo und weiteren sandinistischen Führern missfiel dem Dichter Cardenal mit seinem feinen moralischen Kompass. Er konnte es nicht ertragen, dass sich die Partei so großer sozialpolitischer Errungenschaften dem Klientelwesen und der Vetternwirtschaft öffnete. 1994 verließ Cardenal die FSLN und schloss sich der Gruppe »Bewegung zur Sandinistischen Erneuerung« an. 1998 schließlich zog er sich ganz aus der aktiven Politik zurück und widmete sich nun ausschließlich seinem lyrischen Schaffen. Unter Papst Franziskus erlebte er 2019 seine Rehabilitierung als Priester, die Suspendierung wurde aufgehoben. Da war er bereits 94. Er starb ein Jahr später in Managua.

Die Schriftstellerin Gioconda Belli, die ihren Compañero Cardenal kurz vor seinem Tod besuchte, verkündete: »Unser großer Poet ist im Alter von 95 Jahren gestorben, nach einem Leben für die Poesie und für den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit.« Präsident Ortega, der Kampfgefährte, erklärte schmallippig: »Wir erkennen seine Unterstützung für den Kampf des nicaraguanischen Volkes an.« Am 20. Januar 2025 wäre Ernesto Cardenal Martínez 100 Jahre alt geworden.

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  • Leserbrief von Christel Schemel (Initiatorin/Koordinatorin der Nicaragua-Wandbild-Initiative beim Verein für Aktive Vielfalt e.V.) aus Berlin (22. Januar 2025 um 15:50 Uhr)
    Im Beitrag bezeichnete der Autor u. a. das europaweit einzigartige Nicaragua-Giebelwandgemälde, entstanden im Sommer 1985, als (gewissermaßen) Erbe Cardenals und »Zeugnis seines DDR-Besuches«.
    Tatsächlich wurde das dort seit 1985 existierende Mural »Nicaraguanisches Dorf – Monimbó 1978« gleich zweimal nach 1990 gerettet. Und zwar jedes Mal maßgeblich dank des Engagements einer sich im Herbst 2003 konstituierenden Bürgerkunstinitiative, zunächst bei der Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft Berlin und seit 2004 beim Kulturring in Berlin e.V.
    Ihre Mitglieder und zahlreichen prominenten Ehrenmitglieder, wie z. B. der im Beitrag sehr zutreffend erwähnte Prof. Dr. Hans-Otto Dill, waren es auch, die nach der Zerstörung der Wandbildkopie (ausgeführt 2004/2005 als künstlerischen Novum von Gerd Wulff und Max Michael Holst und autorisiert vom Wandbild-Schöpfer Manuel García Moia) eine von vielen Experten für unmöglich gehaltene Restaurierung des europaweit einzigartigen Kunstwerkes initiierten und ermöglichten.
    Konkret konnte durch die von der Wandbildinitiative erworbenen Spenden (ins. über 63,5 Tsd. Euro) und Finanzmitteln der öffentlichen Hand (60 Tsd. Euro, Bezirksamt Berlin-Lichtenberg) im Sommer 2019 das zu ca. 70 Prozent zerstörte Original konserviert sowie im Sommer 2020 mit Mitteln der Lotto-Stiftung (66 Tsd. Euro) vollständig restauriert werden.
    Abermals wurde es vor seiner Vernichtung gerettet.
    Wie schon 1985 und 2005 hat sich Ernesto Cardenal bis zu seinem Lebensende aktiv für die Schaffung und den Erhalt des international bedeutsamen Kunstwerkes eingesetzt. Zuletzt in seiner Intervention vom 16.06.2016 an den damaligen Regierenden BM Michael Müller.
    Zitat: »Das Wandgemälde wurde 1985 als Symbol der Freundschaft zwischen Nicaragua und der Deutschen Demokratischen Republik von dem Maler García Moia in Zusammenarbeit mit den deutschen Künstlern Trakkia Wendisch und Martin Hoffmann in einer Zeit gemalt, in der ich als Minister für Kultur (1979 – 1987) fungierte. Wir wissen, dass sich seit dem vergangenen Jahr (erneut) deutsche Künstler und Bürger zusammenfinden, um Pläne für die Restaurierung des Kunstwerkes zu erstellen, welches eine der kreativsten und fruchtbarsten Epochen der lateinamerikanischen Wandmalerei präsentiert. Und es wäre ein Schmerz, wenn ein so wertvoller Schatz verloren ginge.
    Als nicaraguanischer Künstler und Kunstvermittler, der sich in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für den künstlerischen Austausch und als Förderer des Friedens und der Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern einsetzte, bitte ich Sie um alle notwendige Unterstützung für die Restaurierung und den Erhalt des Wandbildes (…) und damit garantiert wird, dass künftige Generationen etwas über unsere brüderliche Beziehungen erfahren.«
    20.01.2025. Epilog der Verfasserin: Letztendlich lohnte sich unser beharrliches Ringen um die Rettung des berühmten Giebelwandgemäldes. Obwohl der Ausbruch der weltweiten Coronapandemie besonders in der zweiten Bauetappe 2020 das gesamte Restaurierungsprojekt ernsthaft bedrohte, setzten wir uns durch. Trotz der dramatischen Situation bewahrten wir mit unseren Kooperationspartnern und vielen Unterstützern den solidarischen Zusammenhalt und die Zuversicht.
    So konnten wir schließlich gemeinsam mit dem Restauratorinnenteam um Dipl.-Rest. Anke Hirsch und Dipl.-Rest. Dunja Rütt, auf den Tag nach 35 Jahren der Entstehung des Nicaragua-Wandgemäldes, das heißt am 27.08.2020, die »Wiedergeburt« auf dem Monimbó-Platz feiern.
    Übrigens war es nicht Ernesto Cardenal, sondern sein Bruder Fernando Cardenal, der als Bildungsminister der Sandinistischen Regierung die Alphabetisierung in Nicaragua koordinierte und leitete. Von ihm stammt auch der Spruch (1982): »Wir glaubten, in Nicaragua gäbe es überhaupt keine Kultur mehr, weil die Kultur unter Somoza verachtet war und vergessen werden sollte. Der Begriff ›Kultur‹ war praktisch kaum noch existent, heute kann man überall lesen, und wir spüren, welcher Reichtum uns dadurch zuteilwird.«
    Unvergessen: »Nach der Zerstörung des preisgekrönten Großwandbildes ›Patronenfest‹ von García Moia in Kopenhagen ist das Berliner Gemälde das weltweit einzige noch gebliebene Mural (span. Großwandbild) des Künstlers. Als Zeichen des Nichtvergessens und als Bereicherung der Kunst im öffentlichen Raum sollte es erhalten werden und in neuer Gestalt erstrahlen. Solidarität, auch in der Kunstwelt, tut Not.« (Zitat Michael Nungesser, M. A. Berliner Kunstwissenschaftler, 1950–2022)
    »Dieses Mural zu vernichten, hieße, einen wesentlichen Teil der Seele Nicaraguas zu zerstören.« (Prof. emeritus. Dr. David Kunzle, US-Kunsthistoriker, UCLA, 1936–2024)
    »Ich will das Sterben und den Widerstand zeigen, aber auch die Schönheit der Natur und unserer alten Kultur. Wer es betrachtet, soll auch etwas von der mögliche Schönheit des friedlichen Lebens, um das wir kämpfen, spüren.« (Manuel García Moia, (13.6.1936–10.02.2023)

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