Gegründet 1947 Mittwoch, 15. Januar 2025, Nr. 12
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 14.01.2025, Seite 11 / Feuilleton
Pazifismus

Ehrfurcht vor dem Leben

Zum 150. Geburtstag von Albert Schweitzer
Von Helmut Donat
10.jpg
Am Beispiel des Rehs: »Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen«

Albert Schweitzer ist schon zu Lebzeiten eine Legende: Mit Recht gilt er als Wegweiser des Guten, des Andersseins und der geistigen Unbefangenheit. Er stammt aus einer Pfarrersfamilie im elsässischen Kaysersberg, wo er am 14. Januar 1875 geboren wird. In Strasbourg wird er 1899 in Philosophie und 1900 in Theologie promoviert. Seit 1903 ist er, inzwischen habilitiert, dort Direktor des Studienstiftes St. Thomas und entfaltet bis 1913 eine ausgedehnte musikalische und schriftstellerische Tätigkeit.

Als Organist, Bach-Forscher und -Interpret, Goethe-Kenner und unkonventioneller Geist im Umgang mit dem historischen Jesus, genießt Schweitzer bald international hohes Ansehen, publiziert zudem philosophische und theologische Schriften. Um Tropenarzt zu werden, studiert er 1905 bis 1911 Medizin und erlangt mit einer Arbeit über die Psychiatrie Jesu einen weiteren Doktorgrad. Mit seiner Frau Helene verlässt er Ostern 1913 Europa. In Zusammenarbeit mit der Pariser Missionsgesellschaft nimmt er auf der Station Lambarene am Fluss Ogewe in Gabun, damals Teil der Kolonie Französisch-Äquatorialafrika, seine Arbeit auf. Dabei hat das Motiv der Sühne für ihn große Bedeutung – die gigantische Schuld der Weißen gegenüber den Schwarzen ist ihm bewusst. Seit 1914 als deutscher Staatsangehöriger mit Hausarrest belegt, sind der »Urwalddoktor« und seine Frau 1917 gezwungen, das Spital zu verlassen. Ende 1918 kehrt er ins Elsass zurück, wird französischer Staatsbürger und arbeitet als Vikar sowie als Assistenzarzt. Schweitzers Autobiographie »Zwischen Wasser und Urwald« (1920) macht ihn weltweit bekannt, es ist bis heute sein meistverkauftes Buch.

Schweitzer gibt erneut viele Konzerte und hält Vorträge in diversen europäischen Ländern, um die während des Krieges angehäuften Schulden für die Weiterführung seines Hospitals abzutragen. Dem organisierten Pazifismus nach 1918 steht er geistig und ethisch nahe, hält sich aber von den Aktivitäten der Friedensbewegung fern. Dennoch: Wie diese warnt auch er 1932 in seiner Rede zum 100. Todestag Goethes in Frankfurt am Main vor den Nazis und dem Weg in die Diktatur. Dem späteren Versuch Joseph Goebbels’, Schweitzer vor den Karren des Naziregimes zu spannen, erteilt er »mit zentralafrikanischem Gruß« eine klare Absage.

1924 hatte Schweitzer in Lambarene einen Neuanfang gewagt; mit der Zeit entsteht hier ein ganzes Spitaldorf. In der Nähe lässt er später mit dem Preisgeld des ihm 1953 zuerkannten Friedensnobelpreises eine Aussätzigenstation erbauen. Heute ist Lambarene eine moderne Poliklinik mit einem Forschungslabor und einer Trinkwasseraufbereitung, einem Kindergarten und einer Grundschule. Tausende Patienten werden hier pro Jahr behandelt.

Um die Jahrhundertwende hatten sich in Schweitzer Zweifel am Fortschrittsglauben seiner Zeit gemehrt. Ihm schien, die Kultur habe abgedankt und die Philosophie versagt. Sein Schluss: Der Menschheit sei nur durch eine ethische Gesinnung und entsprechende Taten zu helfen. Er selbst sieht sich »in der Welt als einer, der die Menschen durch Denken innerlicher und besser machen will«. Seine Gedanken fasst er 1915 zu der bestimmenden Richtlinie seines weiteren Handelns zusammen: Die »Ehrfurcht vor dem Leben« sei sittliche Maxime für alle Menschen und notwendiges Grundprinzip des Zusammenlebens. Den Begriff »Ehrfurcht vor dem Leben« entlehnte er wahrscheinlich dem Pazifisten Magnus Schwantje (1877–1959), der ihn bereits 1902 geprägt und damit den Tierschutz, den Vegetarismus und den Kampf gegen die Vivisektion ethisch begründet hatte.

Die Verbreitung seiner Idee durch Schriften und Vorträge, so unter anderem mit dem Werk »Kultur und Ethik« (1923), sieht Schweitzer fortan als seine wichtigste Aufgabe an. Gut ist demnach: »Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen«. Böse ist: »Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten«. Schweitzer überträgt diese Ethik ebenso auf Tiere und Pflanzen, also auf das Leben der Schöpfung im Ganzen.

Seit 1914 hat sich der »Heilige im Urwald« mit den Ursachen von Kriegen auseinandergesetzt. Die Hauptursache für die friedensgefährdenden Entwicklungen des Nationalismus und Militarismus sieht er in der Vernachlässigung der Ethik. Die »Ehrfurcht vor dem Leben« werde, so seine Überzeugung, die Gewalttätigkeit unter den Menschen und Völkern eindämmen und überwinden. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat, wie wir heute wissen.

Schweitzers Wirksamkeit und Ruhm gründen auf der Identität von Lehre und Leben. Er beeindruckte durch theologische Skepsis, Begeisterung für die Musik und durch die von ihm verkörperte Tier-, Nächsten- und Wahrheitsliebe. Winston Churchill attestierte ihm, ein »Genie der Menschlichkeit« zu sein. Mit Ehrungen überhäuft, bot er sich als moralische Autorität und »Gebrauchsheiliger« an, an dem man sich erbauen konnte, ohne sich veranlasst zu sehen, es dem Urwalddoktor im allzu schwierigen Alltag der »zivilisierten Gesellschaften« gleichzutun.

Nach 1945 sprach sich Schweitzer deutlicher und konkreter als zuvor für den Frieden aus. Das war auch zurückzuführen auf den Einfluss seines Freundes Albert Einstein, der ihn als den »größten Menschen« des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Die entfesselte Atomkraft bekämpfte Schweitzer fortan als Unglück der Menschheit. 1957 und 1958 rüttelte er über Radio Oslo und viele angeschlossene Sender die Welt mit Appellen auf, Vernunft obwalten zu lassen und weitere Atomwaffentests einzustellen. Das Konzept einer gegenseitigen Abschreckung lehnte er ab, plädierte statt dessen dafür, einander zu vertrauen, und sprach sich im Sinne des sogenannten Rapacki-Planes (1957) des polnischen Außenministers Adam Rapacki für eine Demilitarisierung Mitteleuropas aus. Das stieß den NATO-Militärs sauer auf. Damit war es vorbei mit der Wahrnehmung Schweitzers als Vorbild, sanftmütiger Dulder und Freund der Unterdrückten. Wie viele andere vor und nach ihm, geriet er in Verdacht, ein Schwärmer sowie ein Handlager »des Ostens« zu sein. Das focht ihn nicht an: Bis zu seinem Tod am 4. September 1965 hielt er daran fest, dass sich ein Überleben der Menschheit nur gewährleisten ließe, wenn die Abschaffung des Krieges und die Organisation eines dauerhaften Friedens unter den Völkern erreicht seien. In einer Zeit, in der wie nie zuvor hochgerüstet wird und neue Kriege geführt werden, ist Schweitzers Vermächtnis mehr als aktuell.

Übrigens: Der heute kaum mehr bekannte Tierrechtler Magnus Schwantje kämpfte ebenfalls gegen Militarismus und Chauvinismus, war Vorsitzender des »Bundes für radikale Ethik« und vertrat diesen von 1918 bis 1933 im Deutschen Friedenskartell. Eine angebotene Stellung im Tierschutz des Naziregimes lehnte der »Anwalt der Tiere« ab. Nach seiner Inhaftierung und Emigration in die Schweiz (1934) kehrte Schwantje 1950 in die Bundesrepublik zurück. Ende 1955 wurde ihm eine Rente endgültig verweigert. Das sollte am 150. Geburtstag von Albert Schweitzer nicht vergessen werden.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton

Alle redaktionellen Beiträge zur RLK25 sind nun hier verfügbar