Zwischenexistenz schlechthin
Von Jens Grandt
Kann man es als Symptom ansehen, dass ein unabhängiger Verlag, der seit 30 Jahren höchsten literarischen Ansprüchen gerecht zu werden versucht, mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis 2025 ausgezeichnet worden ist und die auf diese Weise gewürdigte Edition A. B. Fischer sich just mit ihrem jüngsten Titel Wolfgang Hilbig widmet? Dem Dichter, der sich nirgends zugehörig fühlte, der Zwischenexistenz schlechthin?
Hervorgehoben hat die Preisjury die vorzüglich gestalteten Reihen »Menschen und Orte« und »Wegmarken«, in denen berühmte Autoren und Künstler an bestimmten Lebensstationen vorgestellt werden. Die einzelnen Hefte sind dabei unterschiedlich strukturiert, je nach geschichtlichem Hintergrund der Porträtierten und der Mentalität oder dem Drive der Autoren. Uwe Kolbe, ein kongenialer Autor für den ebenfalls der dissidentischen Szene entwachsenen Wolfgang Hilbig (1941–2007), legt seinen Großessay biographisch an, ausgehend von der Herkunft, dem ruinösen Drecknest Meuselwitz südlich von Leipzig. Zugleich erhellt und deutet er bis in feinste Bemerkungen das schwierige Werk Hilbigs. Jürgen Hultenreich hingegen, der in dem »Wegmarken«-Band »Das Bamberg des E. T. A. Hoffmann« das Scheitern des Musikdirektors und die Geburt des phantastischen Erzählers der »Kreisleriana« und der Mythe von »Der goldnen Topf« nachzeichnet, bedient sich einer Schnitttechnik, um Brüche und dennoch die Stringenz der künstlerischen Entwicklung zu verdeutlichen.
Wolfgang Hilbigs Hinterlassenschaft steht trotz der siebenbändigen Werkausgabe des S.-Fischer-Verlages immer noch ein wenig im Schatten der großen Koryphäen. Während manche Rezipienten seine Lyrik und Prosa als einzigartig feiern, stört andere die durchgängige, wenngleich kritische Selbstbezogenheit des Autors. In der DDR war er den Systemgläubigen suspekt. Aber im Westen, wo vorbehaltlos seine Bücher gedruckt wurden, ist er auch nicht angekommen. Seine stilistisch formvollendeten Texte sind anspruchsvoll; die Metaphorik wechselt zwischen gespenstisch anmutendem Unrat – die »Asche« des Lebens – und berauschender Schönheit, sie verstört und beunruhigt.
»Die Basis seines Werkes bildet Durchlebtes«, schrieb sein Biograph Michael Opitz. Ja, er hat etwas durchlebt – im Unterschied zu manchem unsäglich »autofiktionalen« Schreiberling. Der gelernte Bohrwerksdreher, in Großbetrieben des Braunkohlereviers auf Montage unterwegs, zehn Jahre Industrieheizer in verräucherten Kellern, war ein Arbeiter, der sich nicht erst die produktive Wirklichkeit erschließen musste, wie es im Aufruf der Parteioberen an die Künstler hieß, er verkörperte sie. Das Motto des sogenannten Bitterfelder Weges »Greif zur Feder, Kumpel!« hätte die Gralshüter in Begeisterung versetzen müssen, aber nein, sie drangsalierten ihn und verlegten seine Schriften nicht. Uwe Kolbe widmet diesem Widerspruch ein eigenes Kapitel. Der Dissens war unvermeidlich, denn die Meuselwitzer Erfahrungen nährten »das unbestimmte Gefühl, einer enterbten, macht- und geistlosen Klasse anzugehören«, die »gegen die da oben nichts tun« könne. Hilbig lehnte den Begriff des Arbeiterschriftstellers ab. Allenfalls glaubte er, schreibend an einem von Staub und Asche freigewischten Tisch im Kesselhaus etwas bewirken zu können. Kolbe verfolgt eindrücklich, wie den Schriftsteller, der er ja nun war, diese Zwitterexistenz schier zerrissen hat.
Ein farbenprächtiges Genrebild des Lebens in den Räumen des Barkenhoffs zu Worpswede malt hingegen der vorausgehende Titel der »Wegmarken«-Reihe, Mathias Ivens »Das Teufelsmoor des Rainer Maria Rilke«. Die stille, dem künstlerischen Schaffen zuträgliche Landschaft, auch das von dunklen Kanälen durchzogene Teufelsmoor, waren es, die den Maler Heinrich Vogeler veranlasst hatten, die berühmte Künstlerkolonie eben dort zu gründen. Sie ist durch Namen wie Otto Modersohn, seine Frau Paula Modersohn-Becker, Fritz Overbeck und eben auch Rilke bekannt geworden. In dieser »Familie« hat er Clara Westhoff, eine stattliche, selbstbewusste Bildhauerin, kennengelernt: 1901 heirateten sie.
Wie erstaunlich genau Mathias Iven die Geselligkeit im Barkenhoff wiedergibt, lässt auf eine überaus gründliche Recherche schließen. Aber das Maler wie Dichter ursächlich inspirierende Sujet bleibt das Teufelsmoor. Die naturverbundene Art des Lebens, »das durch große Augen eingeht in ewigwartende Seelen«, wie Rilke schreibt, prägt ihn. »Ich muss viel von diesen Menschen lernen.«
Besonderes Lob gebührt der einfühlsamen Begleitung der Spurensuche an den Wirkungsstätten der Künstler durch die Fotografin Angelika Fischer. Ihr Blick gibt allen Heften der »Wegmarken«, neben dokumentarischen Aufnahmen, einen überzeugenden gestalterischen Rahmen.
Uwe Kolbe: Das Revier des Wolfgang Hilbig. Edition A. B. Fischer, Berlin 2024, 63 Seiten, 18 Euro
Mathias Iven: Das Teufelsmoor des Rainer Maria Rilke. Edition A. B. Fischer, Berlin 2024, 63 Seiten, 18 Euro
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