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Aus: Ausgabe vom 21.01.2025, Seite 12 / Thema
Musik

Die Sprache der Welt

Zwischen Subversion und Repräsentanz: Musik als Medium der Innerlichkeit in gesellschaftlichen Kämpfen
Von Jürgen Meier
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Marinemusikkorps spielt für die Fregatte »Schleswig-Holstein« (Wilhelmshaven, 11.2.2022)

Heiner Goebbels, der in vielen seiner »Installationen« den Maschinen die Performance seiner Musik überlässt, antwortet auf die Frage, ob Maschinen eine Seele haben: »Ich glaube schon. Sie wurden ja von Menschen gemacht (…). Es gibt doch kaum etwas Schöneres als die sogenannte Funktionalität der Industriekultur, die auch von Menschen gemacht wurde, aber richtig abstrakt ist die nie.« Ist das so? Ist der Maschinenklang der musikalische Klang unserer Zeit, den wir wie eine Fremdsprache nur erst erlernen müssen? Erobern die Maschinen die Musik?

Die Seele der Maschinerie ist nicht sinnlich, nicht Musik. Marx schreibt: »Wenn die Maschinerie das gewaltigste Mittel ist, die Produktivität der Arbeit zu steigern, d. h. die zur Produktion einer Ware nötige Arbeitszeit zu verkürzen, wird sie als Träger des Kapitals zum gewaltigsten Mittel, den Arbeitstag über jede naturgemäße Schranke hinaus zu verlängern.«¹ Natürlich werden Musikinstrumente mit Maschinen gefertigt, und oft benötigen sie, wie Maschinen, elektrischen Strom. Aber sie bleiben Gegenstände (griech. Organon), die mit dem Ziel angefertigt werden, Musik zu erzeugen. Es sind offensichtlich Musiker, die, wie Heiner Goebbels, den militaristischen Klang der Zeit nicht ertragen und die keine Zukunft in ihrer Zeit, anders als Mozart in seiner Zeit der bürgerlichen Revolution, erkennen können. In ihrer Verzweiflung wollen sie den Menschen als Subjekt des gesellschaftlichen Seins mit dem Objekt seines Tuns, der Natur und den Mitteln, die diese Natur bearbeiten (die Maschinen), harmonisch verbinden. Das funktioniert nicht. Der Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt lässt sich nicht auflösen. Musik ist, wie Georg Lukács schreibt, die »Mimesis der Mimesis«, also die Widerspiegelung der Gefühle, die das Subjekt in dieser Zeit der imperialistischen Lösungen antreiben.

Klang der Zeit

Sven Regener, Sänger von »Element of Crime«, will nicht über die verschiedenen Stile der Musik diskutieren. An Musik schätzt er, »dass sie alle Einflüsse der verschiedenen Einwanderer zusammenbringt. Wie bei einem Eintopf mit 30 Zutaten. Der Rock ’n’ Roll kommt aus der Bluesmusik und der Soul aus einer Verbindung von Blues und Gospel. Es bringt gar nichts, sich da auf eine reine Lehre zu beziehen. Musik ist die Sprache der Welt.«² Spanien, Westafrika, Frankreich, USA, Jamaika sind nur einige Wurzeln der kubanischen Musik, die ihrerseits Jazz, Salsa, argentinischen Tango, den afrikanischen Afrobeat und spanischen »Flamenco Nuevo« mit inspirierte. Auf dem Weg ihrer Befreiung aus den Gewalten der Natur und der Sklaverei durch spanische Kolonialisten, die Afrikaner nach Kuba verschleppten, deren Urbevölkerung sie zum Großteil ausgerottet hatten, also auf dem Weg ihrer jeweiligen Kultivierung, entstand Musik in Kuba wie auch anderswo.

Wenn die Musik die »Weltsprache«, die Sprache der einen Menschheit ist, dann macht ihre Universalität deutlich, dass auf dem Weg zur Kultivierung von Mensch und Natur die Menschen in den verschiedenen Erdteilen dieser einen Welt lediglich in unterschiedlichen Rhythmen, mit unterschiedlichen Instrumenten (Knochenflöten, viele tausend Jahre alt, wurden auf allen Kontinenten gefunden) sich auf dem Weg der Kultivierung befunden haben und sicher noch immer befinden. Kultur und Kultivierung meint die Entwicklung der natürlichen Sinne und typisch menschlicher Fähigkeiten (Liebe und die Vernunft) im Prozess mit der ihnen äußeren Natur. Die Natur ist das Eigentum des Menschen, das er förderlich im allgemeinen und im einzelnen zum Zwecke seiner eigenen, stets erweiterten Reproduktion nutzen, statt ausbeuten und vernichten muss, um sich und die ihm äußere Natur zu kultivieren.

Der Pianist und Dirigent Lars Vogt sagte in einem Interview: In der »Musik sind die entscheidenden Dinge nonverbal, weil sie verbal gar nicht zu fassen sind. Natürlich tauscht man sich in Proben und so dann auch aus, und dann kommt es auch immer zwischen Musikern auf Offenheit an, auf Verstehen: Wo kommt der andere her, warum empfindet er, wie er empfindet? Aber die entscheidenden Dinge passieren sowohl in Proben als auch natürlich sowieso im Konzert, dann nonverbal. Das sind die ganz magischen Dinge, wo es dann plötzlich mal ­knistert, schwingt, auch mal ein Konflikt entsteht und sich etwas aufheizt, oder man gemeinsam Innigkeit empfindet.«³

Widerspiegelung ohne Gegenstand

Musik ist Ausdruck der Innerlichkeit. Lukács nennt sie ein »Evokationsmedium«.⁴ Sie ist unbestimmt gegenstandslos gegenüber der Außenwelt, weil sie die Widerspiegelung der konkreten Innerlichkeit des Menschen ist, die ihrerseits allerdings die direkte emotionale Widerspiegelung der Außenwelt ist. Wer das »Forellenquintett« von Schubert hört, ohne den Titel seiner Komposition zu kennen, wird nicht an Fische im Wasser denken, sondern wird zunächst ein Gefühl von natürlicher Frische empfinden, das plötzlich getrübt wird. Schuberts Komposition ist von unbestimmter Gegenständlichkeit, denn nicht die Forelle, sondern das Gefühl, das die Hoffnung (»So fängt er die Forelle / Mit seiner Angel nicht«) des Menschen in eine intakte Mensch-Natur-Beziehung setzt, wird enttäuscht. Der Mensch tötet kaltschnäuzig. Nicht die Ähnlichkeit mit der Außenwelt ist für die Musik entscheidend, wenn sie von geschichtlicher Beständigkeit sein will, sondern ob das Wesentliche des Gefühls getroffen wird. Widerspiegelung bedeutet im dialektisch-materialistischen Denken nicht die Erstellung einer Kopie, also die Schaffung von Ähnlichkeit, sondern von Wesentlichkeit. Ähnlichkeit ist lediglich eine Reproduktion von Erscheinungen und ist für das Schaffen von echter Kunst zweitrangig.

Anders als die Sprache, die menschliche Beziehungen zu den Gegenständen und Beziehungen, die dem Menschen äußerlich sind, objektiviert, also von ganz persönlichen Gefühlen reinigt und vom einzelnen ins Allgemeine erhebt, ist die Sprache der Musik »nonverbal«. Sie objektiviert nicht, schafft keine allgemeinen Begriffe, durch die die Handlungsmaxime der einzelnen Menschen auf ein Ziel hin vereinigt und verständlich wird. Sie hebt vielmehr das Allgemeine und das einzelne in der Besonderheit des widergespiegelten Gefühls auf. Das Allgemeine wird in der Musik restlos aufgehoben, darum ist die Erklärung eines Musikstücks, also die nachträgliche, gedanklich und sprachlich formulierte Verallgemeinerung, oft sehr konstruiert und bezieht sich häufig mehr auf die Aussagen des Komponisten als auf das Musikstück. Musik ist gegenstandslose Widerspiegelung gegenständlich erlebter Innerlichkeit. Sie ist die »Innigkeit«, die der Mensch ganz individuell verspürt, wenn er sich mit der gegenständlichen Welt und deren Beziehungen in Verbindung setzt. Musik ist die Widerspiegelung dieser emotionalen Widerspiegelung, also eine gedoppelte Widerspiegelung der Wirklichkeit. Darum nennt Lukács sie »­Mimesis der Mimesis«.

Die Quelle der Musik ist, wie in anderen Genres der Kunst, der Alltag. Hier ist der Mensch ganz gegenständlich mit vielen Widersprüchen des Lebens konfrontiert. In diesen Konflikten und Fragen, die der Alltag dem Menschen stellt, entstehen Gefühle von Angst, Liebe, Hass, Freude, Fürsorge, Zukunft. Da Menschen, ob Teil eines Nomadenstamms oder einer hochtechnisierten imperialistischen Gesellschaft, auf ähnliche Weise die emotionale Innerlichkeit vermittels Musik spiegeln, um sich durch Entäußerung des jeweiligen Gefühls mit anderen in gemeinsamer Innigkeit zu humanisieren, verdeutlicht Musik auf besondere Weise, dass es nur eine Menschheit gibt und dementsprechend nur die eine Kulturgeschichte der Menschheit geben kann.

Arbeitsprozess als Quelle

Die Kultivierung des inneren Reichtums begann – ob in Asien, Europa, Amerika, ­Australien oder Afrika – durch den Rhythmus, der zunächst im Arbeitsprozess mit der Natur benötigt wurde und noch nicht als eigenes Kunstgenre »Musik« bezeichnet werden kann. Der Mensch erkannte, dass er die Arbeit leichter erledigen konnte, wenn er in einem Rhythmus von Gleichmäßigkeit den Samen aussäte oder das Gras mähte. Mit wachsendem Prozess der Kultivierung der Natur durch den Menschen entwickelte sich so sukzessive die Musik, in enger Verbindung mit dem Tanz, zu einem eigenen homogenen Medium der Kunst, in dem die Bewegungsfähigkeit und -gleichheit des Menschen, der die Götter für die Jagd, den Krieg oder die Ernte positiv stimmen wollte, zentral im Mittelpunkt stand. Im Tanz, getragen und verschmolzen mit der Musik, verbinden sich die nach außen dringenden Gefühle mit der menschlichen Gegenständlichkeit, die sich ganz im Rhythmus der Musik fließen und bewegen lässt. Die Musik als rein zeitliches Medium, in dem sich Vergangenheit mit Zukunft in Gegenwart aufhebt, bestimmte den Tanz und seine Gebärden, der seinerseits ein raumzeitliches Medium ist – Widerspiegelung und gegenständliche Transformation der Innerlichkeit des Menschen im Raum. Körperbewegungen vergegenständlichen in einer Symbiose mit Musik die konkrete Innerlichkeit des Menschen. Wo Menschen, meist sind es Männer, nicht tanzen wollen oder behaupten, nicht tanzen zu können, verbirgt sich eine Angst, als einzelner vor anderen lächerlich zu werden. Denn Tanz, verstanden als direkte Verschmelzung mit Musik und nicht als antrainierte Walzerschrittfolge, zeigt anderen Menschen die eigene partikulare Emotionalität, was allerdings dazu führen kann, dass die aufgebaute autoritäre sprachliche Distanz zu diesen Menschen gefährdet wird.

Die Kultivierung der Natur im Arbeitsprozess, der mit Hilfe eines Rhythmus erleichtert wurde, führte auch zur Kultivierung der menschlichen Emotionalität, die sich durch die Musik nach außen öffnen konnte, und indem sie sich öffnet, kann die Emotionalität von anderen nicht nur verstanden, sondern zugleich nachempfunden und in solidarische Einheit transformiert werden. Gemeinsamkeit wird, trotz der Nichtgegenständlichkeit der Musik, im Tanz gegenständlich zum Ausdruck gebracht. Deshalb tanzen die rebellischen und Orientierung suchenden Jugendlichen gern nach Rhythmen, die ihrer konkreten Innerlichkeit von Wut, Enttäuschung und Sehnsucht⁵ entsprechen. Dem Gefühl der Musik entsprechend kleiden sie sich gegen die herrschenden Normen und zeigen sich illusionslos gegenüber den Werbe- und Bildungsversprechungen der herrschenden Klasse. Weshalb die darum entstehende Kultur von den Eliten dieser Klasse als »Subkultur« bezeichnet wird.

Natürlich hören die Eliten auch Schubert, doch ihr Gefühl dabei stimmt nicht mehr mit dem überein, was Schubert unmittelbar zum Ausdruck bringt. Sie hängen lediglich an den Werten und der Musik der frühen Bourgeoisie (Klassik) fest, nutzen diese für ihre Manipulationen und aggressiven Konkurrenzkämpfe als Alibi. Das gelingt durch Interpretationen der Musik, deren Verallgemeinerung sich stets auf politische Prämissen bezieht. Musik wird vom Zweck zum Mittel. Beim Wiener Opernball etwa spielt das Musikalische eine untergeordnete Rolle. Es geht um Netzwerke gehobener Kreise. Die einfache Eintrittskarte kostet 395 Euro, eine Loge schlägt mit 24.500 Euro und ein Glas Sekt mit 21 Euro⁶ zu Buche. So bleibt man unter sich. Weil die rebellische Jugend allerdings die Umwertung der frühbürgerlichen Kultur- und Kunstwerte durch die imperialistische Bourgeoisie instinktiv spürt, lehnt sie häufig leider auch die Musik der Klassik selbst ab.

Subkultur und Überkultur

Rock oder Punk waren Ausdruck einer emotionalen Rebellion gegen Gesellschaften, deren Mitglieder die Gefühle der Klassik ohne Gefühl konsumieren, im Konformismus eines profanen Nützlichkeitsdenkens ihrer marktorientierten »Überkultur«. Während die Rebellen der »Subkultur« auf anarchische Weise und ohne sich dessen bewusst zu sein Kultur erzwingen wollen, treten die Vertreter der »Überkultur« auf den politischen Bühnen, in Talkshows und in den Zeitungen als Verteidiger der Kultur auf. Sie tun aber das Gegenteil. Statt Mensch und Natur zu humanisieren, agieren sie mit staatlicher Austeritätspolitik, Militäreinsätzen und -exporten, Privatisierungen öffentlichen Eigentums, Zerschlagung der Tarifautonomie, Abschaffung demokratischer Rechte. Sie benutzen alles, was ihrem Pragmatismus und Gewinnstreben nutzt. So auch die Musik, das »Evokationsmedium«. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut in Leipzig forschten darüber, wie sich Musik zur besseren Arbeitsleistung nutzen lässt, und stellten fest, dass Menschen härter arbeiten, wenn sie ihre Lieblingsmusik hören, denn, so die Elite der spätbürgerlichen Wissenschaft, Menschen atmen, während sie ihre Lieblingsmusik hören, intensiver Sauerstoff ein und verbrauchen weniger Energie, weil sie ihren Arbeitsrhythmus dem der Musik anpassen.

Doch in den Kämpfen des französischen Volkes, die als »Die Aufrechten der Nacht« bekannt wurden, gingen Hunderttausende in Massenstreiks und Straßendemonstrationen gegen die harten sozialen Einschnitte der Regierung auf die Straße. In diesen Momenten des gemeinsamen Widerstands erkannte man, dass in der Musik der Klassik das ewig wirkende Gefühl von Menschheit und zukünftiger Menschlichkeit zum Ausdruck kommt. Statt Verbesserung des Arbeitsrhythmus verbesserte klassische Musik den Streik- und Demonstrationsrhythmus des französischen Volkes. Spontan gingen Hunderte von Musikern, die sich zu einem »Orchester der Aufrechten« zusammengefunden hatten, auf die Straße, um die gewaltigen Demonstrationszüge gegen die »Arbeitsrechtsreformen« der Regierung zu unterstützen. Unter freiem Himmel spielten sie, von enthusiastischem Applaus der Demonstranten begleitet, Antonín Leopold Dvořáks Symphonie Nr. 9. Der Dirigent, der seine Ansagen durch ein Megafon sprechen musste, rief in die Menge: »Das Orchester spielt die Symphonie ›Aus der neuen Welt‹ für eine NEUE WELT!«

Die sogenannte E-Musik wurde, dank ihrer Widerspiegelung menschlichen Selbstbewusstseins, zum deutlich verbindenden Medium eines gattungsmäßigen Bedürfnisses nach »Freiheit! Gleichheit! Solidarität!« Um musikalisch das angestrebte Neue einer menschlichen Welt auch zum Ausdruck bringen zu können, ist – anders als in anderen Genres der Kunst – das Einhalten von »Regeln« der Musiktheorie und das Beherrschen des Instruments besonders wichtig. In anderen Kunstgenres, die nicht stets und unmittelbar physikalisch nach außen wirken, ist der Dilettantismus, der in der Musik sofort spürbar ist, beharrlicher und konstanter am Werk.

Missbrauch des Subversiven

Die Widerspiegelung der menschlichen Gefühle durch die Musik bedeutet natürlich nicht, dass Musik, eben weil sie auf Gefühle baut, die in einer Wirklichkeit von Klassengegensätzen entstehen, keinen partikularen, rassistischen und imperialistischen Zielen dienen könnte. Die Gefühle und Empfindungen, die von der Außenwelt ausgelöst werden, sind subjektiver Art und in der Regel nicht geeignet, die Wirklichkeit, deren Widerspiegelungen sie sind, objektiv in ihrer wahren Beschaffenheit zur Erkenntnis zu bringen. »Einerseits gehört dieses Selbständigwerden der Innerlichkeit, der Gefühlswelt, zu den typischen Wachstumserscheinungen der Kultur, andererseits zeigt aber dieselbe Entwicklung bei einem starken Überwiegen dieser Tendenz nicht geringe Gefahren gerade für das innere Leben der Menschen.«⁷

Gefühle können manipuliert und in ihr Gegenteil gedreht werden. Das Gefühl der Befreiung von Angst durch Solidarität mit anderen Menschen kann sich in einem tätigen »Wir« (Arier, Deutsche, Amerikaner, Europäer, Weiße) unmenschlich gegen andere »Wir« (Juden, Muslime, Russen) austoben. »Die ›dehumanisierende‹ Gesellschaft integriert bzw. zwingt die Individualität der Menschen in eine Gemeinschaft, deren Ziele der Entfaltung des menschlichen Gattungswesens zuwiderlaufen und welche gerade deshalb ihre Mitglieder zu ›deformierten‹ Einheiten (einzelnen) macht.«⁸ Solche Gemeinschaften organisierten sich in der »Hitlerjugend«, bei »Kraft durch Freude«, »Pegida« etc. Deshalb muss sich das Gefühl von Befreiung mit Kenntnis über die Wirklichkeit und Ursachen der Unterdrückung von Menschen und Völkern verbinden, um nicht im Gleichschritt gegen fremde Völker zu ersticken.

Die Bundeswehr verfügt über 18 Musikkorps (jeweils 60 Soldaten und Soldatinnen), deren Aufgabe darin besteht, die Umwertung der Gefühle von Menschlichkeit und Menschheit zu bewirken, um auf diese Weise eine Wirklichkeit rechtfertigen zu können, die alles andere ist als gattungsmäßige Orientierung. Sie sollen die Heimatfront »kriegstüchtig« machen. In Kabul dirigierte Oberstleutnant Bernd S. sein Luftwaffenmusikkorps 2 aus Karlsruhe, das gemeinsam mit dem afghanischen Musikkorps am »Tag der Deutschen Einheit« im ISAF-Hauptquartier Ludwig van Beethovens »Yorkscher Marsch« (Ehrenmarsch der NVA) spielte. Beethoven hatte diesen Marsch 1808 in F-Dur als »Marsch für die böhmische Landwehr« komponiert und dem Erzherzog Joseph von Österreich gewidmet. Der Marsch wurde 1813 ein Marsch für die Befreiungskriege der deutschen Staaten gegen Napoleon. Beethoven, der sich zunächst für Napoleon engagiert hatte, weil er auf die Beseitigung der aristokratischen Tyrannei in Europa und die Entstehung demokratischer Verhältnisse hoffte, widmete ihm zunächst seine »Eroica«-Symphonie, als Titel war »Bonaparte« vorgesehen. Nachdem Napoleon sich am 2. Dezember 1804 zum Kaiser krönen ließ, war der Komponist enttäuscht und verärgert. Er änderte den Titel der Symphonie und unterstützte mit seinem York-Marsch die Truppen der deutschen Staaten gegen Napoleon, die sich im Gleichschritt miteinander verbinden sollten. Die Bundeswehr führt heute keine Befreiungskriege in Afghanistan, sondern sie tritt im Bündnis mit der NATO das Völkerrecht mit Füßen. Doch das Gefühl, das der York-Marsch in völkerrechtswidrigen Kriegen vermitteln soll, ist das des Gleichschritts für eine Befreiung, die keine ist. Beethovens Gefühl wird auf den Kopf gestellt. Es wird zum Mittel zum Zweck der Manipulation von Menschen, die glauben sollen, wer Beethoven spielt, der kann nicht lügen. Mit der Beethoven-Oper »Fidelio« kann dieser Zweck nicht so recht gelingen. Deshalb wurde sie von den deutschen Faschisten als »undeutsch« verboten, spiegelt sie doch das Gefühl unterdrückter Menschen nach der Befreiung von Diktatoren und deren Erniedrigungen wider. Beethovens Musik verstehen daher alle Menschen dieser Erde, die sich und das Leben in den Gesellschaften dieser Erde kultivieren wollen. Wer das zu verhindern sucht, der verbietet und sanktioniert sie. In der chinesischen »Kulturrevolution« von 1966 war Beethoven verboten, er galt als bourgeois. »So steht Musik insgesamt an den Grenzen der Menschheit, aber an jenen, wo die Menschheit, mit neuer Sprache und der Ruf-Aura um getroffene Intensität, (in einer) erlangte(n) Wir-Welt, sich erst bildet. Und gerade die Ordnung im musikalischen Ausdruck meint ein Haus, ja einen Kristall, aber aus künftiger Freiheit, einen Stern, aber als neue Erde.«⁹ Beethoven schuf solche Kristalle für eine künftige Freiheit der Menschen.

Als 1949 der Bürgerkrieg in China zu Ende ging, wurde im Radio eine Aufführung der 9. Symphonie übertragen. Auf dem Tian’anmen-Platz wurde Beethoven 1989 bei den Studentenprotesten ein wichtiger emotionaler Begleiter. Premierminister Li Peng forderte die Demonstranten über Lautsprecher zur Aufgabe des Protests auf. Die Studenten aber installierten mit Autobatterien eine provisorische Audioanlage. Als dann am 19. Mai das Kriegsrecht verhängt wurde und zahlreiche Studenten in den Hungerstreik traten, erklang aus den Lautsprechern die »Ode an die Freude«. »Für uns war die Neunte ein Symbol für Solidarität und Brüderlichkeit. Als wir mit dieser Musik und unseren Stimmen die Parolen der Regierung übertönten, gab sie mir ein Gefühl des Sieges«, erinnerte sich der Student Feng später. »Die Zeile ›Alle Menschen werden Brüder‹ hat uns Hoffnung gegeben. Sie hat uns verändert und uns daran erinnert, dass wir um unsere Würde als Menschen kämpfen müssen.«

So wie es die großen Gefühle gibt, die das »Evokationsmedium« Musik mit Komponisten der Klassik und großem Orchester in tätige Verbindung mit anderen gleich fühlenden Menschen auf der ganzen Welt herstellen kann, so gibt es auch die partikularen Gefühle, die musikalisch werden können und sich zu diesem Zweck mit Sprache verbinden. Sehnsucht nach »Glücksgefühlen«¹⁰ wird in diesen Songs widergespiegelt und erlangt nicht selten Anerkennung auf der ganzen Welt, weil jeder Mensch auf sein Glück durch einen anderen Menschen hofft. Ein Wunsch, der immer seltener erfüllt wird, aber ein Trostpflaster in einer Welt ist, die in Kriegen und Rassenhass zu entmenschlichen droht. Es sind dennoch wichtige Trostpflaster, die durchaus heilen können, indem sie das partikulare Sehnsuchtsgefühl nach Glück in einem Schritt hin zum sinnvollen Leben öffnen können.

Anmerkungen

1 MEW 23, 425

2 Mittelbayerische Zeitung v. 26.6.2016

3 Deutschlandfunk, 19.6.2016

4 Georg Lukács: Ästhetik. Bd. 2. Neuwied 1963, S. 368

5 Text der Band »Blitzkrieg«: »Wir sind ohne Zukunft. / Unsere ­Zukunft ist verbaut. / Wir sind ohne Zukunft / Unsere Träume sind versaut.«

6 Preise im Jahr 2024

7 Lukács, a. a. O., S. 360

8 Maria Márkus / Andras Hegdüs: Gemeinschaft und Individuum. In: Individuum und Praxis. Frankfurt 1975, S. 94

9 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 3. Frankfurt 1969, S. 1297

10 »Atemlos durch die Nacht / Spür, was Liebe mit uns macht. / Atemlos, schwindelfrei / Großes Kino für uns zwei. / Wir sind heute ewig / Tausend Glücksgefühle / Alles was ich bin / Teil‹ ich mit Dir.« (Helene Fischer)

Jürgen Meier schrieb an dieser Stelle zuletzt 24. März 2017 über den AfD-Ideologen Marc Jongen. Letzte Buchveröffentlichungen: »Wöbkenbrot und Pinselstrich« (2022), »Vom Kopf auf die Füße. Verändern – Weltbezogen –Selbst sein« (2023)

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (24. Januar 2025 um 10:03 Uhr)
    »Auf dem Tian’anmen-Platz wurde Beethoven 1989 bei den Studentenprotesten ein wichtiger emotionaler Begleiter.« Der Autor des Artikels lässt einen chinesischen Studenten positiv darüber berichten. Die 9. Sinfonie war auch anlässlich des Sturzes der DDR-Regierung und des Falls der Berliner Mauer ein wichtiger emotionaler Begleiter. Unter dem Dirigat Bernsteins wurde der Text »Freude schöner Götterfunken« in »Freiheit, schöner Götterfunken« umgewandelt. Kleiner Unterschied: In Berlin hat die Sache geklappt, in Beijing nicht. Aber in Tbilissi werden für das gleiche Stück sicher schon die Instrumente gestimmt bei 4000 (!) NGO in diesem kleinen Land. Klassiker wie Haydn oder Beethoven wurden stets missbraucht, nur die Formen wechseln – je nachdem, wie die Menschen manipuliert werden sollen. Unter Hitler wurde die erste Strophe des Deutschlandliedes als Hymne selbstverständlich laut und mit Text vorgetragen. Die erste Strophe sollte später in der BRD dann nicht mehr gesungen werden. Aber ganz verabschieden von dieser Tradition wollte man sich auch nicht. Man wird ja wohl noch träumen dürfen, besonders dann, wenn man die Hymne in der Streichquartettversion Haydns ganz leise spielt. Als ich noch in Deutschland wohnte, wusste ich, was mich im Radio Punkt Null Uhr erwartet: Das Deutschlandlied, so gefühlvoll, edel und zurückhaltend vorgetragen, wie Deutschland nun einmal erscheinen möchte. Man sah förmlich die eingeklappten Flügel des Bundesadlers vor sich, der friedlich auf seinem Ast sitzend nach dem maximal weit ausgreifenden Reichsadler der Nazis als Staatssymbol einst eine neue Zeit symbolisieren sollte. Aber das genügte um Mitternacht noch nicht an Friedenssymbolik. Anschließend musste die 9. Sinfonie von Beethoven ran, von der späteren Friedensnobelpreisträgerin EU als Hymne verwendet, natürlich nur, solange Beethoven die leisen Töne der Streicher verwendet. Der Bundesbürger soll schließlich nicht aufwachen, sondern einschlafen – nicht nur um Mitternacht.

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