Klasse und Masse
Von Ralf Wurzbacher
Und täglich trudelt ein Brandbrief ins Haus. Diesmal von Eltern, deren Kinder die Grundschule in Leißling, Sachsen-Anhalt, besuchen. Ein ans Landesschulamt adressierter Mängelkatalog ist lang: dauerhaft hoher Krankenstand, Unterrichtsausfall, fehlende fachliche Bezugspersonen. Auf dem Stundenplan der Drittklässler stünde »nichts als Mathe und Deutsch«, berichtete am Dienstag die Mitteldeutsche Zeitung. Neun Kilometer entfernt, an der Freien Evangelischen Schule am Stadtrand von Weißenfels, wäre der Nachwuchs bestimmt besser aufgehoben. Dort wird noch verlässlich gelehrt, dazu »dynamisch, kompetent, werteorientiert«. Aber eben auch kostenpflichtig. Bei einem Regelsatz von monatlich 120 Euro, fürs Geschwisterchen 78 Euro, haben Geringverdiener schlechte Karten. So wie künftig vielleicht auch der Sprössling.
Nach den neuesten Daten des Statistischen Bundesamts ist der Boom von Privatschulen ungebrochen. Wie die Wiesbadener Behörde am Dienstag mitteilte, gab es davon im Schuljahr 2023/24 bundesweit rund 3.800 an der Zahl, was zwölf Prozent aller allgemeinbildenden Schulen entspricht. Zum Vergleich: 2013/14 existierten gut 3.500 Schulen in kirchlicher, reformpädagogischer oder unternehmerischer Trägerschaft. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich der Anteil der dort unterrichteten Kinder praktisch verdoppelt. Heute kommen etwa neun Prozent aller Schüler an Einrichtungen der Sorte Waldorf, Montessori oder Volkswagen unter. Ihr Erfolgsgarant ist ein öffentliches Schulwesen im Niedergang. Mit Lehrermangel, bröckelnden Wänden und stinkenden Klos liefert es die besten Argumente dafür, den Privaten den Vorzug zu geben.
Die Misere ist kein Betriebsunfall, sondern Ergebnis forcierter Entstaatlichung im Zeichen von Spardiktaten, »schwarzer Null« und Schuldenbremse. Dabei sind die wenigsten Privatschulträger gierige Profiteure: Die meisten füllen mit den besten Absichten die Lücken, die der Staat hinterlässt. Zudem sei ihr Aufstieg »Ausdruck der größer werdenden sozialen Spaltung der Gesellschaft«, meint Anja Benzinger-Stolze, die im Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) den Bereich Schule betreut. »Es gibt immer mehr Familien, die sich den Zugang zur Privatschule leisten können und gleichzeitig ein starkes Interesse daran haben, ihre Kinder in der gleichen sozialen Schicht aufwachsen zu lassen«, befand sie am Mittwoch gegenüber jW. Ihre Forderung: »Deutschland muss mehr Geld in die Schulen investieren, um diese zukunftsfähig zu machen.«
Eigentlich unterliegen sogenannte Ersatzschulen dem vom Grundgesetz abgeleiteten »Sonderungsverbot«. Bei der Auswahl ihrer Kundschaft darf der soziale Status keine Rolle spielen. Die Realität sieht anders aus, wie etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wiederholt nachgewiesen hat. Finanziell benachteiligte und Migrantenkinder finden demnach nur selten den Weg zu den Privaten. Kein Wunder! Nach den Befunden der Wiesbadener Statistiker schlug ein Privatschulplatz zuletzt mit im Schnitt 2.032 Euro jährlich zu Buche. In einem Viertel der Fälle lag die Spanne zwischen 2.000 und 5.000 Euro, sieben Prozent der Eltern zahlen sogar noch mehr. »Bildung darf kein Luxusgut für Wohlhabende sein«, erklärte Ali Al-Dailami von der BSW-Gruppe am Mittwoch im Bundestag. »Mit ihren teils horrenden Kosten vergrößern Privatschulen die Kluft zwischen Arm und Reich noch zusätzlich«, sagte er jW.
Laut Statistik ist das Verhältnis von Schülern auf staatlichen und privaten Schulen trotz deren Zuwachs seit zehn Jahren ziemlich konstant. Die Bundesbehörde begründet das damit, dass letztere »durchschnittlich kleiner« seien und die Schließungen von öffentlichen Schulen durch Vergrößerungen derselben ausgeglichen wurden. Auch das ist ein Beleg dafür, wie sich das System immer stärker in Klasse und Masse aufspaltet. »Privatschulen begünstigen durch ihre Geldbeutelauslese ein Zwei-Klassen-Bildungssystem, weil der Staat seine Hausaufgaben nicht macht«, äußerte sich am Mittwoch Nicole Gohlke von der Gruppe Die Linke im Bundestag im jW-Gespräch. »Die öffentliche Hand muss endlich ihrer Verantwortung nachkommen, staatliche Schulen mit mehr Investitionen zu stärken und für gute Rahmenbedingungen an den Schulen zu sorgen.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Burkhard I. (22. Januar 2025 um 21:27 Uhr)Die Bebilderung ist ziemlich daneben – ich kenne viele öffentliche Schulen aller Stufen, die froh wären, über solche nur mäßig heruntergewohnt wirkenden Klos zu verfügen! Burkhard I.
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