Radikal und staatstragend
Von Gerhard Hanloser
Am 27. Januar 2020 wurde die erste deutsche Coronainfektion bekannt. Die Bundesregierung antwortete mit einer Pandemiepolitik, die heute nach dem Willen prominenter Politiker von Die Linke wie Gregor Gysi, des gesamten BSW, aber auch der AfD und der FDP auf ihre Rechtmäßigkeit hin geprüft und untersucht werden soll. Die Linke als gesellschaftliches Milieu hatte enorme Schwierigkeiten, eine einheitliche Antwort auf die Gesundheits- und Gesellschaftskrise zu finden. Die Linke als staats- wie gesellschaftskritisches Milieu war in der Zeit der Pandemie weitgehend verschwunden, eine linke Position allenthalben unhörbar. Wenn linkes Agieren bei der Mehrheitsbevölkerung überhaupt ankam und bemerkt wurde, so in Form von bizarren Gegenaufmärschen eines zuweilen unpassenden und herrschaftlich angepassten Antifaschismus. Die Mehrheit des links-liberalen bis linksradikalen Milieus hatte sich nämlich weitgehend auf eine politisch verheerende Skandalisierung der »Querdenker«-Szene beschränkt.
Ambivalente Proteste
Maßnahmenkritiker und selbsterklärte »Coronarebellen« machten etwa in Berlin vor der Volksbühne mobil gegen einen undemokratischen Ausnahmestaat und warnten früh vor überzogenen Maßnahmen. Dieser Protest hatte dabei anfänglich durchaus Züge eines radikaldemokratischen Bürgerbewusstseins. Protestsymbol war das Grundgesetz. Die Demonstranten kritisierten eine regierungsamtliche Angstpolitik, die auch von den hegemonialen Medien bedient wurde. Tatsächlich stellte sich heraus, dass in einem Strategiepapier der deutschen Bundesregierung von März 2020 stand, man müsse eine »gewünschte Schockwirkung« erzielen, um »die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft« zu verdeutlichen – besonders Kinder und Jugendliche sollten Adressaten dieser Angstkampagne sein. Die Kritiker auf der Straße wandten sich gegen eine mögliche Zwangsimpfung, gegen Ausgangssperren und pauschale Lockdowns. Selbständige, Kulturschaffende, Lohnabhängige mit Kindern würden finanziell, sozial und psychisch stark belastet. Auch wenn sich viele dieser Kritikpunkte als richtig erwiesen, hatten diese Protestierer nirgends einen guten Leumund, nicht in den hegemonialen Medien, aber ebensowenig in der parlamentarischen Linken und am wenigsten in Antifanetzwerken, außerinstitutionellen wie staatlich geförderten.
Das lag zum Teil an der Sache selbst. Wer sowohl Lockdowns als auch Impfkampagnen ablehnte, votierte nolens volens für ein rücksichtsloses Laufenlassen der Viruserkrankung. Ins Irrationale gesteigerte Behauptungen waren auf den Kundgebungen und Demonstrationen durchaus zu hören, so die Ablehnung der Maskenpflicht oder esoterische Anklagen der Schulmedizin, was sich in Parolen wie »Sich selbst Heilung schenken!« ausdrückte. Einige lautstarke Demonstranten aus diesem »Querdenker«-Milieu sahen sich in einer Coronadiktatur, die personalisierend dem Virologen der Charité Christian Drosten und der damaligen Kanzlerin Angela Merkel zugeschrieben wurde.
Hier schien projektives Ausagieren von Ängsten zu wirken. Man wolle keine »DDR 2.0«, war ebenso eine gelegentlich zu vernehmende Bekundung auf den Demonstrationen. Die Proteste erhielten so einen starken antisozialistischen Furor und boten das Bild einer aggressiven bürgerlichen Bewegung, vergleichbar der Trump- oder Tea-Party-Bewegung, die Obamas Gesundheitsreform als »sozialistisch« brandmarkte. Oder der Schweizer Autofahrerpartei, die freie Fahrt für freie Bürger propagiert. Mit diesen Aussagen und Positionen gaben die Demonstrationen sich das Antlitz eines »libertären Autoritarismus«. Passend wurde der erklärte Impfgegner Robert F. Kennedy Jr., mittlerweile Gesundheitsminister im gerade gebildeten Trump-Kabinett, im August 2020 auf einer »Querdenker«-Demonstration in Berlin als Redner geladen und bejubelt. Es gab kaum unterbundene Versuche von Reichsbürgern, Nazis und vor allem der AfD, die Proteste zu unterwandern und ihnen eine geeignete Richtung zu geben. An vielen Orten Deutschlands tauchten auf den Demonstrationen rechte Parolen auf wie »Heimatschutz statt Mundschutz«. Dennoch folgten diese Unterwanderungsversuche von rechts eher einer »metapolitischen« Bestimmung und nicht der eigenen rechtsradikalen Programmatik und Ideologie. Stimmenzuwächse für die AfD wegen ihres instrumentell positiven Bezugs auf die »Querdenken«-Bewegung waren nicht zu verzeichnen.¹
Die in den offiziellen Medien vorgenommene Diskursverengung und moralisierende Abwertung abweichender Meinungen führten dazu, dass sich ein generelles Zweifeln in hermetischen Filterblasen zu einem »subversiven Gegenwissen« (Oliver Nachtwey) verdichtete. Dieses nahm zuweilen verschroben-irrationale Züge an, bot aber auch im linken Spektrum der Lockdownkritiker Resistenzräume gegen einen vor allem medial sich formierenden Mainstreamdiskurs. »Metapolitische« Überlegungen von links in bezug auf diese Proteste und Straßenkundgebungen blieben weitgehend aus.
Wirklich sozialistische Positionen, die anhand der Gesundheitskrise die neoliberalen Folgen der Politik aufzeigten und für eine Vergesellschaftung votierten, fanden keinen Resonanzraum. Dabei legte doch die Coronakrise gesellschaftliche Grundprobleme schlagartig frei und hätte damit die Frage nach einem grundlegend anderen Modell des Zusammenlebens der Menschen miteinander sowie mit ihrer biologischen Umwelt öffentlich stellbar gemacht, worauf der Arbeitssoziologe Wolfgang Hien hinwies, der wie viele radikale Linke für eine »ökosozialistische Alternative« plädierte.² Allerdings waren diese Bekundungen oft zu abstrakt und boten keine konkrete Praxis an.
Autoritäre Versuchung
Die Gewerkschaften konnten sich in Lohnverhandlungen auf die Pandemie beziehen, um die systemische Bedeutung von Pflegekräften hervorzuheben. Initiativen wie die Berliner Krankenhausbewegung forderten konkrete Personaluntergrenzen, um die Belastung zu verringern. Die Tarifrunde 2021 im öffentlichen Dienst in Deutschland führte zu einer Gehaltserhöhung von bis zu 2,8 Prozent für Beschäftigte der Länder, Pflegekräfte eingeschlossen. Zusätzlich wurden spezifische Verbesserungen für Pflegepersonal vereinbart, darunter eine Pflegezulage. Doch die Forderungen nach struktureller Entlastung und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen blieben ungehört. Noch heute verweist beispielsweise der Berliner Senat in euphemistischen Worten darauf, dass »Maßnahmen zur Erhöhung der Resilienz einzelner Krankenhäuser« in der Verantwortung der jeweiligen Krankenhäuser lägen, obwohl bekannt ist, dass diese an chronischer Unterfinanzierung leiden.
Die Medien holten während der Pandemie schlagartig und nur symbolisch das nach, was jahrzehntelang unter der Oberfläche der neoliberalen Wahrnehmung geblieben war. Plötzlich rückte man gesellschaftlich relevante und oft prekäre Arbeitsverhältnisse ins Zentrum der Betrachtung. Eine Vielzahl von kleinen Arbeitskämpfen in bislang nicht gewerkschaftlich organisierten Bereichen, von den Dienstboten mit Fahrrad bis zu den Spargelstecherinnen, trat während der Pandemie auf; so organisierten sich beispielsweise im Mai 2020 rumänische Wanderarbeiter in der basissyndikalistischen Gewerkschaft FAU Bonn.
Ein großer Teil des linken Milieus verhielt sich in seinem Alltagsgebahren während der Pandemie allerdings wie ein Milieu kontrollierender Wohlanständiger. Hektisches Desinfizieren aller Orte inklusive bedrohlicher und übergriffiger Parolen wie »Wir impfen euch alle« oder identitätspolitischer Sprüche wie »Maske auf, Nazis raus« bestimmten das Bild. Dieser konformistische Autoritarismus hatte tiefere Wurzeln als bloß das Vertrauen in Presse, Regierung und »die Wissenschaft«: Jene Linken trauten dem eigenen Optimismus in Hinsicht auf die Fähigkeit zur Selbstregulierung der Gesellschaft in Krisenzeiten nicht mehr. Dieses Vertrauen in die Gesellschaft brachte der schwedische Staat zuweilen deutlicher auf als einige Linke, von ehemaligen Trotzkisten bis zu Queer-Theory-Vertreterinnen, die mit »Zero Covid« dem Staat schier grenzenlose Lockdownmaßnahmen überantworten wollten. Die »Zero Covid«-Kampagne, die im Gegensatz zu der »No Covid«-Position einiger wissenschaftlicher Stimmen dezidiert links und kapitalismuskritisch war, optierte für einen europaweiten Shutdown von Fabriken, Büros, Betrieben, Baustellen und Schulen, bis es keine Infektionen mehr gebe. Der »Zero Covid«-Sympathisant Wolfgang Hien wies auf die Berechtigung der Kampagne hin, weil sie laut ihm den eklatanten Widerspruch aufzeigte, dass im sogenannten privaten Bereich strenge Distanzregeln galten, die an vielen Arbeitsplätzen faktisch und oft entgegen bestehender Regeln außer Acht gelassen worden waren.³ Seines Erachtens entwickelten sich während der Coronakrise in den Belegschaften selbst sehr unterschiedliche Diskussionen. Es gab Kolleginnen und Kollegen, die die Coronagefährdung nicht ernst nahmen, es gab welche, die um ihren Arbeitsplatz fürchteten und sich bereits in der Arbeitslosigkeit sahen, und es gab diejenigen, die eine mehr oder weniger große Angst um ihre Gesundheit entwickelten. Hiens Perspektive lautete demnach: »Wir können uns vor Gefährdungen, Zurichtungen und Drangsalierungen nur schützen, wenn wir zunächst einmal unsere grundsätzliche Verletzlichkeit anerkennen. Dann können sich unsere Angst und unsere Wut zu einer kollektiven Kraft verwandeln; dann braucht sich die Wut kein Ersatzobjekt zu suchen. Es geht um eine Bewegung, die sich der Würde der leibseelischen Existenz, der Menschen als Gemeinschaftswesen und als Teil der Natur erinnert.«⁴
»Zero Covid« verschrieb sich dem von Hien und anderen linken Wissenschaftlern angemahnten Schutz am Arbeitsplatz, reflektierte allerdings zu wenig die Ängste vor kommender Arbeitslosigkeit unter Proletarisierten, besonders eines proletarisierten Kleinbürgertums, und die berechtigte Abwehr gängelnder und drangsalierender Maßnahmen. Als neben der Antifapolitik lauteste linke Stimme während der Pandemie blieb die »Zero Covid«-Kampagne so auch nicht unangefochten. Linke Ärzte und feministische Lockdownkritikerinnen, die die schwierige Situation von Frauen und Kindern im geschlossenen häuslichen Rahmen vor Augen hatten, kritisierten die Ausrichtung der Kampagne fundamental und befragten sie auf ihre etwaigen autoritären Durchsetzungsformen. Denn die Rede von Nullinfektionen, von der völligen Ausrottung des Virus sowie der angepeilten Politik, das soziale und gesellschaftliche Leben so lange stillzulegen, bis die Infektionsrate absolut null beträgt, hatte etwas Irrationales und spiegelte tatsächlich den zynischen »Laufen-Lassen-Liberalismus« einiger Lockdownkritiker negativ. Grenzschließung, Überwachung, Verbannung, Hyperhygienisierung der Gesellschaft – anders wären die ursprünglichen Ziele von »Zero Covid« nicht durchsetzbar gewesen.
Fürsprecher von »Zero Covid« konnten sich freilich auf einige Passagen von Marx und Engels zur Gesundheitspolitik beziehen. Schließlich wird der Staat im marxistischen Sozialismusverständnis durchaus als zentraler, zuweilen diktatorisch handelnder Akteur – einer Klasse – angesehen und begriffen, der die Transformation des Kapitalismus im Sinne dieser bislang unterdrückten Klasse bewerkstelligen soll. Auch hat Marx den Staat als eine Schutzinstanz der Proletarier dargestellt. Für eine gesetzliche Unterbindung schwerer gesundheitlicher Gefährdung der arbeitenden Klasse plädierte er in seiner Zentralschrift »Das Kapital«, wenn er über den notwendigen Kampf für Höchstarbeitszeitgesetze, den Gesundheitsschutz und für eine höhere Lebenserwartung für die Proletarier schrieb: »Zum ›Schutz‹ gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.« (MEW 23, 320). Denn schließlich ist »das Kapital rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird« (MEW 23, 265). Der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth, der recht zeitnah ein Standardwerk zur Pandemiepolitik vorlegte, kritisierte allerdings die »Zero Covid«-Kampagne gerade vor dem Hintergrund der Untersuchung des Arbeiterverhaltens und der gesellschaftlichen Lage der Proletarisierten. Die Kampagne sei an der Lebens- und Arbeitsrealität der Arbeiter schlicht vorbeigegangen: »Wahrscheinlich waren sie realistisch genug, um den verstärkten Schutz vor einem Erkrankungsrisiko gegen die mittelfristigen Folgen der anschließend zu erwartenden Massenerwerbslosigkeit abzuwägen. Zudem blieb ihnen nicht verborgen, dass die Gefahr nicht so sehr in den Betrieben, sondern weitaus stärker in den Krankenhäusern, Pflegeheimen und Massenunterkünften lauerte.«⁵
Pandemie des Neoliberalismus
Karl Heinz Roth kritisierte generell an der staatlichen Politik, dass den politisch verantwortlichen Betreibern der Pandemiepolitik mit ihren Lockdowns die Bodenhaftung verlorengegangen sei. Am Beispiel des nationalen Pandemieplans der BRD könne gezeigt werden, dass philanthropische Unternehmer und Manager der Pharmaindustrie sich in die Planspiele mit einbrachten, mit dem Ergebnis, dass wirkungslose Medikamente bevorratet, notwendige Vorsorgemaßnahmen für die allgemeine Infektionshygiene aber ausgeklammert wurden. Statt der harschen Lockdownpolitik wären Infektionsprophylaxe und ein Basisgesundheitsnetz dringend geboten gewesen, das freilich neoliberal ausgehöhlt und zerstört war: »Die als ›Lockdown‹ bezeichneten Maßnahmebündel zum behördlichen Einfrieren des privaten, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens wären wahrscheinlich unnötig gewesen, wenn die spontanen Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung unterstützt worden wären, die epidemiologischen Frühwarnsysteme funktioniert hätten und die besonders gefährdeten Gesellschaftsgruppen rechtzeitig vor dem verheerenden Zugriff von SARS-CoV-2 geschützt worden wären.«⁶ Die meisten Toten gab es in finanziell prekär aufgestellten Pflegeeinrichtungen unter Seniorinnen und Senioren, die schlicht dem für sie gefährlichen Virus ausgesetzt waren. Die Lockdownpolitik erscheint, so Roth, wie eine folgenreiche Panikreaktion und hat die Menschen in Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Isolation getrieben und damit die gesundheitliche Gefährdungslage zusätzlich verschärft. Die Politik handele wie ein Getriebener, der die Flucht nach vorne ohne Plan antritt. Zur Seite standen hierzulande der Regierung schlagartig zu Medienintellektuellen avancierte Virologen. Hierarchisch-lineare Rechenmodelle unterfütterten legitimatorisch die Maßnahmen der Autoritäten, waren aber nicht in der Lage, das komplexe Pandemiegeschehen abzubilden. Autoritäre und in sich widersprüchliche Verordnungen wie Ausgangssperren kaschierten so nur das durch neoliberale Deregulierung und Schlampigkeit ruinös oder zumindest defizitär aufgestellte Gesundheitssystem. Global stellten die Unterklassen mit ihrem ohnehin schon angegriffenen Immunsystem die vulnerabelste und stark betroffene Gruppe dar, die oft auch aus der gesundheitlichen Basisversorgung herausfällt. Roth spricht von der Coronapandemie als »Die große Angst des Jahres 2020«. Ängste, Gerüchte, Vorurteile schossen ins Kraut und erinnerten teilweise an die »Grande Peur« am Vorabend des Revolutionsjahres 1789 – nur dass wenig nach einer Revolution aussah. Aufgrund des Fehlens einer wahrnehmbaren proletarisch-kritischen Öffentlichkeit und einer wenig einladenden elitären Konfrontationspolitik von Antifagruppen, die alles und jeden unter Verschwörungstheorie- oder »Schwurbelei«-Verdacht stellten, unterblieb auch eine linke Korrektur der tendenziell herrschaftskritischen Meinungen.
Selbst pragmatische Fragen, die der linksliberale Wirtschaftshistoriker Adam Tooze aufwarf, wurden in der großen Politik nicht aufgegriffen. Die Möglichkeit eines globalen Wirtschaftsreformismus stellte sich zwar objektiv, schließlich hatte die Politik in Form von Zentralbanken und der Verfügung über öffentliche Haushalte die Fähigkeit bewiesen, rasche und umfangreiche finanz- und fiskalpolitische Stimulierungsmaßnahmen jenseits des neoliberalen Austeritätsdogmas durchzuführen. Zentralbanken weltweit stellten enorme Liquidität bereit, um die Finanzmärkte zu stabilisieren.⁷ Doch wie bereits nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wurde die Krise im Sinne der Interessen der großen Einzelkapitale gelöst. Bereits 2019 warnten die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Vermögensverwalter Blackrock in Veröffentlichungen vor einem Crash, der die Krise von 2008 noch überflügeln könnte. »Beispiellose Maßnahmen« und eine »unkonventionelle Geldpolitik« wurden eingefordert. Tatsächlich pumpten dann anlässlich von Corona die Zentralbanken riesige Summen Geld in den Finanzsektor. Vor diesem Hintergrund kommt Fabio Vighi, Professor für Kritische Theorie und Italienisch an der Universität Cardiff in Großbritannien, auch zu der gewagten Einschätzung, dass die Lockdowns nicht etwa Menschenleben gerettet haben, sondern die kapitalistische Wirtschaft: »Wenn man so viel Geld per Mausklick aus dem Nichts in die Finanzökonomie pumpt, entsteht die Gefahr einer Hyperinflation in der Realökonomie mit unabschätzbaren Folgen. Diese Gefahr kann man drosseln, wenn man die Realökonomie drosselt. Je weniger produziert und konsumiert wird, desto weniger Geld ist im Umlauf und desto geringer die Inflation.« Er meinte, in dieser Hinsicht wäre Covid mehr als gelegen gekommen, denn die Folgen der Geldschwemme wären so besser kontrollierbar gewesen.⁸
Unbestritten ist, dass die Pandemie global betrachtet die klaffende Kluft zwischen armen und reichen Ländern offenbarte. Die Länder des globalen Nordens beanspruchten unverhältnismäßig viele Impfstoffe und Ressourcen für sich, während ärmere Länder unterversorgt blieben. Ein regelrechter Impfstoffnationalismus griff angesichts einer globalen Krise um sich. Schließlich wirkten die Lockdowns auch als Beschleuniger von Innovationsprozessen: das Vorantreiben der automatisierten industriellen Produktion, der Digitalisierungsschub der Wirtschaft, neue Anwendungsformen der künstlichen Intelligenz. Verschärfte Tendenzen zur totalen Überwachung, die in China und Singapur bereits weit fortgeschritten sind, griffen auch im vermeintlich liberalen Westen um sich.
Falscher Gegner
Provinziell und einäugig war folglich jene Praxis von links, die sich hauptsächlich an den »Querdenkern« als faschistoider Gefahr abarbeitete. Schließlich standen auch zur Zeit der Inflation in der Weimarer Republik die spirituell-rationalitätskritischen »barfüßigen Propheten« für Verwirrung und trieben diese an; die wirkliche autoritäre Formierung übernahmen allerdings etablierte Eliten und maßgebliche Teile des Kapitals. Bei aller konzisen Kritik an ideologisierter Impfgegnerschaft und haltlosen Verschwörungsmythen – Politik per Rechtsverordnung, Grundrechtsdemontage, medial gestützte Formierung der öffentlichen Meinung, Zensurmaßnahmen und eine entkoppelte Exekutive sowie der Normalvollzug des »Notfallkapitalismus« (Fabio Vighi) haben ungleich größeren Schaden angerichtet. Die Skandale um Maskendeals und der durch die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vertuschte EU-Impfdeal mit dem Medizinmonopolisten Pfizer sind nur zwei Beispiele für das Funktionieren des mit Macht versehenen »biotechnisch-pharmazeutischen Komplexes«, von dem auch Karl Heinz Roth spricht. Die lebensgefährdenden Zustände sind institutioneller, ökonomischer und sozialer Art, sie liegen in größeren Zusammenhängen als in diffus zusammengewürfelten Spaziergängern mit Lockdown- und anderem Überdruss, die sich weigerten, eine Maske zu tragen. Einige Demonstranten, die bereits 2020 gegenüber einer autoritären Pandemiepolitik hellhörig waren, damals schon die hellblauen Fahnen mit der Friedenstaube auf Kundgebungen schwenkten und sich für die Freilassung Julian Assanges einsetzten, sind jetzt auch in Hinsicht auf die europäische und weltweite Kriegsgefahr äußerst wach.
Anmerkungen
1 Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.): Querdenken. Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr. Berlin 2021
2 Wolfgang Hien: Eine Revolte der Natur. Gesellschaftskritik in Zeiten einer Pandemie, Berlin 2023
3 Ebd., S.17
4 Ebd., S. 21
5 Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Coronakrise und die Folgen. München 2022, S. 252
6 Ebd., S. 292
7 Adam Tooze: Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen. München 2021
8 Fabio Vighi: »Der Staat ist Schutzengel des Finanzkapitals«. Interview über die Rettung der Wirtschaft durch Covid und die damit einhergehenden sozialen Verwüstungen. In: OXI. Wirtschaft anders denken (März 2023), S. 20
Gerhard Hanloser schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. Dezember 2024 über Jean-Paul Sartre und Andreas Baader. Buchveröffentlichung zur Pandemie: »Corona und linke Kritik(un)fähigkeit« (2021)
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Olaf M. aus München (25. Januar 2025 um 14:35 Uhr)Ich bedanke mich für diesen Artikel. Solch eine vernünftige Ausgewogenheit hätte ich mir in dieser Zeitung auch in den schlimmen Lockdownjahren gewünscht, aber da zeigte die jW mehr Verständnis für »Zero Covid« und kritisierte die mehrheitlich bürgerlichen Proteste gegen die rechtsstaatlich äußerst problematische Maßnahmenpolitik wegen Rechtslastigkeit. Dabei hätte der antikapitalistische Impuls dieser Protestbewegung gerade von linken Kräften unterstützt werden müssen. In der Tat ist eine Aufarbeitung dieser Zeit dringend erforderlich, gerade auch in der linken Szene. Wie konnte es so weit kommen, dass sich als »Antifa« bezeichnende Gruppen als Stoßtrupps des Staats instrumentalisieren ließen? Wie konnte die Linke in großen Teilen dermaßen kritiklos der staatlichen Panikmache folgen? Die These, dass die globale Corona-Pandemie zur Rettung des Kapitalismus ausgerufen wurde, hat Hanloser dankenswerterweise angesprochen. Die im Zuge der Krise erfolgte massive Umschichtung von Vermögen und Kapital in Richtung global agierendem Großkapital sollte uns Linken wirklich zu denken geben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (28. Januar 2025 um 09:33 Uhr)»Dabei hätte der antikapitalistische Impuls dieser Protestbewegung gerade von linken Kräften unterstützt werden müssen.« Es gehört schon sehr viel Phantasie dazu, bei diesen Querdenkern, die ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Familienangehörigen opfern, nur um ihre jämmerliche kleinbürgerliche, mittelständische Existenz zu retten, einen antikapitalistischen Impuls zu entdecken. Das sind in der Regel Möchtegern-Großkapitalisten, denen der Kontostand Vorrang vor dem Leben eines Menschen hat.
-
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (24. Januar 2025 um 20:26 Uhr)Man kann die Vergangenheit nicht mehr verändern. Aber man kann sich so in ihr verheddern (lassen), dass man nicht mehr dazu kommt, über die Gegenwart und die Zukunft nachzudenken. Den Herrschenden gefällt das. Genau deshalb haben sie das Stöckchen hingehalten, über das nun auch die jW wieder mal springt. Obwohl es viel Wichtigeres in unserer Welt gibt. Lernt daraus: Fehlgriffe gab es nicht nur in der Coronapolitik!
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (24. Januar 2025 um 08:50 Uhr)Bei allem Verständnis für die Schwierigkeit jeden Tag eine linke Zeitung herauszubringen. Aber muss man unbedingt bei der sogenannten Corona-Aufarbeitung mitmachen? Meldung vom 25. Oktober 2024 mdr: »Sächsischer Landtag. BSW stimmt mit AfD: U-Ausschuss zur Corona-Pandemie kommt«; Thüringer Allgemeine 27.10.2024: »Corona-Aufarbeitung: BSW- und AfD-Politiker bei Burschenschaftstreffen zu Corona«. In den NachDenkSeiten ist das Nachtarocken zu Corona ein Dauerthema. Beispiele: 20. September 2024: »Sehr gut: BSW beantragt U-Ausschuss zu Corona« 10. Oktober 2024: »Keine Corona-Aufarbeitung im Bundestag – Regierung stiehlt sich (erwartungsgemäß) davon«; 18. Oktober 2024: »Corona: ›…Als würde die Bundesregierung vertuschen wollen, wie viele Impfgeschädigte es tatsächlich gibt…‹«; 28. November 2024: »Corona: E-Mail zeigt, wie sich ›Ethikrat‹ an die Politik angebiedert hat«; 06. Dezember 2024: »US-Bericht geißelt die Corona-Politik«; 15. Januar 2025: »Wahlmotiv: Corona«; 20. Januar 2025: Fünf lange, zustimmende Leserbriefe zu »Wahlmotiv: Corona«.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (24. Januar 2025 um 23:44 Uhr)Eine Linke, die sich ernst nimmt, muss zu absolut jeder politischen und zeitgeschichtlichen Frage an einer Positionierung arbeiten. Auch unter Schmerzen, wenn nötig. Marx und Lenin haben jedenfalls selbstbewusst alle Herausforderungen dieser Art angenommen. Gerhard Hanloser geht dankenswerterweise auch oft dahin, wo es wehtut und liefert wieder einmal einen wertvollen Diskussionsbeitrag. Man muss nicht in jedem Punkt zustimmen, aber darum diskutieren wir ja – im Ringen um eine moderne, kohärente, marxistische Weltanschauung.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (24. Januar 2025 um 16:33 Uhr)Es ist halt die Frage, was man unter »Aufarbeitung« versteht. Man kann sich dem populistischen Mainstream anschließen oder eine saubere Analyse des Geschehens mit einer Bewertung durchführen, wie Materialisten das täten. Da müsste mit dem Anfang anfangen und zeigen, dass (und warum) keine Desinfektionsmittel und Schutzkleidung (nicht nur keine Masken!) für besonders gefährdete Berufsgruppen vorhanden waren, die Strategie der »Durchseuchung« durchleuchten, das asymmetrische, um nicht zu sagen rassistische Vorgehen bei der Durchsetzung der Abstands- und Maskenregeln, das bürokratisch-knickerige Verhalten gegenüber Künstlern/Kleinselbständigen bezüglich Unterstützungsleistungen, und und. Besonders wichtig wäre eine ausführliche Diskussion um ein Wissenschaftsverständnis und darum, wie man es »dem Volk« verständlich macht (machen kann). Die Eigenschaften des Virus waren unbekannt und änderten sich ständig. Wie gehe ich gesellschaftlich damit um (hier wäre das Vorsorgeprinzip an prominenter Stelle zu diskutieren)? Welche Vorgehensweisen wurden angewendet – auch international? Was ist daran zu kritisieren, was ist positiv zu bewerten? Dann müsste noch der Bogen von dieser unvollständigen Fragenliste zur heutigen Gesundheitspolitik geschlagen werden, denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie: Welche Auswirkungen hätte eine vergleichbare Pandemie unter den Bedingungen der Lauterbach»reformen«?
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (27. Januar 2025 um 11:37 Uhr)Jede Menge Fragezeichen in Ihrem Beitrag. Und das einige Jahre, nachdem Corona das Licht der Welt erblickt hat. Das erstaunt schon bei einem Leser, der teilweise mehrmals am Tag zu allen möglichen Themen seinen Kommentar abgibt. Eine »saubere Analyse des Geschehens mit einer Bewertung« kann man von den Leuten, die ich in meinem Beitrag hier angesprochen habe, nicht erwarten. Dieses Milieu verfolgt ja in Dauerschleife eine »politische Agenda«, wie Drosten in »Jung & Naiv« sagte. Wenn Sie fragen: »Welche Auswirkungen hätte eine vergleichbare Pandemie unter den Bedingungen der Lauterbach›reformen‹«? Diese Frage läuft auf die Antwort hinaus: Baut mehr Krankenhäuser, dann kann man Pandemien laufen lassen. Es geht doch darum, die Menschen vor Ansteckung und Krankheit zu schützen – was ja mit den Maßnahmen teilweise erreicht wurde – und nicht darum, die Bettenbelegung zu erhöhen.
-
-
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (23. Januar 2025 um 21:20 Uhr)So leid es mir tut, in der jW habe ich schon besseres zu Covid19 gelesen: www.jungewelt.de/artikel/385398.fakten-gegen-panikmache-kleines-corona-kompendium.html
Ähnliche:
- imago images/Reichwein14.08.2021
Warnung vor »falscher Sicherheit«
- Xiong Qi /imago images/Xinhua01.07.2021
Ammenmärchen des Westens
- imago images / tagesspiegel02.06.2021
»Außer Applaus ist bei uns nichts angekommen«